Datenbank/Lektüre


Autor: Ratzinger, Joseph

Buch: Werte in Zeiten des Umbruchs

Titel: Werte in Zeiten des Umbruchs

Stichwort: Voraussetzungen des Rechts: Recht - Natur - Vernunft; doppelter Bruch der Neuzeit: Entdeckungen (Francisco de Vitoria, "ius gentium"), Glaubensspaltung (Grotius, Pufendorf); Menschenrechte (Rest d. Naturrechts)

Kurzinhalt: Die Idee des Naturrechts setzte einen Begriff von Natur voraus, in dem Natur und Vernunft ineinander greifen, die Natur selbst vernünftig ist. Diese Sicht von Natur ist mit dem Sieg der Evolutionstheorie zu Bruche gegangen.

Textausschnitt: 3. Voraussetzungen des Rechts: Recht - Natur - Vernunft

34a Zunächst legt sich ein Blick in geschichtliche Situationen nahe, die der unseren vergleichbar sind, soweit es Vergleichbares gibt. Immerhin lohnt sich ein ganz kurzer Blick darauf, dass Griechenland seine Aufklärung kannte, dass das götterbegründete Recht seine Evidenz verlor und nach tieferen Gründen des Rechts gefragt werden musste. So kam der Gedanke auf: Gegenüber dem gesetzten Recht, das Unrecht sein kann, muss es doch ein Recht geben, das aus der Natur, dem Sein des Menschen selbst folgt. Dieses Recht muss gefunden werden und bildet dann das Korrektiv zum positiven Recht. (Fs)

Uns näher liegend ist der Blick auf den doppelten Bruch, der zu Beginn der Neuzeit für das europäische Bewusstsein eingetreten ist und zu den Grundlagen neuer Reflexion über Inhalt und Quelle des Rechts nötigte. Da ist zuerst der Ausbruch aus den Grenzen der europäischen, der christlichen Welt, der sich mit der Entdeckung Amerikas vollzieht. Nun begegnet man Völkern, die nicht dem christlichen Glaubens- und Rechtsgefüge zugehören, das bisher die Quelle des Rechts für alle war und ihm seine Gestalt gab. Es gibt keine Rechtsgemeinsamkeit mit diesen Völkern. Aber sind sie dann rechtlos, wie manche damals behaupteten und wie es weithin praktiziert wurde, oder gibt es ein Recht, das alle Rechtssysteme überschreitet, Menschen als Menschen in ihrem Zueinander bindet und weist? Francisco de Vitoria hat in dieser Situation die Idee des "ius gentium", des "Rechts der Völker", die schon im Raum stand, entwickelt, wobei in dem Wort "gentes" die Bedeutung Heiden, Nichtchristen, mitschwingt. Gemeint ist also das Recht, das der christlichen Rechtsgestalt vorausliegt und ein rechtes Miteinander aller Völker zu ordnen hat. (Fs)

34b Der zweite Bruch in der christlichen Welt vollzog sich innerhalb der Christenheil Selbst durch die Glaubensspaltung, durch die die Gemeinschaft der Christen in einander - zum Teil feindselig - gegenüberstehende Gemeinschaften aufgefächert worden ist. Wiederum ist ein dem Dogma vorausgehendes gemeinsames Recht, wenigstens ein Rechtsminimum, zu entwickeln, dessen Grundlagen nun nicht mehr im Glauben, sondern in der Natur, in der Vernunft des Menschen liegen müssen. Hugo Grotius, Samuel von Pufendorf und andere haben die Idee des Naturrechts als eines Vernunftrechts entwickelt, das über Glaubensgrenzen hinweg die Vernunft als das Organ gemeinsamer Rechtsbildung in Kraft setzt. (Fs)

35a Das Naturrecht ist - besonders in der katholischen Kirche - die Argumentationsfigur geblieben, mit der sie in den Gesprächen mit der säkularen Gesellschaft und mit anderen Glaubensgemeinschaften an die gemeinsame Vernunft appelliert und die Grundlagen für eine Verständigung über die ethischen Prinzipien des Rechts in einer säkularen pluralistischen Gesellschaft sucht. Aber dieses Instrument ist leider stumpf geworden, und ich möchte mich daher in diesem Gespräch nicht darauf stützen. Die Idee des Naturrechts setzte einen Begriff von Natur voraus, in dem Natur und Vernunft ineinander greifen, die Natur selbst vernünftig ist. Diese Sicht von Natur ist mit dem Sieg der Evolutionstheorie zu Bruche gegangen. Die Natur als solche sei nicht vernünftig, auch wenn es in ihr vernünftiges Verhalten gibt: Das ist die Diagnose, die uns von dort gestellt wird und die heute weithin unwidersprechlich scheint1. Von den verschiedenen Dimensionen des Naturbegriffs, die dem ehemaligen Naturrecht zugrunde lagen, ist so nur diejenige übrig geblieben, die Ulpian (frühes 3. Jahrhundert nach Christus) in den bekannten Satz fasste: "Ius naturae est, quod natura omnia animalia docet."2 Aber das gerade reicht für unsere Fragen nicht aus, in denen es eben nicht um das geht, was alle "animalia" betrifft, sondern um spezifisch menschliche Aufgaben, die die Vernunft des Menschen geschaffen hat und die ohne Vernunft nicht beantwortet werden können. (Fs)

36a Als letztes Element des Naturrechts, das im Tiefsten ein Vernunftrecht sein wollte, jedenfalls in der Neuzeit, sind die Menschenrechte stehen geblieben. Sie sind nicht verständlich ohne die Voraussetzung, dass der Mensch als Mensch, einfach durch seine Zugehörigkeit zur Spezies Mensch, Subjekt von Rechten ist, dass sein Sein selbst Werte und Normen in sich trägt, die zu finden, aber nicht zu erfinden sind. Vielleicht müsste heute die Lehre von den Menschenrechten um eine Lehre von den Menschenpflichten und von den Grenzen des Menschen ergänzt werden, und das könnte nun doch die Frage erneuern helfen, ob es nicht eine Vernunft der Natur und so ein Vernunftrecht für den Menschen und sein Stehen in der Welt geben könne. Ein solches Gespräch müsste heute interkulturell ausgelegt und angelegt werden. Für Christen hätte es mit der Schöpfung und dem Schöpfer zu tun. In der indischen Welt entspräche dem der Begriff des "Dharma", der inneren Gesetzlichkeit des Seins, in der chinesischen Überlieferung die Idee der Ordnungen des Himmels. (Fs)

____________________________

Home Sitemap Lonergan/Literatur Grundkurs/Philosophie Artikel/Texte Datenbank/Lektüre Links/Aktuell/Galerie Impressum/Kontakt