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Autor: Navarro-Vals, Joaquin

Buch: Begegnungen und Dankbarkeit

Titel: Begegnungen und Dankbarkeit

Stichwort: Angst, Kriminalität; Soziologie (Fremdheitsgefühl: U-Bahn); Wechselwirkung: Gewalt - Misstrauen; Therapie: zivile Gewissenbisldung einer Gesellschaft (Würde d. Menschen; anspruchsvolle Ethik)

Kurzinhalt: Die Lebenspraxis einer freien und friedlichen Gesellschaft kann sich nur auf eine Ethik stützen, die die Schizophrenie widersprüchlicher Lebensweisen meidet und stattdessen ... ein in sich stimmiges Menschenbild vertritt.

Textausschnitt: Das Bedürfnis nach Sicherheit und die Angst vor dem anderen

178c In den vergangenen Jahren ist angesichts des Phänomens der Kleinkriminalität die große Frage der Sicherheit wieder stärker in den Blickpunkt gerückt. Die Besorgnis richtet sich nicht auf eine zufällige Häufung oder einen Einzelfall und vermutlich auch nicht auf eine vorübergehende Mode oder Tendenz, sondern auf ein tiefer wurzelndes Problem, auf das wir durch einige konkrete und erschütternde Meldungen aufmerksam geworden sind. (Fs)

178d Die zyklische Wiederkehr kollektiver Ängste ist in unseren Gesellschaften eine greifbare Tatsache, die gut veranschaulicht, was Giambattista Vico mit "historischen Läufen und Rückläufen" meint oder was man früher einmal als das "kollektive Imaginäre" bezeichnet hat. Andererseits empfinden die Menschen ihre eigene physische Unversehrtheit auch deshalb als das kostbarste Gut, weil die Selbsterhaltung ein urtümlicher Trieb und allen politischen Zielsetzungen vorgeordnet ist. (Fs)

179a Wenn man die Ergebnisse einer Censis-Umfrage aus dem Jahr 2000 mit den Resultaten einer analogen Erhebung vergleicht, die drei Jahre früher durchgeführt wurde, wird deutlich, dass unter den Problemen, von denen die Italiener sich direkt betroffen fühlen, die Kleinkriminalität in diesen drei Jahren signifikant nach vorne gerückt ist: vom vierten (24,8 Prozent) auf den ersten Platz (37,1 Prozent). (Fs)

Diese Tendenz wird sich vermutlich angesichts der wachsenden Terrorismusbedrohung und dem Aufkommen neuer sozialer Phänomene in letzter Zeit eher noch verstärkt haben. (Fs)

Deshalb kann man sagen, dass es sich bei diesen neuen Ängsten und neuen Befürchtungen, die durch die Gefährlichkeit unserer Städte ausgelöst werden, nicht um einen bloß vorübergehenden Eindruck, sondern um etwas Tieferes und Dauerhafteres handelt. (Fs)

179b Bei dem Gedanken an die Orte, die uns als zunehmend "unsicher" erscheinen, kam mir eine Überlegung in den Sinn, die Marc Augé vor einiger Zeit zu dem Fremdheitsgefühl angestellt hat, das Reisende in einem U-Bahn-Waggon überkommt. Nach Ansicht des französischen Anthropologen leben wir in einer "Gemeinschaft von Fremden", in der es immer schwieriger wird, nicht nur zu begreifen, was mein Nebenmann denkt und welche Werte er mit mir gemeinsam hat, sondern auch, woher er kommt und wer er wirklich ist. (Fs)

Die Tatsache, dass die Debatte über die Sicherheit heute wieder im Mittelpunkt des Interesses steht, hat vielleicht auch damit zu tun, dass es uns schwerfällt, wirklich von Grund auf zu verstehen, was diese gefühlte Unsicherheit eigentlich ausmacht: das heißt, ob sie unsere Wahrnehmung der Wirklichkeit betrifft oder ob sie in einer multikulturellen und multiethnischen Welt wie der unseren schlicht unvermeidbar ist. (Fs)

179c Denn wenn zutrifft, was der französische Soziologe Alain Touraine schreibt — und das tut es zweifelsohne —, dass nämlich "die durch die zunehmende Unsicherheit in den Metropolen bedingte Besorgnis im Kontext jener von uns vielleicht vorschnell, aber nicht ganz zu Unrecht sogenannten Massenzivilisation Beklemmungen, Ängste und sogar das Bewusstsein einer Bedrohung hervorgebracht hat", dann trifft auch zu, dass diese Wahrnehmung nicht nur von einem vagen Negativgefühl, sondern von einer echten Situation erlebten Unbehagens herrührt. (Fs)

180a Überdies gründet sich die politische Sichtweise des Westens zu einem nicht unwesentlichen Teil auf die Angst vor einer bevorstehenden Katastrophe. Oder auf den weitaus greifbareren Argwohn der einen gegenüber den anderen. Und das ist eine Sichtweise, die durch das moderne Denken auch zu uns gelangt. (Fs)

Gemeinsam — und in den verschiedensten Situationen nachweisbar — ist dieser Unsicherheit immer ein gewisser angeborener Pessimismus im Hinblick auf den Menschen: ein katastrophales Misstrauen, das uns zumindest bis zum Erweis des Gegenteils schlecht von unserem Nebenmenschen denken lässt. Und von uns selbst. (Fs)

180b Bezeichnenderweise ist die Gewalt ebenfalls eine negative Reaktion auf die Gegenwart des anderen, die auf einer pessimistischen Sicht der menschlichen Beziehungen und einer daraus erwachsenden Resignation beruht. Dieselbe Denkweise, die uns mit einem übermäßigen Misstrauen gegenüber anderen erfüllt, ist also auch dafür verantwortlich, dass eine Gesellschaft die Gewalt zur systematischen Unterdrückung oder als Mittel legitimiert, jedermanns private Probleme zu lösen. (Fs) (notabene)

Deshalb finden beide, Gewalt und Angst, Heilung in einer optimistischen und anspruchsvollen Ethik, die dort entstehen und wachsen kann, wo alle sich leidenschaftlich und beharrlich an einer Erziehung zum Guten beteiligen. Letztlich liegt das Problem in der zivilen Gewissensbildung einer Gesellschaft und nicht in einer unmittelbaren Reaktion auf eine gerade aktuelle Notsituation. (Fs) (notabene)

180c Wenn eine Gesellschaft Tag für Tag stereotype Verhaltensweisen an den Tag legt, die die Gewalt sogar als gültige Form der zwischenmenschlichen Kommunikation und Beziehung legitimieren, kann sie nicht erwarten, dass solche illegalen Verhaltensweisen nicht von den Einzelnen übernommen werden. Und dass all das keine Furcht und Unsicherheit generiert. (Fs) (notabene)

181a Die Lebenspraxis einer freien und friedlichen Gesellschaft kann sich nur auf eine Ethik stützen, die die Schizophrenie widersprüchlicher Lebensweisen meidet und stattdessen - angefangen bei den allgemeinsten Grundannahmen bis hin zu den letzten Konsequenzen und den einzelnen Entscheidungen jeder Person - ein in sich stimmiges Menschenbild vertritt. (Fs) (notabene)

181b Es geht nicht darum, Rezepte für alle Lebenslagen bereitzuhalten, und es geht auch nicht darum, Patentlösungen anzubieten. Es geht lediglich darum, gründlich über die wesentlichen Werte unseres Menschseins nachzudenken, weil sonst ein Glaubwürdigkeitsverlust droht. Und uns nichts anderes bleibt, als mit Repressalien, Gewalttätigkeit und unkontrollierbaren Ängsten zu leben. (E)

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