Autor: Ratzinger, Joseph Buch: Werte in Zeiten des Umbruchs Titel: Werte in Zeiten des Umbruchs Stichwort: Europa - Aufgabe an un uns; zweite Aufklärung: neue Weltordnung (Zweifel an deren Rationalität); neue Zwänge, Herrschaftsklasse; Rückbindung an Natur u. Geschichte Kurzinhalt: Die Rückbindung an die beiden großen Quellen der Erkenntnis - an Natur und Geschichte - ist notwendig ... Im Miteinander von Mann und Frau verbinden sich das naturale und das geistige Element zum spezifisch Menschlichen, das man nicht ungestraft ... Textausschnitt: 3. Die vor uns stehende Aufgabe
93a Was heißt dies alles für die Frage nach Europa? Es bedeutet, dass die einseitig auf die Ausbildung ökonomischer Macht gerichtete Konstruktion nun doch aus sich selbst eine Art von neuem Wertesystem hervorbringt, das auf seine Tragfähigkeit und seine Zukunftsfähigkeit hin überprüft werden muss. Die vor kurzem verabschiedete Europäische Charta könnte man als einen Versuch charakterisieren, zwischen diesem neuen Wertekanon und den klassischen Werten der europäischen Überlieferung einen Mittelweg zu finden. Als eine erste Richtungsangabe wird sie durchaus hilfreich sein. Zweideutigkeiten in wichtigen Punkten zeigen freilich unübersehbar die Problematik eines solchen Vermittlungsversuches an. An einer grundlegenden Auseinandersetzung mit den anstehenden Fragen wird man nicht vorbeikommen. Sie zu führen, ist selbstverständlich im Rahmen dieses Referats nicht möglich. Ich möchte lediglich versuchen, die Frage etwas zu präzisieren, um die es dabei gehen wird. (Fs)
93b Die Väter der europäischen Einigung waren nach dem Zweiten Weltkrieg - wie wir sahen - von einer grundsätzlichen Vereinbarkeit des moralischen Erbes des Christentums und des moralischen Erbes der europäischen Aufklärung ausgegangen. In der Aufklärung war der biblische Gottesbegriff in doppelter Richtung unter der Idee der autonomen Vernunft verändert worden: Gott der Schöpfer und Erhalter, der die Welt immerfort trägt und leitet, war zu einem bloßen Initiator des Alls geworden. Der Offenbarungsbegriff war ausgeschieden worden. Spinozas Formel Deus sive natura könnte man in vieler Hinsicht als charakteristisch für die Vision der Aufklärung ansehen. Das bedeutet aber doch, dass man an eine Art von göttlich geprägter Natur glaubte und an die Fähigkeit des Menschen, diese Natur zu verstehen und auch als rationalen Anspruch zu werten. (Fs) (notabene)
93c Demgegenüber hatte der Marxismus einen radikalen Bruch gebracht: Die bestehende Welt ist arationales Evolutionsprodukt; die vernünftige Welt muss erst der Mensch aus dem unvernünftigen Rohmaterial der Wirklichkeit hervorbringen. Dies - verbunden mit der Geschichtsphilosophie Hegels, mit dem liberalen Fortschrittsdogma und seiner sozio-ökonomischen Interpretation - führte zu der Erwartung der klassenlosen Gesellschaft, die im historischen Fortschritt als Endprodukt des Klassenkampfes erscheinen sollte und so zur letztlich einzigen normativen moralischen Idee wurde: Gut ist, was der Herbeiführung dieses Heilszustandes dient; schlecht ist, was sich ihm entgegenstellt. Heute stehen wir in einer zweiten Aufklärung, die nicht nur den Deus sive natura hinter sich gelassen, sondern auch die marxistische Hoffnungsideologie als irrational durchschaut hat und stattdessen ein rationales Zukunftsziel postuliert, das den Titel neue Weltordnung trägt und nun seinerseits zur wesentlichen ethischen Norm werden soll. Mit dem