Autor: Navarro-Vals, Joaquin Buch: Begegnungen und Dankbarkeit Titel: Begegnungen und Dankbarkeit Stichwort: Voraussetzung für Dialog: minimale gemeinsame Basis einer anthropologischen "Wahrheit"; Relativismus; Minimum an objektiven Gerechtigkeitskriterien Kurzinhalt: ... wenn man diese gemeinsame Basis in der Anthropologie finden will, muss man sich letztlich dazu durchringen, eine "Wahrheit" über den Menschen auszusagen. Gerade damit aber scheint sich das moderne Denken heute schwerzutun. Gemeinsame Lösungen sind ... Textausschnitt: Freiheit und Engagement für die Wahrheit
198a Die Äußerungen des Präsidenten der Republik über eine neue Blütezeit in den Beziehungen zwischen Staat und Kirche haben in den vergangenen Monaten eine kulturelle Debatte angestoßen, die nicht nur in der italienischen Gesellschaft wieder sehr präsent ist. Natürlich will er seine Worte nicht nur auf die positive Fruchtbarkeit eines bereits bestehenden Dialogs zwischen den Institutionen, sondern auf etwas Entscheidenderes und Wichtigeres bezogen wissen: die Suche nach einer gemeinsamen Wertebasis. (Fs)
Andererseits muss man zugeben, dass die aktuelle Situation selbst mit ihren Problemen und Ambivalenzen geradezu nach solchen Bezugspunkten schreit. Und das heutige Klima scheint in vielerlei Hinsicht weniger ideologisch als in der Vergangenheit: Es gibt ein Bewusstsein dafür, dass zahlreiche Optionen aufgrund ihrer anthropologischen Tragweite nicht überhastet und kurzfristig durch eine schlichte Übereinkunft zwischen den Protagonisten ausgeübt werden dürfen. (Fs)
198b Wir kennen die Probleme, die den Menschen mit der Notwendigkeit konfrontieren, über sich selbst und das Schicksal der Gemeinschaft zu entscheiden: Krieg, Konflikte zwischen verschiedenen Kulturen, die Zunahme der Gewalt in den Städten, die Umweltproblematik, die erschreckende Begrenztheit der derzeitigen finanziellen und wirtschaftlichen Weltordnung, die neuen und alten Armutsschichten und vor allem die Themen, die die Natur und Würde des Menschen und zwischenmenschliche Beziehungen wie etwa die Institution Familie betreffen. Bei all diesen Fragen handelt es sich keineswegs nur um Forschungsobjekte für spitzfindige Soziologen, sondern um wirkliche Probleme unseres Alltagslebens, mit denen man sich auf angemessene Weise auseinandersetzen muss. (Fs)
198c Wenn wir vermeiden wollen, das die Diskussion über so grundlegende Fragen in eine Art "Holzweg" einmündet, wie der Philosoph Martin Heidegger den Weg seines Denkens beschrieb, dann dürfen wir uns nicht damit begnügen, diese Probleme gründlich zu analysieren, sondern wir müssen Antworten finden, die in rationaler Hinsicht zufriedenstellend, eindeutig und möglichst beständig sind. (Fs)
199a Und genau hier stoßen wir bereits auf die erste große Schwierigkeit. (Fs)
Der Dialog setzt zumindest eine minimale gemeinsame Basis voraus; doch wenn man diese gemeinsame Basis in der Anthropologie finden will, muss man sich letztlich dazu durchringen, eine "Wahrheit" über den Menschen auszusagen. Gerade damit aber scheint sich das moderne Denken heute schwerzutun. Gemeinsame Lösungen sind offenbar nur dann akzeptabel, wenn sie auf befristeten Verträgen beruhen, die individuelle Entscheidungen für eine begrenzte Zeit festschreiben. Das Sprechen vom Gemeinwohl dagegen beschwört einen absolutistischen Wahrheitsbegriff herauf, den man mit dem Pluralismus unserer Gesellschaften für unvereinbar hält. (Fs) (notabene)
199b Wir sollten uns allerdings fragen, ob das wirklich so ist. Und ob wir unseren Dialog auf eine so unsichere Ausgangsbasis stellen können. (Fs)
Die erste Beobachtung, die wir machen müssen, ist anthropologischer Natur. Wenn wir nämlich vom Menschen sprechen, dann sprechen wir von uns, von dieser unserer existentiellen Seinsweise, die ein "Geheimnis" ist, wie der französische Philosoph Gabriel Marcel es gerne genannt hat. Und der Blick auf das klassische Denken lehrt uns, dass die großen Philosophen nie aufgehört haben, über dieses "Geheimnis des Menschen" nachzudenken — und dass sie es nie losgelöst von der "Wahrheit" betrachtet haben. (Fs)
