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Autor: Lonergan, Bernard J.F.

Buch: Die Einsicht

Titel: Die Einsicht Bd. I und II

Stichwort: Vorwort zur dt. Ausgabe I; Lonergan in der Schule von Thomas von Aquin; intelligere in sensibili; verbum complexum

Kurzinhalt: Das Verstehen1 geschieht also im Konkreten, Einzelnen; es legt eine Form in dem Gegebenen frei. Erst dann ist unser Verstand imstande, intelligent einen Begriff zu bilden ... Ähnliches gilt für das Urteil: Auch das sog. verbum complexum

Textausschnitt: I. Die Vorbereitung: In der Schule von Thomas von Aquin

XIa Bernard J. F. Lonergan (1904-1984) war Mitglied der Gesellschaft Jesu und lehrte Theologie zuerst in seinem heimatlichen Kanada und dann an der Gregoriana Universität zu Rom, bis er 1965 aus Gesundheitsgründen nach Toronto zurückkehrte. 1971-1972 lehrte er an der Harvard Divinity School; von 1975 bis 1983 war er Visiting Distinguished Professor in Boston College, Massachusetts. (Fs)

Daß ein Theologe ein umfangreiches Buch über Erkenntnis- und Seinslehre schreibt, ist eher ungewöhnlich. Es soll hier der Weg nachgezeichnet werden, auf dem Lonergan zur Abfassung dieses Werkes kam, und zugleich eine erste Orientierung zum Verständnis desselben gegeben werden. (Fs)

XIb Bereits in seiner Dissertation für das Doktorat in der Theologie über ein Element in der Gnadenlehre des Thomas von Aquin1 wurde Lonergan anhand eines textuell gut belegten Falls mit dem evolutiven Charakter der menschlichen Erkenntnis konfrontiert. Die Theologen des XII. und XIII. Jahrhunderts hatten einer nach dem anderen um das Problem der Vereinbarkeit von menschlicher Freiheit und Gottes Gnade gerungen. Als Thomas dran kam, war die Phase des Übergangs von der eher paränetisch-praktischen Verkündigung dieser Grundwahrheit des christlichen Glaubens zu einer systematischen Durchdringung derselben mittels der wieder entdeckten Begrifflichkeit aus der Philosophie von Aristoteles noch nicht zu einer befriedigenden Position gelangt. Die Synthese, die Thomas durch seine wiederholte Behandlung zustande bringen konnte, erwies sich in der historischen Untersuchung Lonergans als eine Sache weder allgemeiner Begriffe noch syllogistischer Schlußfolgerungen; vielmehr als die Leistung einer sich nach und nach vertiefenden und erweiternden Erklärung der mannigfaltigen und bis dahin widerspenstigen Daten der Hl. Schrift und der Tradition; eine Synthese also "nicht so sehr durch einen einzigen meisterhaften Zug als vielmehr durch die unzähligen nacheinander vollzogenen Anpassungen, die fortdauernd der intellektuellen Vitalität entstammten"2. (Fs)

XIc Die Diskursivität der menschlichen Erkenntnis, in deren Mittelpunkt ein Akt des Verstehens steht, erhielt eine systematische Klärung in einer zweiten Untersuchung, die Lonergan noch während der letzten Kriegsjahre und unmittelbar danach anstellte, als er Theologie in Montreal und dann in Toronto lehrte3. Das direkte Thema war ein theologisches, nämlich die seit Augustin herkömmliche Analogie, die im Geist des Menschen ein Abbild des dreieinigen Gottes sieht. In der Tat aber lief die eindringliche und anhand vieler Textstellen belegte Untersuchung der Schriften von Thomas auf eine Studie über die Erkenntnislehre, aber auch die Seelenlehre und die Metaphysik des mittelalterlichen Meisters hinaus. (Fs)

