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Autor: Ratzinger, Joseph

Buch: Werte in Zeiten des Umbruchs

Titel: Werte in Zeiten des Umbruchs

Stichwort: Relativismus - Demokratie; D.: rein formal vs. Wahrheit geht Praxis voraus; Kelsen, Pilatus, Jesus

Kurzinhalt: Der moderne Begriff von Demokratie scheint mit dem Relativismus unlöslich verbunden zu sein ... Die Menschenrechte unterliegen nicht ihrerseits dem Pluralismus- und dem Toleranzgebot, sie sind der Inhalt der Toleranz und der Freiheit.

Textausschnitt: 1. Relativismus als Voraussetzung der Demokratie

49a Nach dem Zusammenbruch der totalitären Systeme, die dem 20. Jahrhundert zunächst weithin sein Gepräge gegeben haben, hat sich heute in einem großen Teil der Erde die Überzeugung durchgesetzt, dass Demokratie zwar nicht die ideale Gesellschaft bewirkt, aber praktisch das einzig angemessene Regierungssystem ist. Sie verwirklicht Machtverteilung und Machtkontrolle und bietet damit die größtmögliche Gewähr gegen Willkür und Unterdrückung, für die Freiheit jedes Einzelnen und für die Einhaltung der Menschenrechte. Wenn wir heute von Demokratie sprechen, denken wir vor allem an diese Güter: an die Machtbeteiligung aller, die Ausdruck von Freiheit ist. Keiner soll nur Objekt von Herrschaft, nur ein Beherrschter sein; jeder soll seinen Willen ins Ganze des politischen Handelns einbringen können. Nur als Mitbestimmende können auch wirklich alle freie Bürger sein. (Fs)

Das eigentliche Gut, das bei der Machtbeteiligung angestrebt wird, ist also die Freiheit und die Gleichheit aller. Weil aber Macht nicht beständig durch alle direkt ausgeübt werden kann, muss sie zeitweilig delegiert werden. Auch wenn diese Machtübertragung nur befristet, das heißt bis zu den nächsten Wahlen geschieht, so erheischt sie doch Kontrolle, damit der gemeinsame Wille derer bestimmend bleibt, die Macht übertragen haben, und nicht der Wille derer, die sie ausüben, sich verselbständigt. Manche machen an dieser Stelle halt und sagen: Wenn die Freiheit aller gesichert ist, dann ist das Ziel des Staates erreicht. (Fs) (notabene)

49b Auf diese Weise wird die Selbstverfügung des Individuums zum eigentlichen Ziel der Gemeinsamkeit erklärt; die Gemeinschaft habe eigentlich in sich gar keinen Wert, sondern sie wäre nur da, um den Einzelnen ihn selber sein zu lassen. Aber die inhaltslose Individualfreiheit, die so als höchstes Ziel erscheint, hebt sich selber auf, weil Einzelfreiheit nur in einer Ordnung der Freiheiten bestehen kann. Sie braucht ein Maß, sonst wird sie zur Gewalt gegen den anderen: Nicht ohne Grund führen diejenigen, die totalitäre Herrschaft anstreben, zunächst eine ordnungslose Freiheit der Einzelnen und einen Zustand des Kampfes aller gegen alle herbei, um sich dann mit ihrer Ordnung als die wahren Retter der Menschheit hinstellen zu können. Freikeit bedarf also eines Inhalts. Wir können ihn definieren als die Sicherung der Menschenrechte. Wir können ihn aber auch weitläufiger beschreiben als die Gewährleistung der Wohlfahrt des Ganzen wie des Gutes der Einzelnen: Der Beherrschte, das heißt derjenige, der Macht übertragen hat, "kann frei sein, wenn er in dem von den Herrschenden angestrebten Gemeingut sich selbst, das heißt sein eigenes Gut wiedererkennt"1. (Fs)

50a Durch diese Überlegung sind nun neben die Idee der Freiheit zwei weitere Begriffe getreten: das Recht und das Gute. Beide, das heißt die Freiheit als Lebensform der Demokratie und das Recht wie das Gute als ihr Inhalt, stehen in einer gewissen Spannung zueinander, die der wesentliche Gehalt des heutigen Ringens um die rechte Form von Demokratie und Politik überhaupt darstellt. (Fs)