Marxismus gemeinsam bleibt die evolutionistische Idee einer durch den irrationalen Zufall und seine inneren Gesetzlichkeiten entstandenen Welt, die infolgedessen - anders als die alte Idee der Natur vorsah - keine ethische Weisung in sich tragen kann. Der Versuch, aus den Spielregeln der Evolution doch Spielregeln menschlicher Existenz, also eine Art von neuer Ethik abzuleiten, ist zwar weit verbreitet, aber wenig überzeugend. Es mehren sich die Stimmen von Philosophen wie Singer, Rorty, Sloterdijk, die uns sagen, der Mensch habe nun Recht und Pflicht, auf rationale Weise die Welt neu zu konstruieren. Die neue Weltordnung, an deren Notwendigkeit kaum jemand zweifelt, müsse eine Weltordnung der Rationalität sein. So weit so gut. Aber was ist rational? (Fs) (notabene)
94a Der Maßstab der Vernünftigkeit wird allein aus den Erfahrungen des wissenschaftlich fundierten technischen Machens genommen. Rationalität richtet sich auf Funktionalität, auf Effektivität, auf Steigerung der Lebensqualität für alle. Die Verfügung über die Natur, die damit vorgegeben ist, wird freilich durch die dramatisch werdenden Umweltfragen zum Problem. Viel ungenierter schreitet inzwischen die Verfügung des Menschen über sich selbst voran. Huxleys Visionen werden zusehends Realität: Der Mensch soll nicht mehr irrational gezeugt, sondern rational produziert werden. Über den Menschen als Produkt aber verfügt der Mensch. Die unvollkommenen Exemplare sind auszuscheiden, der vollkommene Mensch anzustreben, auf dem Weg über Planung und Produktion. Das Leid soll verschwinden, das Leben nur noch lustvoll sein. (Fs) (notabene)
95a Noch sind solche radikalen Visionen vereinzelt, meist vielfach abgemildert, aber die Handlungsmaxime, dass der Mensch alles darf, was er kann, setzt sich immer weiter durch. Das Können als solches wird zu einem sich selbst genügenden Maßstab. In einer evolutionär gedachten Welt ist auch von selbst einsichtig, dass es absolute Werte, das immer Schlechte und das immer Gute nicht geben kann, sondern die Güterabwägung den einzigen Weg moralischer Normenfindung darstellt. Das aber heißt dann, dass höhere Zwecke, erwartete Erfolge etwa für die Heilung von Krankheiten, auch den Missbrauch des Menschen rechtfertigen, wenn nur das erhoffte Gut groß genug erscheint. (Fs) (notabene)
95b So aber entstehen neue Zwänge, und es entsteht eine neue Herrschaftsklasse. Letztlich entscheiden diejenigen, die über das fachliche Können verfügen und diejenigen, die die Mittel verwalten, über das Geschick der übrigen Menschen. Nicht hinter der Forschung zurückzubleiben, wird zu einem unentrinnbaren Zwang, der seine Richtung selbst bestimmt. Welchen Rat kann man Europa und der Welt in dieser Situation geben? Als spezifisch europäisch erscheint in dieser Situation geradezu die Trennung von jeder ethischen Tradition und das Setzen allein auf die technische Rationalität und ihre Möglichkeiten. Aber wird eine so gegründete Weltordnung nicht doch zu einer Utopie des Schreckens? Braucht Europa, braucht die Welt nicht doch korrigierende Elemente aus seiner großen Tradition und aus den großen ethischen Traditionen der Menschheit? (Fs) (notabene)