XIIa Im Unterschied zu der bei den Thomas-Forschern üblichen Perspektive von einer Metaphysik der Erkenntnis stellte Lonergan fest, daß Thomas zwar metaphysische Begriffe und Lehrsätze von Aristoteles durchgehend benutzt hat, daß aber diese von ihm verwendet wurden, um Handlungen systematisch auszudrücken, die der Mensch in seiner Erkenntnistätigkeit vollzieht. Für Lonergan galt es deshalb, diese bewußten und damit nachprüfbaren Elemente ausfindig zu machen und sie in ihrer Eigenart zu thematisieren. Das Hauptresultat der Untersuchung einer solchen introspektiv nachvollziehbaren Lehre war die Einsicht, daß Thomas die Schlüsselrolle beim Zustandekommen der menschlichen Erkenntnis nicht dem inneren Wort, weder als Begriff noch als Urteil, zuschrieb, sondern dem vorhergehenden Akt des Verstehens. Es ist nicht schwer einzusehen, welche revolutionäre Bedeutung eine solche These Lonergans in bezug auf eine jahrhundertelang dominierende philosophische Tradition hat. Man denke an den Vorrang des Begriffs als allgemein in einflußreichen Strömungen der Scholastik, vor allem Skotistischer Prägung, bis hin zur Neuscholastik mit ihrer rein metaphysischen Erklärung des Allgemeinbegriffs. Aber auch an Kant, der aus keinem anderen Grund seine Kritik der reinen Vernunft schrieb, als um die Frage: "Wie sind synthetische Urteile a priori möglich?" zu beantworten, wofür er zu Begriffen a priori Zuflucht nahm. (Fs)

XIIb Der Begriff hat nach Thomas seinen Urprung in dem Akt, den er "intelligere" nennt - ein Verstehen "in sensibili", d. h. in den Daten der Sinne (oder des Bewußtseins), das dem "noein en tois phantasmasi" des Aristoteles im II. Buch. Kapitel 7 von De anima entspricht. Dieser Akt fügt der Mannigfaltigkeit des Gegebenen einen Komplex von Beziehungen und damit eine Intelligibilität hinzu, die das Mannigfaltige unter einem bestimmten Aspekt zur Einheit führt. Das Verstehen4 geschieht also im Konkreten, Einzelnen; es legt eine Form in dem Gegebenen frei. Erst dann ist unser Verstand imstande, intelligent einen Begriff zu bilden, der das im einzelnen, aber nicht auf das einzelne eingeschränkte erfaßte Intelligible in einem Begriff allgemein ausdrückt. (Fs) (notabene)

XIIIa Ähnliches gilt für das Urteil: Auch das sog. verbum complexum geht aus einem vorhergehenden Verstehensakt hervor, der die Entsprechung zwischen den tatsächlich vorhandenen Daten und ihrer Interpretation erfaßt und damit den Grund fur die absolute Setzung der mentalen Synthesis in einer Bejahung bzw. Verneinung liefert. Erst durch das Urteil als Setzung wird das, was zunächst bloß gegeben und dann bloß gedacht war, als Wirklichkeit erkannt. (Fs) (notabene)

XIIIb Genau die wesentliche Unterscheidung von Begriff und Urteil als dem zweiten (nach dem der Erfahrung) und dritten Schritt im Erkenntnisprozeß zusammen mit ihrer Begründung in einem direkten bzw. reflexiven Verstehensakt erklärt zwei Grundeigenschaften der menschlichen Erkenntnis: Einerseits ihren evolutiven Charakter, der von der Reihenfolge immer exakterer und umfassenderer Einsichten in die Daten stammt; andererseits die bleibende Gültigkeit dessen, was in der absoluten Setzung des Urteils als wahr und damit als wirklich erkannt wurde. (Fs) (notabene)

XIIIc Der Ertrag seiner Studie über das Verbum bei Thomas war für Lonergan ein Doppelter. Auf der objektiven Seite vermochte er wesentliche Elemente in der Theorie der Erkenntnis von Thomas wieder zu entdecken, die durch eine jahrhundertelange Tradition subtiler Metaphysiker zum großen Teil überdeckt worden waren. Wie wir sehen werden, ermöglichten genau diese Elemente Lonergan, eine Theorie der Erkenntnis eigens zu entwickeln, die den kulturellen Errungenschaften Rechnung trägt, die die Zeit seit Thomas bis zu uns hervorgebracht hat. Auf der subjektiven Seite vollzog Lonergan in sich selbst die für die moderne Kultur kennzeichnende anthropologische Wende, allerdings ohne die vielfältigen Verkürzungen, die in der Moderne das menschliche Subjekt verzeichnet haben. Bei aller Korrelativität von ens und mens nahm Lonergan die Erkenntnislehre als Ansatz zu seiner Reflexion über die Realität; genauer, diejenige empirische, intelligente, rationale und moralische Intentionalität, die den Menschen als wissendes und verantwortliches Subjekt konstituiert. (Fs)

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