50b Freilich denken wir zunächst einmal vor allem an die Freiheit als das wahre Gut des Menschen; alle anderen Güter erscheinen uns heute eher strittig und allzu leicht zu missbrauchen. Wir wollen nicht, dass der Staat uns eine bestimmte Idee des Guten aufdränge. Das Problem wird noch deutlicher, wenn wir den Begriff des Guten durch den Begriff der Wahrheit verdeutlichen. Die Achtung der Freiheit jedes Einzelnen scheint uns heute ganz wesentlich darin zu bestehen, dass die Wahrheitsfrage nicht vom Staat entschieden wird: Wahrheit, also auch die Wahrheit über das Gute, erscheint nicht als gemeinschaftlich erkennbar. Sie ist strittig. Der Versuch, allen aufzuerlegen, was einem Teil der Bürger als Wahrheit erscheint, gilt daher als Knechtung der Gewissen: Der Begriff Wahrheit ist in die Zone der Intoleranz und des Antidemokratischen gerückt. Sie ist kein öffentliches, sondern nur ein privates Gut bzw. ein Gut von Gruppen, aber eben nicht des Ganzen. Anders ausgedrückt: Der moderne Begriff von Demokratie scheint mit dem Relativismus unlöslich verbunden zu sein; der Relativismus aber erscheint als die eigentliche Garantie der Freiheit, gerade auch ihrer wesentlichen Mitte - der Religions- und Gewissensfreiheit. (Fs)

51a Das ist heute uns allen durchaus einsichtig. Trotzdem stellt sich bei näherem Zusehen die Frage, ob es nicht doch einen nichtrelativistischen Kern auch in der Demokratie geben müsse: Ist sie denn nicht letztlich um die Menschenrechte herumgebaut, die unverletzlich sind, sodass gerade ihre Gewährung und Sicherung der tiefste Grund ist, warum Demokratie als nötig erscheint? Die Menschenrechte unterliegen nicht ihrerseits dem Pluralismus- und dem Toleranzgebot, sie sind der Inhalt der Toleranz und der Freiheit. Den anderen seines Rechtes zu berauben kann niemals Inhalt des Rechts werden und niemals Inhalt der Freiheit sein. Das bedeutet, dass ein Grundbestand an Wahrheit, nämlich an sittlicher Wahrheit, gerade für die Demokratie unverzichtbar zu sein scheint. Wir sprechen dabei heute lieber von Werten als von Wahrheit, um nicht mit dem Toleranzgedanken und dem demokratischen Relativismus in Konflikt zu geraten. Aber der eben gestellten Frage kann man durch diese terminologische Verschiebung nicht ausweichen, denn die Werte beziehen ihre Unantastbarkeit daraus, dass sie wahr sind und wahren Forderungen des menschlichen Wesens entsprechen. (Fs)

51b Umso mehr erhebt sich nun die Frage: Wie kann man diese gemeinschaftlich gültigen Werte begründen? Oder, in der heutigen Sprache gesagt: Wie sind die Grundwerte zu begründen, die nicht dem Spiel von Mehrheit und Minderheit unterworfen sind? Woher kennen wir sie? Was ist dem Relativismus entzogen, warum und wie?

51c Diese Frage bildet das Zentrum im heutigen Disput der politischen Philosophie, in unserem Ringen um die wahre Demokratie. Man kann etwas vereinfachend sagen, dass sich zwei Grundpositionen gegenüberstehen, die in verschiedenen Varianten auftreten und dabei auch zum Teil einander begegnen. Auf der einen Seite finden wir die radikal relativistische Position, die den Begriff des Guten (und damit erst recht den des Wahren) aus der Politik ganz ausscheiden will, weil freiheitsgefährdend. "Naturrecht" wird als metaphysikverdächtig abgelehnt, um den Relativismus konsequent durchzuhalten: Es gibt danach letztlich kein anderes Prinzip des Politischen als die Entscheidung der Mehrheit, die im staatlichen Leben an die Stelle der Wahrheit trete. Recht könne nur rein politisch verstanden werden, das heißt Recht sei, was von den dazu befugten Organen als Recht gesetzt wird. Demokratie wird demgemäß nicht inhaltlich, sondern rein formal definiert: als ein Gefüge von Regeln, die Mehrheitsbildung, Machtübertragung und Machtwechsel ermöglichen. Sie bestünde dann wesentlich im Mechanismus von Wahl und Abstimmung. (Fs) (notabene)