95c Die Unantastbarkeit der Menschenwürde sollte der Pfeiler ethischer Ordnungen werden, an dem nicht gerüttelt wird. Nur wenn der Mensch sich selbst als Endzweck anerkennt und nur wenn der Mensch dem Menschen heilig und unantastbar ist, können wir einander vertrauen und miteinander im Frieden leben. Es gibt keine Güterabwägung, die es rechtfertigt, den Menschen als Experimentiermaterial für höhere Zwecke zu behandeln. Nur wenn wir hier ein Absolutum sehen, das über allen Güterabwägungen steht, handeln wir wirklich ethisch und nicht kalkulatorisch. Unantastbarkeit der Menschenwürde - das bedeutet dann auch, dass diese Würde für jeden Menschen gilt, dass diese Würde für jeden gilt, der Menschenantlitz trägt und der biologisch zur Spezies Mensch gehört. Funktionale Kriterien können hier keine Geltung haben. Auch der leidende, der behinderte, der ungeborene Mensch ist Mensch. Ich möchte hinzufügen, dass damit auch die Achtung vor dem Ursprung des Menschen aus der Gemeinschaft von Mann und Frau verbunden sein muss. Der Mensch darf nicht zum Produkt werden. Er darf nicht produziert, er kann nur gezeugt werden. Und daher muss der Schutz der besonderen Würde der Gemeinschaft von Mann und Frau, auf der die Zukunft der Menschheit ruht, zu den ethischen Konstanten einer jeden humanen Gesellschaft zählen. (Fs) (notabene)
96a All dies ist aber nur möglich, wenn wir auch einen neuen Sinn für die Würde des Leidens gewinnen. Leben lernen heißt auch leiden lernen. Deshalb ist auch Ehrfurcht vor dem Heiligen geboten. Der Glaube an den Schöpfergott ist die sicherste Gewähr der Menschenwürde. Er kann niemandem auferlegt werden, aber da er ein großes Gut für die Gemeinschaft ist, darf er Anspruch auf die Ehrfurcht von Seiten der Nichtglaubenden erheben. (Fs) (notabene)
96b Es ist richtig: Rationalität ist ein wesentliches Kennzeichen des europäischen Geistes. Mit ihr hat er in gewisser Hinsicht die Welt erobert, denn die zuerst in Europa gewachsene Form von Rationalität prägt heute das Leben aller Kontinente. Aber diese Rationalität kann zerstörerisch werden, wenn sie sich von ihren Wurzeln löst und das Machenkönnen zum einzigen Maßstab erhebt. Die Rückbindung an die beiden großen Quellen der Erkenntnis - an Natur und Geschichte - ist notwendig. Beide Bereiche sprechen nicht einfach aus sich selbst, aber von beiden kann Wegweisung ausgehen. Der Verbrauch der Natur, die sich unbegrenzter Verfügung widersetzt, hat neue Besinnungen in Gang gebracht über die Wegweisung, die von der Natur selbst ausgeht. Herrschaft über die Natur im Sinn des biblischen Schöpfungsberichtes bedeutet nicht gewalttätige Ausnutzung der Natur, sondern das Verstehen ihrer inneren Möglichkeiten und fordert so die sorgsame Form, in der der Mensch der Natur und die Natur dem Menschen dient. (Fs)
97a Die Herkunft des Menschen selbst ist ein zugleich naturaler und humaner Vorgang: Im Miteinander von Mann und Frau verbinden sich das naturale und das geistige Element zum spezifisch Menschlichen, das man nicht ungestraft verachten kann. So sind auch die geschichtlichen Erfahrungen des Menschen, die sich in den großen Religionen niedergeschlagen haben, bleibende Quellen von Erkenntnis, Wegweisungen für die Vernunft, die auch den treffen, der sich selbst mit keiner dieser Traditionen zu identifizieren vermag. An ihnen vorbei zu denken und vorbei zu leben, wäre ein Hochmut, der den Menschen zuletzt ratlos und leer hinterlässt. (Fs)
97b Mit alledem sind keine abschließenden Antworten auf die Frage nach den Grundlagen Europas gegeben. Es ging allein darum, die Aufgabe zu kennzeichnen, die vor uns steht. Es ist dringlich, an ihr zu arbeiten. (Fs) ____________________________
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