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Autor: Ratzinger, Joseph

Buch: Werte in Zeiten des Umbruchs

Titel: Werte in Zeiten des Umbruchs

Stichwort: Demokratie, Grundlagen - relativistische Theorie; Kern d. D.: Freiheit - nicht das Gute; Mehrheitsentscheid (Rorty, Kelsen); Dogmatismus - Relativismus

Kurzinhalt: Hier waltet ein leerer Begriff von Freiheit, der sogar dahin geht, die Auflösung des Ich zu einem Phänomen ohne Zentrum und ohne Wesen sei notwendig, um unsere Intuition über den Vorrang der Freiheit konkret gestalten zu können.

Textausschnitt: a) Die relativistische Theorie

56a Auf diese Fragen antworten, wie oben schon gesagt, zwei diametral einander entgegengesetzte Positionen, zwischen denen aber vermittelnde Auffassungen liegen. Die erste Ansicht, die des strengen Relativismus, ist uns schon in der Gestalt von Hans Kelsen begegnet. Für ihn kann die Beziehung zwischen Religion und Demokratie nur negativ sein. Das Christentum im Besonderen lehrt absolute Wahrheiten und Werte und steht damit im strikten Gegensatz zur notwendigen Skepsis der relativistischen Demokratie. Religion bedeutet für ihn Heteronomie der Person, während umgekehrt Demokratie ihre Autonomie beinhaltet. Das bedeutet auch, dass der Kernpunkt der Demokratie die Freiheit ist und nicht das Gute, das schon wieder als freiheitsgefährdend erscheint1. Heute ist wohl der amerikanische Rechtsphilosoph R. Rorty der bekannteste Vertreter dieser Sicht von Demokratie. Seine Fassung des Zusammenhangs von Demokratie und Relativismus drückt weitgehend das gegenwärtige Durchschnittsbewusstsein auch von Christen aus und verdient daher besondere Aufmerksamkeit. Für Rorty ist der einzige Maßstab, nach dem Recht geschaffen werden kann, das, was als Mehrheitsüberzeugung unter den Bürgern verbreitet ist: Eine andere Philosophie, eine andere Quelle des Rechts stehe der Demokratie nicht zur Verfügung. Freilich ist Rorty sich doch irgendwie des letzten Ungenügens eines bloßen Mehrheitsprinzips als Wahrheitsquelle bewusst; denn er meint, die pragmatische, an der Mehrheit orientierte Vernunft schließe immer einige intuitive Ideen mit ein, wie etwa die Ablehnung der Sklaverei2. Hier freilich täuscht er sich: Jahrhundertelang oder sogar jahrtausendelang hat das Mehrheitsempfinden diese Intuition nicht eingeschlossen, und niemand weiß, wie lange sie ihm erhalten bleiben wird. Hier waltet ein leerer Begriff von Freiheit, der sogar dahin geht, die Auflösung des Ich zu einem Phänomen ohne Zentrum und ohne Wesen sei notwendig, um unsere Intuition über den Vorrang der Freiheit konkret gestalten zu können. Wie aber, wenn einmal diese Intuition abhanden kommt? Wie aber, wenn sich eine Mehrheit gegen die Freiheit bildet und uns sagt, der Mensch sei der Freiheit nicht gewachsen, sondern wolle und solle geführt werden?

57a Der Gedanke, in der Demokratie könne nur die Mehrheit entscheiden und Rechtsquelle könnten nur die mehrheitsfähigen Überzeugungen der Bürger sein, hat zweifellos etwas Bestechendes an sich. Denn wann immer man etwas nicht von der Mehrheit Gewolltes und Entschiedenes für die Mehrheit verbindlich macht, scheint eben der Mehrheit ihre Freiheit abgesprochen und damit das Wesen der Demokratie verneint zu sein. Jede andere Theorie scheint einen Dogmatismus zu unterstellen, der die Selbstbestimmung unterläuft und damit Entmündigung der Bürger, Herrschaft von Unfreiheit wird. (Fs)

57b Aber andererseits kann auch die Irrtumsfähigkeit der Mehrheit nicht bestritten werden, und ihre Irrtümer können sich nicht nur auf Peripheres beziehen, sondern auch grundlegende Güter in Frage stellen, sodass die Menschenwürde und die Menschenrechte nicht mehr gewährleistet sind, also das Wozu der Freiheit zu Fall kommt. Denn was Menschenrechte sind und worin Menschenwürde besteht, liegt keineswegs immer für die Mehrheit offen zutage. Dass sie verführbar und manipulierbar ist und dass Freiheit gerade im Namen der Freiheit zerstört werden kann, hat die Geschichte unseres Jahrhunderts dramatisch bewiesen. Bei Kelsen haben wir überdies gesehen, dass der Relativismus seinen eigenen Dogmatismus in sich trägt: Er ist sich seiner selbst so gewiss, dass er auch denen auferlegt werden muss, die ihn nicht teilen. Im Letzten ist hier der Zynismus unausweichlich, den man bei Kelsen wie bei Rorty mit Händen greifen kann: Wenn die Mehrheit - wie etwa im Fall des Pilatus - immer Recht hat, dann muss das Recht mit Füßen getreten werden. Dann zählt im Grunde zuletzt die Macht des Stärkeren, der die Mehrheit für sich einzunehmen weiß. (Fs)

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