Autor: Ratzinger, Joseph Buch: Werte in Zeiten des Umbruchs Titel: Werte in Zeiten des Umbruchs Stichwort: Europa: Entstehung; Eu.: kein geographischer (Herodot), sondern kultureller u. historischer Begriff; Islam, oströmisches Reich, Sacrum Imperium Romanum, Karl der Große (translatio imperii); Byzanz; Dualität der Gewalten (Gelasius), Gewaltentrennung Kurzinhalt: Gelasius ... wo er der byzantinischen Melchisedek-Typologie gegenüber betont, dass die Einheit der Gewalten ausschließlich in Christus liege. "Dieser selbst hat nämlich wegen der menschlichen Schwäche (superbia!) für spätere Zeiten die beiden Ämter ... Textausschnitt: I Europas Identität
Seine geistigen Grundlagen gestern, heute, morgen
68a Europa - was ist das eigentlich? Diese Frage wurde in einem der Sprachzirkel der römischen Bischofssynode über Europa von Kardinal Glemp immer wieder nachdrücklich gestellt: Wo beginnt, wo endet Europa? Warum gehört zum Beispiel Sibirien nicht zu Europa, obwohl es doch weitgehend von Europäern bewohnt wird, die auch auf durchaus europäische Weise denken und leben? Und wo verliert sich Europa im Süden der russischen Staatengemeinschaft? Wo läuft im Atlantik seine Grenze? Welche Inseln sind Europa, welche nicht und warum nicht? In diesen Gesprächen wurde völlig klar, dass "Europa" nur ganz sekundär ein geographischer Begriff ist: Europa ist kein geographisch deutlich fassbarer Kontinent, sondern ein kultureller und historischer Begriff. (Fs)
1. Die Entstehung Europas
68b Das zeigt sich ganz evident, wenn wir auf die Ursprünge Europas zurückzugehen versuchen. Wer vom Ursprung Europas redet, verweist gewöhnlich auf Herodot (ca. 484-425 vor Christus), der wohl als erster Europa als geographischen Begriff kennt und es so definiert: "Die Perser sehen Asien mit seinen Völkern als ihr Land an. Europa und das Land der Griechen, meinen sie, liegt vollkommen außerhalb ihrer Grenzen."1 Die Grenzen Europas selbst werden nicht angegeben, aber es ist klar, dass Kernlande des heutigen Europa völlig außerhalb des Blickfelds des antiken Historikers lagen. In der Tat hatte sich mit der Ausbildung der hellenistischen Staaten und des Römischen Reiches ein "Kontinent" gebildet, der zur Grundlage des späteren Europa wurde, aber ganz andere Grenzen aufwies: Es waren die Länder rund um das Mittelmeer, die durch ihre kulturelle Verbundenheit, durch Verkehr und Handel, durch ein gemeinsames politisches System miteinander einen wirklichen "Kontinent" bildeten. Erst der Siegeszug des Islam hat im 7. und im beginnenden 8. Jahrhundert eine Grenze durch das Mittelmeer gezogen, es sozusagen in der Mitte durchgeschnitten, so dass, was bisher ein Kontinent gewesen war, sich nunmehr in drei Kontinente teilte: Asien, Afrika, Europa. (Fs)
69a Im Osten vollzog sich die Umbildung der alten Welt langsamer als im Westen: Das Römische Reich mit Konstantinopel als Mittelpunkt hielt dort - wenn auch immer weiter zurückgedrängt - bis ins 15. Jahrhundert hinein stand.2 Während die Südseite des Mittelmeers um das Jahr 700 endgültig aus dem bisherigen Kulturkontinent herausgefallen ist, vollzieht sich zur selben Zeit eine immer stärkere Ausdehnung nach Norden. Der Limes, der bisher eine kontinentale Grenze gewesen war, verschwindet und öffnet sich in einen neuen Geschichtsraum hinein, der nun Gallien, Germanien, Britannien als eigentliche Kernlande umgreift und sich zusehends nach Skandinavien ausstreckt. In diesem Prozess der Verschiebung der Grenzen wurde die ideelle Kontinuität mit dem vorangehenden, geographisch anders bemessenen mittelmeerischen Kontinent durch eine geschichtstheologische Konstruktion gewahrt: Im Anschluss an das Buch Daniel sah man das durch den christlichen Glauben erneuerte und verwandelte Römische Reich als das letzte und bleibende Reich der Weltgeschichte überhaupt an und definierte daher das sich konstituierende Völker- und Staatengebilde als das bleibende Sacrum Imperium Romanum. (Fs)
70a Dieser Prozess einer neuen geschichtlichen und kulturellen Identifizierung ist unter Karl dem Großen ganz bewusst vollzogen worden, und hier taucht nun auch wieder das alte Wort Europa in verwandelter Bedeutung auf: Diese Vokabel wurde nun geradezu als Bezeichnung für das Reich Karls des Großen gebraucht und drückte zugleich das Bewusstsein der Kontinuität und der Neuheit aus, mit dem sich das neue Staatengefüge als die eigentlich zukunftstragende Kraft auswies - zukunftstragend, gerade weil es sich in der Kontinuität der bisherigen Geschichte und letztlich im Immerwährenden verankert begriff.3 In dem so sich bildenden Selbstverständnis ist ebenso das Bewusstsein der Endgültigkeit wie das Bewusstsein einer Sendung ausgedrückt. Der Begriff Europa ist zwar nach dem Ende des Karolingischen Reiches wieder weitgehend verschwunden und nur in der Gelehrtensprache erhalten geblieben; in die Populärsprache geht er erst zu Beginn der Neuzeit - wohl im Zusammenhang mit der Türkengefahr als Weise der Selbstidentifizierung - über, um sich allgemein im 18. Jahrhundert durchzusetzen. Unabhängig von dieser Wortgeschichte bedeutet die Konstituierung des Frankenreiches als des nie untergegangenen und nun neu geborenen Römischen Reiches in der Tat den entscheidenden Schritt auf das zu, was wir heute meinen, wenn wir von Europa sprechen.4
