Autor: Voegelin, Eric Buch: Die neue Wissenschaft der Politik Titel: Die neue Wissenschaft der Politik Stichwort: Repräsentation und Existenz; politische Wissenschaft nicht als tabula rasa; Sprachsymbole: der sozialen Wirklichkeiten - d. politischen W.; Beispiel: "Reich der Freiheit" - immanentisierte Hypostase; doxa, Ideologie
Kurzinhalt: Als Aristoteles seine Ethik und seine Politik schrieb ... erfand er weder diese Termini noch verlieh er ihnen willkürliche Bedeutungen; vielmehr nahm er die Symbole, die er in seiner sozialen Umwelt vorfand, prüfte sorgfältig die Bedeutungen, die ... Textausschnitt: 1. Repräsentation und Existenz
1. Das aristotelische Verfahren kritischer Klärung
49a Die politische Wissenschaft leidet unter einer Problematik, die in ihrer Natur als Wissenschaft vom Menschen in historischer Existenz begründet ist: der Mensch wartet für die Auslegung seines Lebens nicht auf die Wissenschaft, und wenn der Theoretiker sich mit der sozialen Realität befassen will, findet er das Feld bereits von etwas beschlagnahmt, was man als die Selbstinterpretation der Gesellschaft bezeichnen kann. Denn die menschliche Gesellschaft ist mehr als eine Tatsache oder ein Ereignis in der Außenwelt, das ein Beobachter wie ein Naturphänomen untersuchen könnte. Zwar ist ihr Außenweltcharakter eine der Komponenten ihres Seins, aber im ganzen ist sie eine kleine Welt, ein Kosmion, von innen her mit Sinn erfüllt durch die menschlichen Wesen, die sie in Kontinuität schaffen und erhalten als Modus und Bedingung ihrer Selbstverwirklichung. Das Kosmion wird erhellt durch eine hochentwickelte Symbolik, in verschiedenen Graden von Kompaktheit und Differenzierung - vom Ritus über den Mythos zur Theorie -; und die Symbole lassen seinen Sinn aufleuchten, indem sie seine innere Struktur, die Relationen zwischen seinen Gliedern und Gruppen von Gliedern sowie auch seine Existenz als Ganzes für das Mysterium der menschlichen Existenz transparent machen. Die Selbsterhellung der Gesellschaft durch Symbole ist ein integraler Bestandteil der sozialen Realität, man kann sogar sagen ihr wesentlicher Bestandteil, denn durch eine solche Symbolisierung erfahren die Menschen die Gesellschaft, deren Glieder sie sind, als mehr denn eine bloße Zufälligkeit oder Annehmlichkeit; sie erfahren sie als Teil ihres menschlichen Wesens. Und umgekehrt drücken die Symbole das Erlebnis aus, daß der Mensch voll und ganz Mensch ist kraft seiner Teilnahme an einem Ganzen, das über seine gesonderte Existenz hinausgreift, kraft seiner Teilnahme am xynon, dem Gemeinsamen, wie Heraklit es genannt hat, der erste westliche Denker, der diesen Begriff differenzierte. Jede menschliche Gesellschaft gelangt also, ohne politische Wissenschaft, zu einem Verständnis ihrer selbst durch eine Vielfalt von Symbolen, manchmal höchst differenzierten Sprachsymbolen; und solches Selbstverständnis geht historisch um Jahrtausende der politischen Wissenschaft, der politike episteme im aristotelischen Sinne, voraus. Wenn die politische Wissenschaft anhebt, steht sie also nicht vor einer tabula rasa, auf der sie ihre Begriffe einritzen könnte; sie muß von dem reichen corpus der Selbstinterpretation einer Gesellschaft ausgehen, und sie wird ihre Aufgabe auf dem Wege kritischer Klärung der gesellschaftlich präexistenten Symbole lösen müssen. Als Aristoteles seine Ethik und seine Politik schrieb, als er seine Begriffe der Polis, der Verfassung, des Bürgers, der verschiedenen Regierungsformen, der Gerechtigkeit, der Glückseligkeit etc. bildete, erfand er weder diese Termini noch verlieh er ihnen willkürliche Bedeutungen; vielmehr nahm er die Symbole, die er in seiner sozialen Umwelt vorfand, prüfte sorgfältig die Bedeutungen, die sie im Sprachgebrauch hatten, und ordnete und klärte diese Sinngehalte nach den Kriterien seiner Theorie.1 (Fs)
51a Diese Präliminarien erschöpfen zwar keineswegs die eigenartige Situation der politischen Wissenschaft, aber sie dürften zureichen für den unmittelbaren Zweck, einige theoretische Schlüsse zu ziehen, die ihrerseits wieder auf das Thema der Repräsentation angewandt werden können. (Fs)
51b Wenn der Theoretiker auf seine eigene theoretische Situation reflektiert, sieht er sich zwei Reihen von Symbolen gegenüber: den Sprachsymbolen, die als integraler Teil des sozialen Kosmion zu dessen Selbsterhellung hervorgebracht werden, und den Sprachsymbolen der politischen Wissenschaft. Die beiden Reihen sind aufeinander bezogen, insoferne als die zweite Reihe aus der ersten hervorgegangen ist durch das Verfahren, das vorläufig als kritische Klärung bezeichnet wurde. Im Verlauf dieses Verfahrens werden einige in der Realität vorfindliche Symbole aufgegeben, weil sie in der Ökonomie der Wissenschaft nicht verwendbar sind, während neue Symbole in der Theorie entwickelt werden, um die in der Realität auftretenden Symbole adäquat zu beschreiben. Wenn der Theoretiker z. B. die marxistische Idee des Reiches der Freiheit, das auf dem