Autor: Navarro-Vals, Joaquin Buch: Begegnungen und Dankbarkeit Titel: Begegnungen und Dankbarkeit Stichwort: Politikverdrossenheit; Konsenskrise - Vertrauensverlust; Politik - Macht als Willkür ohne übergeordnetes Ziel Kurzinhalt: Entweder besitzt die Politik eine ihr eigene Würde und Glaubwürdigkeit, oder sie stellt sich auf eine Stufe mit den anderen individuellen Freiheiten und wird infolgedessen als unerträglicher Missbrauch wahrgenommen ... Textausschnitt: Die immer aktuelle Frage der Politikverdrossenheit
205c Unter dem Titel "Building Trust in Government" hat sich ein internationaler Kongress in Wien sehr eloquent mit einem der spürbarsten Probleme unserer historischen Epoche befasst. Die zahlreichen Vorträge der Teilnehmer haben das fehlende Vertrauen als eigentlichen Kern der Konsenskrise ausgemacht, die derzeit beinahe alle europäischen Demokratien erschüttert. (Fs)
205d Und in der Tat sind die beiden Faktoren Autorität und Vertrauen aufs Engste miteinander verbunden. Die Bürger beteiligen sich am politischen Prozess, indem sie ihre Souveränität vertrauensvoll in die Hände von Institutionen legen, die ihre Legitimität wiederum dem effektiven Willen der von ihnen vertretenen Bürger verdanken. Diese sensible Beziehung ist das eigentliche Fundament der Demokratie. Und wenn diese Beziehung beschädigt wird, treten tiefe Krisen auf, die dem, was derzeit in Italien geschieht, in vieler Hinsicht ähneln. (Fs)
206a Ein derartiger Volksaufstand ist nicht neu und vielleicht nicht einmal unbedingt schlimm, auch wenn er Anlass zum Nachdenken gibt. Denn es handelt sich um ein psychologisches Phänomen der Ratlosigkeit, das in den Handlungen und Verhaltensweisen der Völker tief verwurzelt und immer präsent ist. (Fs)
Nicht selten hat die Politik sich diese sozialen Faktoren zunutze gemacht, um neue Konsense zu schaffen oder die bestehenden zu kritisieren. So haben die Sophisten im antiken Athen die Unzufriedenheit der Bürger mit der Aristokratie als stabile Grundlage benutzt, um nicht nur neue Anhänger zu gewinnen, sondern überdies auch ihre "Schulen" zu finanzieren. (Fs)
All das ist durchaus nachvollziehbar. (Fs)
206b Andererseits wird der Diskurs natürlich komplexer, wenn man nicht über die Gesellschaften des Altertums, sondern über die der Gegenwart spricht. Das hat damit zu tun, dass die Ordnung unseres Gemeinwesens sich auf demokratische Regierungsformen stützt und diese ihrerseits auf die Tragfähigkeit der Volkssouveränität angewiesen sind - die jedoch immer manipuliert werden kann. (Fs)
Gewiss wird es durch die Komplexität unseres Lebens äußerst schwierig, sowohl über die Tag für Tag erlebten Ereignisse als auch über das angemessen informiert zu sein, was in der politischen Debatte geschieht. Das führt zu einer häufig unüberbrückbaren Distanz zwischen der politischen Klasse und den Bürgern. Diese Entkupplung von politischem und realem Leben schafft ein Klima, in dem Demagogie und Hoffnungslosigkeit bestens gedeihen. (Fs)
206c Dass dies tatsächlich geschieht, ist unverkennbar, und es ist wichtig zu verstehen, welche Motive sich wirklich hinter diesem so breiten Vertrauensverlust unter den Bürgern und den daraus folgenden undifferenzierten Protesten verbergen. (Fs)
207a Das Problem wurzelt nahezu immer in einem Verlust der Hoffnung, der letztlich alles, auch die Politik, in einen Strudel des allgemeinen Pessimismus hineinreißt. (Fs) (notabene)
Denn die Politikverdrossenheit ist nicht nur der auffälligste politische Ausdruck eines fehlenden Optimismus bei den Wählern, sondern auch ein deutliches Signal für mangelnde Ideen und wenig überzeugende Projekte aufseiten der Politik selbst. (Fs)
