Autor: Ratzinger, Joseph Buch: Werte in Zeiten des Umbruchs Titel: Werte in Zeiten des Umbruchs Stichwort: Demokratie, Grundlagen - metaphysische und christliche These; Plato: Politik, Macht, Wahrheit, Mehrheit als Gottheit; D.: 2 Traditionen: angelsächsische T. - Rousseau; Maritain Kurzinhalt: ...geht Plato auf den biblischen Grundgedanken zu, dass Wahrheit nicht von der Politik produziert wird: Wenn die Relativisten dies meinen, rücken sie trotz des von ihnen gesuchten Primats der Freiheit in die Nähe der Totalitären. Textausschnitt: b) Die metaphysische und christliche These
58a So gibt es eine strenge Gegenposition zu dem bisher betrachteten skeptischen Relativismus. Der Vater dieser anderen Sicht des Politischen ist Plato, der davon ausgeht, nur derjenige könne gut regieren, der selbst das Gute kennt und erfahren habe. Alle Herrschaft müsse Dienst sein, das heißt ein bewusstes Verzichten auf die gewonnene eigene kontemplative Höhe und ihre Freiheit. Sie müsse ein freiwilliges Zurückkehren in die "Höhle" sein, in deren Dunkel die Menschen leben. Nur dann entstehe wirkliche Regierung und nicht jenes Sich-Herumschlagen im Schein und mit dem Scheinhaften, das in der Mehrheit der Fälle die Politik charakterisiere: Die Blindheit der durchschnittlichen Politik sieht Plato darin, dass ihre Vertreter um Macht kämpfen, "als wäre sie ein großes Gut"1. Mit solchen Überlegungen geht Plato auf den biblischen Grundgedanken zu, dass Wahrheit nicht von der Politik produziert wird: Wenn die Relativisten dies meinen, rücken sie trotz des von ihnen gesuchten Primats der Freiheit in die Nähe der Totalitären. Die Mehrheit wird dann zu einer Art von Gottheit, gegen die es keine Appellation mehr geben kann. (Fs) (notabene)
58b Von solchen Einsichten her hat J. Maritain eine Philosophie des Politischen entwickelt, die die großen Intuitionen der Bibel für die Theorie des Politischen fruchtbar zu machen versucht. Wir brauchen hier auf die geschichtlichen Voraussetzungen dieser Philosophie nicht einzugehen, so lohnend es auch wäre. Man kann wohl in Kürze und damit natürlich auch sehr vereinfachend sagen, dass sich in der Neuzeit der Begriff der Demokratie auf zwei Wegen und damit auch auf zwei unterschiedlichen Grundlagen gebildet hat. Im angelsächsischen Bereich ist Demokratie wenigstens zum Teil auf der Basis naturrechtlicher Traditionen und eines freilich ganz pragmatisch gefassten christlichen Grundkonsenses gedacht und verwirklicht worden2. Bei Rousseau hingegen ist sie gegen die christliche Überlieferung gewandt. Von ihm aus bildet sich dann der Strom einer im Gegensatz zum Christentum gedachten Konzeption des Demokratischen3. (Fs)
59a Maritain hat versucht, den Begriff der Demokratie wieder von Rousseau abzukoppeln sie - wie er sagt - von den freimaurerischen Dogmen des notwendigen Fortschritts, des anthropologischen Optimismus, der Vergöttlichung des Individuums und des Vergessens auf die Person zu lösen4. Für ihn kann das originäre Recht des Volkes auf Selbstregierung niemals das Recht sein, über alles zu entscheiden: "Regierung des Volks" und "Regierung für das Volk" gehören zusammen; es geht um das Gleichgewicht zwischen Volkswillen und Zielwerten des politischen Handelns. In diesem Sinn hat Maritain einen dreifachen Personalismus - den ontologischen, axiologischen und sozialen - entfaltet, worauf wir in diesem Zusammenhang nicht eingehen können5. (Fs)
59b Es ist klar, dass hier das Christentum als Quelle von Erkenntnis angesehen wird, die der politischen Aktion vorausgeht und sie erleuchtet. Um jeden Verdacht eines politischen Absolutismus des Christlichen auszuschließen, antwortet V. Possenti auf der Linie von Maritain, dass als Wahrheitsquelle für die Politik nicht etwa das Christentum als Offenbarungsreligion, sondern als Sauerteig und als geschichtlich bewährte Lebensform gemeint ist: Die Wahrheit über das Gute, die aus der christlichen Überlieferung kommt, wird auch für die Vernunft zur Einsicht und so zu einem vernünftigen Prinzip; nicht ist sie eine Vergewaltigung der Vernunft und der Politik durch irgendeinen Dogmatismus6. Natürlich ist dabei ein gewisser Optimismus hinsichtlich der Evidenz des Moralischen und des Christlichen vorausgesetzt, der von den Relativisten bestritten wird. Hier sind wir noch einmal am kritischen Punkt der Theorie des Demokratischen wie seiner christlichen Auslegung angelangt. (Fs) ____________________________
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