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Autor: Ratzinger, Joseph

Buch: Werte in Zeiten des Umbruchs

Titel: Werte in Zeiten des Umbruchs

Stichwort: Europa: Universalisierung und ihre Krise; Spengler - Toynbee; laizistisches - staatskirchlines Modell - Nordamerika;

Kurzinhalt: Europa scheint in dieser Stunde seines äußersten Erfolgs von innen her leer geworden, gleichsam von einer lebensbedrohenden Kreislaufkrise gelähmt, sozusagen auf Transplantate angewiesen, die dann aber doch seine Identität aufheben müssen. Diesem ...

Textausschnitt: 3. Die Universalisierung der europäischen Kultur und ihre Krise

77a Schließlich ist da aber noch ein weiterer Vorgang zu bemerken, mit dem sich die Geschichte der letzten Jahrhunderte deutlich in ein neues hinein überschreitet. Hatte das alte vorneuzeitliche Europa in seinen beiden Hälften wesentlich nur ein Gegenüber gekannt, mit dem es sich auf Leben und Tod auseinanderzusetzen hatte, nämlich die islamische Welt; hatte die neuzeitliche Wende die Ausweitung nach Amerika und in Teile Asiens ohne eigene große Kultursubjekte gebracht, so erfolgt nun der Ausgriff auf die beiden bisher nur marginal berührten Kontinente: Afrika und Asien, die man jetzt ebenfalls zu Ablegern Europas, zu "Kolonien" umzugestalten versuchte. Bis zu einem gewissen Grad ist das auch gelungen, insofern jetzt auch Asien und Afrika dem Ideal der technisch geprägten Welt und ihres Wohlstands nacheifern, so dass auch dort die alten religiösen Überlieferungen in eine Situation der Krise eintreten und rein säkular denkende Schichten immer mehr das öffentliche Leben beherrschen. (Fs)

77b Aber es gibt auch eine Gegenwirkung: Die Renaissance des Islam ist nicht nur mit dem neuen materiellen Reichtum islamischer Länder verbunden, sondern auch von dem Bewusstsein gespeist, dass der Islam eine tragfähige geistige Grundlage für das Leben der Völker zu bieten vermöge, die dem alten Europa abhanden gekommen zu sein scheint, das so trotz seiner noch währenden politischen und wirtschaftlichen Macht immer mehr zum Abstieg und zum Untergang verurteilt angesehen wird. Auch die großen religiösen Traditionen Asiens, vor allem seine im Buddhismus ausgedrückte mystische Komponente erheben sich als geistige Kräfte gegen ein Europa, das seine religiösen und sittlichen Grundlagen verneint. Der Optimismus über den Sieg des Europäischen, den Arnold Toynbee noch zu Beginn der sechziger Jahre vertreten konnte, erscheint heute seltsam überholt: "Von 28 Kulturen, die wir identifiziert haben ... sind 18 tot und neun von den verbliebenen zehn - alle in der Tat außer unserer - zeigen,dass sie bereits niedergebrochen sind."1 Wer würde das heute so noch sagen mögen? Und überhaupt - was ist das, "unsere" Kultur, die noch geblieben ist? Ist die siegreich über die Welt ausgebreitete Zivilisation der Technik und des Kommerzes die europäische Kultur? Oder ist sie nicht eher posteuropäisch aus dem Ende der alten europäischen Kulturen geboren? Ich sehe da eine paradoxe Synchronie: Mit dem Sieg der posteuropäischen technisch-säkularen Welt, mit der Universalisierung ihres Lebensmusters und ihrer Denkweise verbindet sich weltweit, besonders aber in den streng nicht-europäischen Welten Asiens und Afrikas der Eindruck, dass die Wertewelt Europas, seine Kultur und sein Glaube, worauf seine Identität beruhten, am Ende und eigentlich schon abgetreten sei; dass nun die Stunde der Wertesysteme anderer Welten, des präkolumbianischen Amerika, des Islam, der asiatischen Mystik gekommen sei. Europa scheint in dieser Stunde seines äußersten Erfolgs von innen her leer geworden, gleichsam von einer lebensbedrohenden Kreislaufkrise gelähmt, sozusagen auf Transplantate angewiesen, die dann aber doch seine Identität aufheben müssen. Diesem inneren Absterben der tragenden seelischen Kräfte entspricht es, dass auch ethnisch Europa auf dem Weg der Verabschiedung begriffen erscheint. (Fs) (notabene)