199c Diese beiden Aspekte sind so eng miteinander verwoben, dass ein Philosoph wie Platon es der geheimnisvollen Sprache der Dichter überlassen hat, die großen menschlichen Leidenschaften zu beschreiben. Auf der anderen Seite nehmen "Geheimnis" und "Wahrheit" auch in der modernen Sichtweise, von der wir zu Beginn ausgegangen sind und die sich ganz auf die individuelle Freiheit konzentriert, eine zentrale anthropologische Stellung ein. (Fs)
199d Ich glaube, genau das ist der entscheidende Punkt, denn gerade der Relativismus verurteilt jede mögliche Suche nach einer gemeinsamen Wertebasis zum sicheren Scheitern. Und in dieser Hinsicht halten gerade die Überlegungen der Philosophen bei näherem Hinsehen einige unerwartete Überraschungen bereit. Zum Beispiel begnügt sich ein echter Vater der Moderne wie Tocqueville in seiner Beschreibung der liberalen amerikanischen Gesellschaft nicht damit, nur deren unverzichtbare individualistische Grundlage anzuerkennen, sondern würdigt auch die positiven Folgen und die ganz konkreten Verpflichtungen, die sich daraus ergeben. Die persönliche Freiheit nämlich ist eine ethische Voraussetzung, die den Einzelnen entschieden dazu verpflichtet und auffordert, sich für seine eigene Wahrheit zu engagieren — und besteht eben nicht nur in der Unabhängigkeit des Einzelnen von jedem Wert, jeder Bedingtheit oder jeder Verantwortung. (Fs)
200a Persönliche Freiheit ist also der erste, echte und eigentliche Pfeiler einer in sich stimmigen Sicht des Menschseins und der Gesellschaft — und kein isolierter und ausschließlicher Wert, der den Einzelnen davon entbinden könnte, sich effektiv zu engagieren. Freiheit setzt immer voraus, dass das Individuum sich aktiv auf ein gemeinsames Ziel ausrichtet und Kurs auf den Hafen hält, den die gesamte Menschheit ansteuert. Dieses Ziel ist wie ein Kompass, der den verschiedenen Lebenswegen die Richtung weist. (Fs)
Natürlich werden die persönlichen Rechte mit Füßen getreten, wenn es an individueller Freiheit fehlt, doch auch ohne ein klares Ziel verliert der Einzelne die Richtung und letztlich sich selbst. Der Wert der Familie beispielsweise beruht genau auf dieser engen Verbindung zwischen menschlicher Freiheit und menschlicher Wahrheit. (Fs)
200b John Rawls, ebenfalls ein von der Tradition des amerikanischen Liberalismus geprägter Philosoph, scheint dies alles ganz ähnlich zu sehen, denn auch sein Entwurf einer lebenswerten und auf Gleichheit basierenden Gesellschaft kommt nicht ohne ein Minimum an objektiven Gerechtigkeitskriterien aus. (Fs)
200c Das liegt daran, dass der Mensch seine Freiheit nicht einfach "bewahren" kann, sondern sie immerzu und ständig "gebrauchen", ja, was die Vielzahl der nicht gewählten Möglichkeiten betrifft, geradezu "verschwenden" muss. Denn das ist die Eigenart des Menschen: Jedes Mal, wenn er zu etwas oder jemandem ja sagt, sagt er damit gleichzeitig nein zu der unendlichen Menge der ebenfalls bestehenden anderen Optionen. Eine menschliche Entscheidung beinhaltet immer die rationale und freie Auswahl dessen, wofür man sich entscheidet, und den Ausschluss alles Übrigen. Die Alternative sind Unverbindlichkeit und Selbstverschwendung, und diese beiden bringen nicht nur Unbeständigkeit, sondern auch Einsamkeit, Angst und Verzweiflung hervor. (Fs)
201a Fraglos sind wir in unserem Leben zu präzisen Entscheidungen aufgerufen, wenngleich die Momente, bei denen es um eine "dauerhafte" und "endgültige" Wahl geht, glücklicherweise nicht sehr zahlreich sind. Doch es ist gut, vorbereitet zu sein, denn auch solche Situationen kommen unweigerlich auf uns zu: eine berufliche Chance, eine familiäre Verpflichtung, ein Engagement, zu dem wir uns entschließen, oder sogar der Entschluss, uns eben nicht zu engagieren. (Fs)
In schwierigen Lebenslagen wird uns bewusst, dass wir einen nur geringen Beliebigkeitsspielraum haben, an dem sich die Zerbrechlichkeit unserer Freiheit, aber auch unsere persönliche Beziehung zur Wahrheit misst. Denn im Extremfall, das spüren wir, scheitern alle mit uns, wenn wir einen Fehler machen. Und genauso bleibt auch im Falle eines Erfolgs das persönliche Resultat einer "heroischen" Entscheidung niemals unsere Privatsache. (Fs)
201b Der Tod eines Freundes half Augustinus von Hippo, zu sich selbst zu finden. Und wir wissen, dass er durch die Erfahrung dieses furchtbaren Kummers letztlich über sich selbst hinaus zur transzendenten Wahrheit seines Lebens fand. (E) ____________________________
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