Autor: Ratzinger, Joseph Buch: Werte in Zeiten des Umbruchs Titel: Werte in Zeiten des Umbruchs Stichwort: Demokratie, Grundlagen - mittlere Positionen (K. Popper, J. Schumpeter; P. Bayle); moralische Grundgewissheit; eigentl. Problem: Blindheit der Vernunft für die nicht-materielle Dimension der Wirklichkeit Kurzinhalt: Bayle ... Es gebe nur eine einzige, universale und notwendige Moral, die ein wahres und klares Licht sei, das alle Menschen wahrnehmen, sobald sie nur die Augen öffnen. Diese eine moralische Wahrheit kommt von Gott und muss der Bezugspunkt ... Textausschnitt: c) Evidenz des Moralischen? Mittlere Positionen
60a Es ist hilfreich, vor einem Antwortversuch einen Blick auf die mittleren Positionen zu werfen, die weder dem einen noch dem anderen Lager ganz zuzuordnen sind. V. Possenti nennt als Vertreter eines solchen mittleren Weges N. Bobbio, R. K. Popper und J. Schumpeter; als einen früheren Vorläufer eines solchen Weges könnte man den Cartesianer P. Bayle (1647-1706) ansehen. Bayle geht nämlich bereits von einer strikten Trennung der metaphysischen und der moralischen Wahrheit aus. Das politische Leben bedarf nach ihm der Metaphysik nicht. Ihre Fragen können strittig bleiben und erscheinen so als der Raum des von der Politik nicht berührten Pluralismus. Als Existenzgrundlage genügt für die staatliche Gemeinschaft die praktische Wahrheit. Was ihre Erkennbarkeit angeht, hängt allerdings Bayle einen Optimismus an, der uns im Lauf der weiteren Geschichte längst abhanden gekommen ist. In der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts konnte Bayle noch denken, dass die moralische Wahrheit allen Menschen offen steht. Es gebe nur eine einzige, universale und notwendige Moral, die ein wahres und klares Licht sei, das alle Menschen wahrnehmen, sobald sie nur die Augen öffnen. Diese eine moralische Wahrheit kommt von Gott und muss der Bezugspunkt aller einzelnen Gesetze und Normen sein1. Bayle beschreibt damit einfach das Allgemeinbewusstsein seines Jahrhunderts: Die vom Christentum eröffneten moralischen Grundeinsichten standen so offenkundig und so unwidersprechlich vor aller Augen, dass man sie mitten im Streit der Konfessionen als die selbstverständliche Einsicht eines jeden vernünftigen Menschen ansehen konnte, als eine Evidenz der Vernunft, die von den Glaubensauseinandersetzungen der getrennten Christenheit nicht berührt wurde. (Fs) (notabene)
61a Aber was damals als zwingende Einsicht der von Gott geschenkten Vernunft erschien, behielt seine Evidenz doch nur, solange die ganze Kultur, der ganze Lebenszusammenhang von der christlichen Überlieferung geprägt war. In dem Maß, in dem sich der christliche Grundkonsens zersetzte und eine nackte Vernunft übrig blieb, die sich von keiner geschichtlichen Realität belehren lassen, sondern nur auf sich selber hören will, zerfiel auch die Evidenz des Moralischen. Die Vernunft, die ihre Wurzeln im Glauben einer geschichtlichen, religiösen Kultur abschnitt und nur noch empirische Vernunft sein wollte, wurde blind. Wo bloß noch das experimentell Verifizierbare als gemeinsame Gewissheit anerkannt wird, bleibt für die Wahrheiten, die über das rein Materielle hinausgehen, lediglich das Funktionieren, das heißt das Spiel von Mehrheit und Minderheit, als Maßstab übrig, das aber - wie wir gesehen haben - in seiner Isolierung notwendig zum Zynismus und zur Auflösung des Menschen wird. Das eigentliche Problem, vor dem wir heute stehen, ist die Blindheit der Vernunft für die ganze nicht-materielle Dimension der Wirklichkeit. (Fs) (notabene)
Begnügen wir uns damit, noch einen Blick auf die Sozialphilosophie K. Poppers zu werfen, von dem man vielleicht sagen darf, dass er die Grundvision Bayles in eine relativistische Zeit zu retten versucht. Zu Poppers Vision der offenen Gesellschaft gehört freie Diskussion und darüber hinaus Institutionen zum Schutz der Freiheit und zum Schutz der Benachteiligten. Die Werte, auf denen die Demokratie als beste Verwirklichungsform der offenen Gesellschaft beruht, werden durch einen moralischen Glauben erkannt: Sie sind nicht rational zu begründen, aber ein dem Voranschreiten der Wissenschaft ähnlicher Prozess von Kritik und Einsicht führt doch zu einer Annäherung an die Wahrheit. Die Prinzipien der Gesellschaft können demnach nicht begründet, nur diskutiert werden. Am Ende muss man darüber entscheiden2. (Fs)
61b Wie man sieht, mischen sich in dieser Vision viele Elemente. Einerseits sieht Popper, dass es im Prozess der freien Diskussion keine Evidenz der moralischen Wahrheit gibt, andererseits aber wird sie für ihn doch in einer Art von vernünftigem Glauben fassbar. Für Popper ist klar, dass das Mehrheitsprinzip nicht unbegrenzt gelten kann. Bayles große Idee der gemeinsamen Vernunftgewissheit in Sachen Moral ist hier zusammengeschrumpft zu einem durch Diskussion sich vorantastenden Glauben, der immerhin, wenn auch auf unsicherem Boden, Grundelemente moralischer Wahrheit öffnet und sie dem reinen Funktionalismus entzieht. Das Ganze abwägend dürfen wir wohl sagen, dass auch dieser schmale verbliebene Rest vernünftiger moralischer Grundgewissheit nicht aus der puren Vernunft hervorgeht, sondern auf einem immer noch vorhandenen Rest von Einsichten aus christlich-jüdischer Herkunft beruht. Längst ist auch dieser Rest nicht mehr unbestrittene Gewissheit, aber ein Minimum Morale ist in der sich auflösenden christlichen Kultur noch irgendwie zugänglich geblieben. (Fs)
62a Bevor wir uns an den Versuch einer Antwort wagen, blicken wir zurück. Abzulehnen ist der absolute Staat, der sich als Quelle von Wahrheit und Recht setzt. Abzulehnen ist aber auch der strikte Relativismus und Funktionalismus, weil die Erhebung der Wahrheit zur einzigen Quelle des Rechts die moralische Würde des Menschen bedroht und tendenziell zum Totalitären hinneigt. Die Spannweite annehmbarer Theorien würde demgemäß von Maritain bis Popper reichen, wobei Maritain ein Maximum von Vertrauen zur vernünftigen Evidenz der moralischen Wahrheit des Christlichen und seines Menschenbildes vertritt, während wir bei Popper vor dem wohl gerade noch ausreichenden Minimum stehen, um den Sturz in den Positivismus abzufangen. (Fs)
62b Ich möchte nun nicht neben oder zwischen diesen Autoren eine neue Theorie über das Verhältnis von Staat und moralischer Wahrheit darbieten, sondern nur versuchen, die Erkenntnisse zusammenzufassen, die uns auf dem bisherigen Weg begegnet sind. Sie könnten eine Art Plattform sein, auf der sich politische Philosophien treffen, die m irgendeiner Form das Christentum und seine moralische Botschaft als Bezugspunkt politischen Handelns ansehen, ohne dabei die Grenzen zwischen Politik und Glauben zu verwischen. (Fs)
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