78a Es gibt eine seltsame Unlust an der Zukunft. Kinder, die Zukunft sind, werden als Bedrohung der Gegenwart angesehen; sie nehmen uns etwas von unserem Leben weg, so meint man. Sie werden weithin nicht als Hoffnung, sondern als Grenze der Gegenwart empfunden. Der Vergleich mit dem untergehenden Römischen Reich drängt sich auf, das als großer geschichtlicher Rahmen noch funktionierte, aber praktisch schön von denen lebte, die es auflösen sollten, weil es selbst keine Lebenskraft mehr hatte. (Fs)

79a Damit sind wir bei den Problemen der Gegenwart angelangt. Über die mögliche Zukunft Europas gibt es zwei gegensätzliche Diagnosen. Da ist auf der einen Seite die These von Oswald Spengler, der für die großen Kulturgestalten eine Art von naturgesetzlichem Verlauf glaubte feststellen zu können: Es gibt den Augenblick der Geburt, den allmählichen Aufstieg, die Blütezeit einer Kultur, ihr langsames Ermüden, Altern und Tod. Spengler belegt seine These eindrucksvoll aus der Geschichte der Kulturen, in der man dieses Verlaufsgesetz nachzeichnen kann. Seine These war, dass das Abendland in seiner Spätphase angelangt sei, die allen Beschwörungen zum Trotz unausweichlich auf den Tod dieses kulturellen Kontinents hinausläuft. Natürlich kann er seine Gaben an eine neu aufsteigende Kultur weiterreichen, wie es in früheren Untergängen geschehen ist, aber als dieses Subjekt habe er seine Lebenszeit hinter sich. (Fs)

79b Diese als biologistisch gebrandmarkte These hat zwischen den beiden Weltkriegen besonders im katholischen Raum leidenschaftliche Bestreiter gefunden; eindrucksvoll ist ihr auch Arnold Toynbee entgegengetreten, freilich mit Postulaten, die heute wenig Gehör finden.2 Toynbee stellt die Differenz zwischen materiellem-technischem Fortschritt einerseits, wirklichem Fortschritt andererseits heraus, den er als Vergeistigung definiert. Er räumt ein, dass sich das Abendland - die "westliche Welt" - in einer Krise befindet, deren Ursache er im Abfall von der Religion zum Kult der Technik, der Nation und des Militarismus sieht. Die Krise heißt für ihn letztlich: Säkularismus. Wenn man die Ursache der Krise kennt, kann man auch den Weg der Heilung angeben: Das religiöse Moment muss neu eingeführt werden, wozu für ihn das religiöse Erbe aller Kulturen gehört, besonders aber das, "was vom abendländischen Christentum übriggeblieben ist."3 Der biologistischen tritt hier eine voluntaristische Sicht entgegen, die auf die Kraft schöpferischer Minderheiten und herausragender Einzelpersönlichkeiten setzt. (Fs)

80a Es stellt sich die Frage: Ist die Diagnose richtig? Und wenn - liegt es in unserer Macht, das religiöse Moment neu einzuführen, in einer Synthese aus Restchristentum und religiösem Menschheitserbe? Letztlich bleibt die Frage zwischen Spengler und Toynbee offen, weil wir nicht in die Zukunft schauen können. Aber unabhängig davon stellt sich die Aufgabe, nach dem zu fragen, was Zukunft gewähren kann und was die innere Identität Europas in allen geschichtlichen Metamorphosen weiterzuführen vermag. Oder noch einfacher: was auch heute und morgen die Menschenwürde und ein ihr gemäßes Dasein zu schenken verspricht. (Fs)
80b Um darauf Antwort zu finden, müssen wir noch einmal in unsere Gegenwart hineinblicken und zugleich ihre geschichtlichen Wurzeln gegenwärtig halten. (Fs)