52a Dieser Auffassung steht die andere These gegenüber, dass die Wahrheit nicht Produkt der Politik (der Mehrheit) ist, sondern ihr vorangeht und sie erleuchtet: Nicht die Praxis schafft Wahrheit, sondern die Wahrheit ermöglicht rechte Praxis. Politik ist dann gerecht und freiheitsfördernd, wenn sie einem Gefüge von Werten und Rechten dient, das uns von der Vernunft gezeigt wird. Gegenüber dem ausdrücklichen Skeptizismus der relativistischen und positivistischen Theorien finden wir also hier ein Grundvertrauen in die Vernunft, die Wahrheit zeigen kann2. (Fs)

52b Das Wesen beider Positionen lässt sich sehr gut am Prozess Jesu zeigen, nämlich an der Frage, die Pilatus dem Erlöser stellt: "Was ist Wahrheit?" (Joh 18, 38). Kein Geringerer als der herausragende Vertreter der streng relativistischen Position, der später nach Amerika emigrierte österreichische Rechtslehrer Hans Kelsen, hat in einer Meditation dieses biblischen Textes seine Auffassung unmissverständlich dargelegt3. (Fs)

53a Wir werden auf seine Philosophie des Politischen noch einmal zurückkommen müssen; begnügen wir uns einstweilen mit dem Blick darauf, wie er den biblischen Text auslegt. (Fs)

53b Die Pilatus-Frage ist nach ihm Ausdruck für die notwendige Skepsis des Politikers. Darum ist die Frage irgendwie auch schon Antwort: Wahrheit ist unerreichbar. Dass Pilatus es so versteht, sieht man daran, dass er eine Antwort gar nicht erst abwartet, sondern sich stattdessen unmittelbar an die Menge wendet. So habe er nach Kelsen die Entscheidung des strittigen Falles dem Votum des Volkes unterworfen. Kelsen ist der Meinung, Pilatus habe hier als vollkommener Demokrat gehandelt. Da er nicht weiß, was gerecht ist, überlässt er es der Mehrheit, darüber zu entscheiden. Pilatus wird auf diese Weise in der Darstellung des österreichischen Gelehrten zur emblematischen Figur der relativistischen und skeptischen Demokratie, die sich nicht auf Werte und Wahrheit stützt, sondern auf Prozeduren. Dass im Falle Jesu ein unschuldiger Gerechter verurteilt wurde, scheint Kelsen nicht anzufechten. Es gibt eben keine andere Wahrheit als die der Mehrheit. Hinter sie zurückzufragen ist sinnlos. Kelsen geht an einer Stelle sogar so weit zu sagen, diese relativistische Gewissheit müsse man notfalls auch mit Blut und Tränen auferlegen; man müsse ihrer so sicher sein, wie Jesus seiner Wahrheit sicher war4. (Fs)

53c Ganz anders und gerade auch unter politischen Gesichtspunkten viel überzeugender ist die Auslegung die der große Exeget Heinrich Schlier von dem Text gegeben hat. Er tat dies in dem Augenblick in dem der Nationalsozialismus in Deutschland sich anschickte, die Macht zu ergreifen. Schliers Auslegung war ein bewusstes Gegenzeugnis gegen diejenigen Teile der evangelischen Christenheit, die bereit waren, Glaube und Volk auf dieselbe Ebene zu stellen5. Schlier macht darauf aufmerksam, das Jesus in dem Prozess die richterliche Vollmacht des von Pilatus vertretenen Staates durchaus anerkennt. Er begrenzt sie aber zugleich dadurch, dass er sagt, solche Vollmacht habe Pilatus nicht aus sich selbst, sondern "von oben" (19, 11). Pilatus verfälscht seine Macht und so die Macht des Staates in dem Augenblick, in dem er sie nicht mehr als treuhänderische Verwaltung einer höheren, an der Wahrheit hängenden Ordnung wahrnimmt, sondern sie zu seinen eigenen Gunsten benützt. Der Statthalter fragt nicht mehr nach Wahrheit, sondern versteht Macht als reine Macht. "Sobald er also sich selbst legitimierte, lieh er dem Justizmord an Jesus seine Hand."6 (Fs)

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