Wege einer kommunistischen Revolution etabliert werden soll, als die immanentisierte Hypostase eines christlichen eschatologischen Symbols beschreibt, dann ist das Symbol "Reich der Freiheit" Teil der Realität; es ist Teil der säkularen Bewegung, von der die marxistische Bewegung ein Zweig ist, während Termini wie "immanentisiert", "Hypostase" und "Eschatologie" Begriffe der politischen Wissenschaft sind. Die in der Beschreibung verwendeten Ausdrücke kommen in der Realität der marxistischen Bewegung nicht vor, während das Symbol "Reich der Freiheit" als Begriff der kritischen Wissenschaft wertlos ist. Es gibt daher weder zwei Symbolreihen mit voneinander verschiedenen Bedeutungen, noch eine einzige Symbolreihe mit zwei verschiedenen Bedeutungsreihen; sondern es gibt zwei Symbolreihen, deren Phoneme sich häufig überdecken. Ferner sind die Symbole in der Wirklichkeit in beträchtlichem Ausmaß selbst das Ergebnis von Klärungsprozessen, so daß auch hinsichtlich ihrer Bedeutung die beiden Symbolreihen sich häufig sehr nahe kommen, manchmal sogar Identität erreichen. Diese komplizierte Situation ist unvermeidlich eine reiche Quelle von Mißverständnissen. Vor allem entspringt aus ihr die Illusion, daß die in der politischen Realität verwendeten Symbole theoretische Begriffe seien. (Fs)
52a Diese verwirrende Illusion hat leider die zeitgenössische politische Wissenschaft tief unterhöhlt. Man scheut sich z. B. nicht, von einer "Vertragstheorie" oder einer "Souveränitätstheorie" oder einer "Marxistischen Geschichtstheorie" zu sprechen, obwohl es mehr als fraglich ist, daß irgendeine dieser sogenannten Theorien sich als Theorie im kritischen Sinne qualifizieren läßt; und umfangreiche Geschichten der "Politischen Theorie" handeln von Symbolen, die in ihrer Mehrzahl sehr wenig Theoretisches an sich haben. Mißverständnisse dieser Art zerstören sogar einige Errungenschaften, die schon von der politischen Wissenschaft der Antike erzielt wurden. Man nehme z. B. die sogenannte Vertragstheorie. In dieser Theorie wird die Tatsache ignoriert, daß Platon eine sehr eingehende Analyse des Vertragssymbols gegeben hat. Nicht nur hat er seinen nicht-theoretischen Charakter festgestellt, sondern auch den Erfahrungstypus, der ihm zugrunde liegt, erforscht. Darüber hinaus hat er die Bezeichnung doxa als terminus technicus für jene Klasse von Symbolen eingeführt, von der die "Vertragstheorie" ein Spezialfall ist, um sie von den Symbolen der Theorie zu unterscheiden.2 Heute gebrauchen die Theoretiker nicht mehr den terminus doxa für diesen Zweck, so daß die Unterscheidung verloren gegangen ist. Stattdessen ist das Wort "Ideologie" in Mode gekommen, das in mancher Hinsicht dem platonischen doxa verwandt ist. Aber gerade dieses Wort wurde zu einer weiteren Quelle von Mißverständnissen, weil unter dem Druck des "allgemeinen Ideologieverdachts" (Mannheim) seine Bedeutung so weit ausgedehnt wurde, daß es alle Symboltypen umfaßt, die in Urteilen über die Politik gebraucht werden, die Symbole der Theorie eingeschlossen; es gibt heute zahlreiche politische Wissenschaftler, die sogar die platonisch-aristotelische episteme eine Ideologie zu nennen bereit sind. (Fs)
53a Ein weiteres Symptom solcher Verwirrung sind gewisse Gepflogenheiten in der Diskussion. Mehr als einmal fragte mich in einer Diskussion über ein politisches Thema ein Student - und nicht immer nur ein Student -, wie ich den Faschismus oder Sozialismus oder einen anderen "ismus" dieser Ordnung definiere. Und mehr als einmal mußte ich den Fragesteller - der anscheinend im Verlauf seines Universitätsstudiums die Vorstellung gewonnen hatte, die Wissenschaft sei ein Warenhaus für lexikale Definitionen - in Erstaunen versetzen durch meine Versicherung, daß ich mich nicht verpflichtet fühle, mich auf Wortdefinitionen einzulassen, da Bewegungen vom angedeuteten Typ einschließlich ihrer Symbole Teil der Realität seien, daß nur Begriffe, nicht aber die Realität definiert werden könnten und daß es höchst zweifelhaft sei, ob die in Frage stehenden Sprachsymbole kritisch so weit geklärt werden könnten, daß sie von irgendwelchem Erkenntniswert in der Wissenschaft seien. (Fs)
54a Der Boden ist nun vorbereitet, um das Thema der Repräsentation selbst anzugehen. Die vorausgegangenen Erwägungen haben wohl verdeutlicht, daß die Aufgabe nicht ganz einfach sein kann, wenn die Untersuchung gemäß den Kriterien einer Wahrheitssuche geführt wird. Theoretische Begriffe und solche Symbole, die Teil der Realität sind, müssen sorgsam auseinandergehalten werden; beim Übergang von der Wirklichkeit zur Theorie müssen die beim Klärungsvorgang angewandten Kriterien genau definiert werden; und der Erkenntniswert der gewonnenen Begriffe muß daran geprüft werden, ob sie sich in größere theoretische Zusammenhänge einfügen lassen. Die hier umrissene Methode ist im wesentlichen das aristotelische Verfahren. (Fs) ____________________________
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