70b Freilich dürfen wir nicht vergessen, dass es auch noch eine zweite Wurzel Europas, eines nicht westlichen, nicht abendländischen Europa gibt: Das Römische Reich hatte ja, wie schon gesagt, in Byzanz über die Stürme der Völkerwanderung und der Islamischen Invasion hin standgehalten. Byzanz verstand sich als das wirkliche Rom; hier war das Reich in der Tat nicht untergegangen, weshalb man auch weiterhin Anspruch auf die westliche Reichshälfte erhob. Auch dieses östliche Römische Reich hat sich weit nach Norden, in die slawische Welt hinein ausgedehnt und eine eigene, griechisch-römische Welt geschaffen, die sich von dem lateinischen Europa des Westens durch die andere Liturgie, die andere Kirchenverfassung, durch die andere Schrift und durch den Verzicht auf das Latein als gemeinsame Bildungssprache unterscheidet. (Fs)
71a Freilich gibt es auch genug verbindende Elemente, die die zwei Welten doch zu einem gemeinsamen Kontinent machen können: An erster Stelle das gemeinsame Erbe der Bibel und der alten Kirche, das übrigens in beiden Welten über sich hinausweist auf einen Ursprung, der nun außerhalb Europas, in Palästina liegt; dazu die gemeinsame Reichsidee, das gemeinsame Grundverständnis der Kirche und damit auch die Gemeinsamkeit grundlegender Rechtsvorstellungen und rechtlicher Instrumente; schließlich würde ich auch das Mönchtum erwähnen, das in den großen Erschütterungen der Geschichte der wesentliche Träger nicht nur der kulturellen Kontinuität, sondern vor allem der grundlegenden religiösen und sittlichen Werte, der letzten Orientierungen des Menschen geblieben ist und als vorpolitische und überpolitische Kraft zum Träger der immer wieder nötigen Wiedergeburten wurde.5
71b Zwischen den beiden Europen gibt es mitten in der Gemeinsamkeit des wesentlichen kirchlichen Erbes allerdings doch noch einen tiefreichenden Unterschied, auf dessen Bedeutung besonders Endre von Ivánka hingewiesen hat: In Byzanz erscheinen Reich und Kirche nahezu miteinander identifiziert; der Kaiser ist das Haupt auch der Kirche. Er versteht sich als Stellvertreter Christi, und im Anschluss an die Gestalt des Melchisedek, der König und Priester zugleich war (Gen 14,18), führt er seit dem 6. Jahrhundert den offiziellen Titel "König und Priester".6 Dadurch dass das Kaisertum seit Konstantin aus Rom abgewandert war, konnte sich in der alten Reichshauptstadt die selbständige Stellung des römischen Bischofs als Nachfolger Petri und Oberhaupt der Kirche entwickeln; hier wird schon seit Beginn der konstantinischen Ära eine Dualität der Gewalten gelehrt: Kaiser und Papst haben je getrennte Vollmachten, keiner verfügt über das Ganze. Papst Gelasius I. (492-496) hat die Sicht des Westens in seinem berühmten Brief an Kaiser Anastasius und noch deutlicher in seinem vierten Traktat formuliert, wo er der byzantinischen Melchisedek-Typologie gegenüber betont, dass die Einheit der Gewalten ausschließlich in Christus liege. "Dieser selbst hat nämlich wegen der menschlichen Schwäche (superbia!) für spätere Zeiten die beiden Ämter getrennt, damit sich niemand überhebe (c. 11)." Für die Dinge des ewigen Lebens bedürfen die christlichen Kaiser der Priester (pontifices), und diese wiederum halten sich für den zeitlichen Lauf der Dinge an die kaiserlichen Verfügungen. Die Priester müssen in weltlichen Dingen den Gesetzen des durch göttliche Ordnung eingesetzten Kaisers folgen, während dieser sich in göttlichen Dingen dem Priester zu unterwerfen habe.7
72a Damit ist eine Gewaltentrennung und -Unterscheidung eingeführt, die für die folgende Entwicklung Europas von höchster Bedeutung wurde und sozusagen das eigentlich Abendländische grundgelegt hat. Weil auf beiden Seiten entgegen solchen Abgrenzungen immer der Totalitätsdrang, das Verlangen nach der Überordnung der eigenen Macht über die andere lebendig blieb, ist dieses Trennungsprinzip auch zum Quell unendlicher Leiden geworden. Wie es recht zu leben und politisch wie religiös zu gestalten ist, bleibt ein grundlegendes Problem auch für das Europa von heute und von morgen. (Fs) ____________________________
|