Wir waren vorhin bei der Französischen Revolution und dem 19. Jahrhundert stehen geblieben. In dieser Zeit haben sich vor allem zwei neue "europäische" Modelle entwickelt. Da steht bei den lateinischen Nationen das laizistische Modell: Der Staat ist streng geschieden von den religiösen Körperschaften, die in den privaten Bereich verwiesen sind. Er selber lehnt ein religiöses Fundament ab und weiß sich allein auf die Vernunft und ihre Einsichten gegründet. Angesichts der Fragilität der Vernunft haben sich diese Systeme als brüchig und diktaturanfällig erwiesen; sie überleben eigentlich nur, weil Teile des alten moralischen Bewusstseins auch ohne die vorigen Grundlagen weiterbestehen und einen moralischen Basiskonsens ermöglichen. (Fs)

80c Auf der anderen Seite stehen im germanischen Raum in unterschiedlicher Weise die staatskirchlichen Modelle des liberalen Protestantismus, in denen eine aufgeklärte, wesentlich als Moral gefasste christliche Religion - auch mit staatlich verbürgten Kultformen - den moralischen Konsens und eine weit gespannte religiöse Grundlage verbürgt, der sich die einzelnen nicht staatlichen Religionen anzupassen haben. Dieses Modell hat in Groß-Britannien, in den skandinavischen Staaten und zunächst auch im preußisch dominierten Deutschland staatlichen und gesellschaftlichen Zusammenhalt über lange Zeit hin verbürgt. In Deutschland allerdings hat der Zusammenbruch des preußischen Staatskirchentums ein Vakuum geschaffen, das sich dann ebenfalls als Leerraum für eine Diktatur anbot. Heute sind die Staatskirchen überall von der Auszehrung befallen: Von religiösen Körpern, die Derivate des Staates sind, geht keine moralische Kraft aus, und der Staat selbst kann moralische Kraft nicht schaffen, sondern muss sie voraussetzen und auf ihr aufbauen. (Fs) (notabene)

81a Zwischen den beiden Modellen stehen die Vereinigten Staaten von Nordamerika, die einerseits - auf freikirchlicher Grundlage geformt -von einem strikten Trennungsdogma ausgehen, andererseits über die einzelnen Denominationen hinweg doch tief von einem nicht konfessionell geprägten protestantisch-christlichen Grundkonsens geprägt wurden, der sich mit einem besonderen Sendungsbewusstsein religiöser Art der übrigen Welt gegenüber verband und so dem religiösen Moment ein bedeutendes öffentliches Gewicht gab, das als vorpolitische und überpolitische Kraft für das politische Leben bestimmend sein konnte. Freilich darf man sich nicht verbergen, dass auch in den Vereinigten Staaten die Auflösung des christlichen Erbes unablässig voranschreitet, während gleichzeitig die schnelle Zunahme des spanischen Elements und die Anwesenheit religiöser Traditionen aus aller Welt das Bild verändert. Vielleicht muss man hier doch auch anmerken, dass die Vereinigten Staaten die Protestantisierung Lateinamerikas, also die Ablösung der katholischen Kirche durch freikirchliche Formen unübersehbar fördern, aus der Überzeugung heraus, dass die katholische Kirche keine stabilen Wirtschafts- und politischen Systeme gewährleisten könne, insofern also als Erzieherin der Nationen versage, während man erwartet, dass das freikirchliche Modell einen ähnlichen moralischen Konsens und demokratische Willensbildung ermöglichen werde, wie sie für die Vereinigten Staaten charakteristisch sind. Um das Bild weiter zu komplizieren, muss man hinzunehmen, dass heute die katholische Kirche die größte Religionsgemeinschaft in den Vereinigten Staaten bildet, dass sie in ihrem Glaubensleben ganz entschieden zur katholischen Identität steht, dass aber die Katholiken hinsichtlich des Verhältnisses von Kirche und Politik die freikirchlichen Traditionen in dem Sinn aufgenommen haben, dass gerade eine nicht dem Staat verschmolzene Kirche die moralischen Grundlagen des Ganzen besser gewährleistet, so dass die Förderung des demokratischen Ideals als eine tief dem Glauben gemäße moralische Verpflichtung erscheint. Man kann in einer solchen Position mit gutem Recht eine zeitgemäße Fortführung des Modells von Papst Gelasius sehen, von dem ich oben gesprochen hatte. (Fs) (notabene)