207b Die Demokratie stützt sich, wie Stefano Rodotà bemerkt hat, ausschließlich auf die ständige Beteiligung der Bürger am Leben der Institutionen. Doch damit dies gelingen kann, müssen die Institutionen ihrerseits den Bürger dazu motivieren, eine aktive Rolle zu spielen. Und sie müssen diese Rolle interpretieren und durch die Ausübung ihrer repräsentativen Funktion Wirklichkeit werden lassen. Wenn diese Beteiligung fehlt, ist die Demokratie unvollständig, stürzt in eine Krise und funktioniert allenfalls teilweise. (Fs)
Auf der anderen Seite war das wechselseitige Vertrauen zwischen Regierenden und Regierten, wie unter anderem der Historiker Walter Ullmann gezeigt hat, in allen Epochen untrennbar mit der Entwicklung der staatsbürgerlichen Identität verbunden. Denn die vertrauensvolle Reaktion der Bürger ist abhängig von der eigentlichen Zielsetzung und Botschaft der Politik. Und ohne eine solche werden die Menschen den Politikern nur schwerlich Glauben schenken. (Fs)
207c Max Weber hat diese Situation aus soziologischer Sicht und mit gewohnter Prägnanz erklärt, dass von der Politik zu leben etwas ganz anderes ist, als für die Politik zu leben. Nur im zweiten Fall nämlich ist die Politik von dem Bewusstsein angetrieben, "dem eigenen Dasein dadurch einen Sinn zu geben, dass man einer Sache dient". (Fs)
207d In der Tat ist es ein großer Unterschied, ob man ein Ziel verfolgt oder benutzt. Entscheidend ist, dass ein Konsens nur dann zustande kommen kann, wenn die Politiker den Eindruck erwecken, im Dienst des Gemeinwohls zu stehen. Dann wird ihre Funktion nicht nur von allen als wichtig wahrgenommen, sondern verdient wirklich Vertrauen und Respekt. (Fs)
208a Dieser Faktor zieht eine klare Trennlinie zwischen dem Besitz von Autorität und der Autorität des Amtsträgers. Denn die mit einem Amt verbundene Macht erscheint nur dann gerechtfertigt, wenn sie ein Werkzeug im Dienst einer realen, nützlichen und wichtigen Sache ist. (Fs)
208b Der Philosoph Carl Schmitt hat zu Recht erklärt, dass die Politik, wenn sie die ihr eigenen Ziele aus den Augen verliert, Gut und Böse unweigerlich mit dem Besitz oder Nichtbesitz von Macht identifiziert und damit einen Boden bereitet, auf dem Korruption und allgemeine Gleichgültigkeit gedeihen. (Fs) (notabene)
Und das ist verständlich: Entweder besitzt die Politik eine ihr eigene Würde und Glaubwürdigkeit, oder sie stellt sich auf eine Stufe mit den anderen individuellen Freiheiten und wird infolgedessen als unerträglicher Missbrauch wahrgenommen, den es um jeden Preis abzustellen gilt. (Fs) (notabene)
208c Die politikverdrossene Profanisierung, die wir heutzutage beobachten und die wir in der Vergangenheit als Begleiterscheinung zahlreicher Diktaturen kennengelernt haben, entsteht immer dort, wo die Politik jegliches idealistische und programmatische Projekt verrät und ausschließlich nach Machterwerb giert. Und ebendiese Macht will das Volk beseitigt sehen. Eine so drastische Maßnahme allerdings führt zur Entstehung einer noch größeren Macht — und bedeutet das Ende der Demokratie. (Fs) (notabene)
208d Denn wenn die Macht keinem übergeordneten Ziel mehr dient, macht sie sich selbst zur letzten Begründung allen Handelns. Und leider auch aller Zerstörung. (E)
Kommentar (25.07.11): zu oben, es könnte auch heißen: "Denn wenn die Pädagogik keinem ..." ____________________________
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