82a Kehren wir nach Europa zurück. Zu den zwei Modellen, von denen wir vorher sprachen, hat sich noch im 19. Jahrhundert ein drittes gesellt, nämlich der Sozialismus, der sich alsbald in zwei unterschiedliche Wege aufteilte, den totalitären und den demokratischen. Der demokratische Sozialismus hat sich von seinem Ausgangspunkt her als ein heilsames Gegengewicht gegenüber den radikal liberalen Positionen in die beiden bestehenden Modelle einzufügen vermocht, sie bereichert und auch korrigiert. Er erwies sich dabei auch als die Konfessionen übergreifend: In England war er die Partei der Katholiken, die sich weder im protestantisch-konservativen noch im liberalen Lager zu Hause fühlen konnten. Auch im wilhelminischen Deutschland konnte sich das katholische Zentrum weithin dem demokratischen Sozialismus näher fühlen als den streng preußisch protestantischen konservativen Kräften. In vielem stand und steht der demokratische Sozialismus der katholischen Soziallehre nahe, jedenfalls hat er zur sozialen Bewusstseinsbildung erheblich beigetragen. (Fs)

82b Das totalitäre Modell hingegen verband sich mit einer streng materialistischen und atheistischen Geschichtsphilosophie: Die Geschichte wird deterministisch als ein Prozess des Fortschritts über die religiöse und die liberale Phase hin zur absoluten und endgültigen Gesellschaft verstanden, in der Religion als Relikt der Vergangenheit überwunden sein und das Funktionieren der materiellen Bedingungen das Glück aller gewährleisten wird. Die scheinbare Wissenschaftlichkeit verbirgt einen intoleranten Dogmatismus: Der Geist ist Produkt der Materie; die Moral ist Produkt der Umstände und muss je nach den Zwecken der Gesellschaft definiert und praktiziert werden; alles, was der Herbeiführung des glücklichen Endzustandes dient, ist moralisch. Hier ist die Umwertung der Werte, die Europa gebaut hatten, vollständig. Mehr, hier vollzieht sich ein Bruch mit der gesamten moralischen Tradition der Menschheit: Es gibt keine von den Zwecken des Fortschritts unabhängigen Werte mehr, alles kann im gegebenen Augenblick erlaubt oder sogar notwendig, im neuen Sinn moralisch sein. Auch der Mensch kann zum Mittel werden; nicht der einzelne zählt, sondern einzig die Zukunft wird zur grausamen Gottheit, die über alle und alles verfügt. (Fs)

83a Die kommunistischen Systeme sind inzwischen zunächst an ihrer falschen ökonomischen Dogmatik gescheitert. Aber man übersieht allzu gern, dass sie tieferhin an ihrer Menschenverachtung, an ihrer Unterordnung der Moral unter die Bedürfnisse des Systems und seine Zukunftsverheißungen zugrunde gegangen sind. Die eigentliche Katastrophe, die sie hinterlassen haben, ist nicht wirtschaftlicher Natur; sie besteht in der Verwüstung der Seelen, in der Zerstörung des moralischen Bewusstseins. Ich sehe ein wesentliches Problem unserer Stunde für Europa und für die Welt darin, dass zwar nirgends das wirtschaftliche Scheitern bestritten wird und daher Altkommunisten ohne Zögern zu Wirtschaftsliberalen geworden sind; hingegen wird die moralische und religiöse Problematik, um die es eigentlich ging, fast völlig verdrängt. Insofern besteht die vom Marxismus hinterlassene Problematik auch heute fort: Die Auflösung der Urgewissheiten des Menschen über Gott, über sich selbst und über das Universum - die Auflösung des Bewusstseins moralischer Werte, die nie zur Disposition stehen, ist noch immer und gerade jetzt wieder unser Problem und kann zur Selbstzerstörung des europäischen Bewusstseins führen, die wir - unabhängig von Spenglers Untergangsvision -als eine reale Gefahr ins Auge fassen müssen.4

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