Autor: Thomas, Aquin von Buch: Über Seiendes und Wesenheit Titel: Über Seiendes und Wesenheit Stichwort: Gliederung, Kapitel 2; Wesen, Wesenheit; Problem des Allgemeinen; Materie, Individuationsprinzip, materia signata; Individuum - Art - Gattung (nicht wie ein Teil zum Ganzen) Kurzinhalt: Gattung, Artunterschied und Art verhalten sich also zu Materie, Form und Zusammengesetztem nur analog, nicht identisch, da sie jeweils das ganze Ding (wenn auch nach verschiedenen Seiten hin) bezeichnen. Textausschnitt: Kapitel II untersucht dann, [11] - [15], wie die Wesenheit in den aus Form und Materie zusammengesetzten Substanzen vorliegt, und legt dar, daß bei ihnen die Wesenheit ebenfalls zusammengesetzt sein, d.h. Form und Materie umfassen muß. (XI; Fs)
[16] Dafür spricht auch dies Argument, daß das Sein der zusammengesetzten Substanz nicht nur zur Form, auch nicht nur zur Materie, sondern zum zusammengesetzten, ganzen Seienden gehört. Die Wesenheit ist aber das Seinsprinzip, wodurch das Seiende ist. Also muß sie nach beiden, Form und Materie, bezeichnet werden, wenn auch nur die Form die Seinsursache ist (die dem Ding 'das Sein gibt'). (XI; Fs)
[17] Erläuterndes Beispiel aus der Physik, wo Körper mit bestimmten Eigenschaften (z. B. Geschmack) nicht nur nach dem einen hauptsächlichen der konstitutiven Bestandteile bezeichnet werden, sondern nach der Zusammensetzung aus beiden. (XIf; Fs)
[18] Im folgenden werden verschiedene Bedeutungen der Wesenheit herausgestellt. Die Tatsache, daß die Wesenheit auch die Materie des Einzeldinges umfaßt, führt zunächst zu dem Problem der Allgemeinheit der Wesenheit (weil sie ebenso wie das Einzelding aus Form und Materie zusammengesetzt ist und mit ihm identisch zu sein scheint). Wenn die Materie Individuationsprinzip ist, dann kann scheinbar die Wesenheit nicht allgemein sein, und es vom Allgemeinen, der Art (Species), keine Definition geben, da Objekt der Definition die Wesenheit ist. (XII; Fs)
[19] Das Problem wird dann durch folgende Unterscheidungen aufgelöst: Die Materie hat zwei Bedeutungen:
- als individuelle, durch die drei Dimensionen quantitativ bestimmte, (hier und jetzt) 'anzeigbare' Materie, und
- als 'nicht anzeigbare' Materie desselben Dinges qua Art (Species). (XII; Fs)
Dementsprechend hat die Wesenheit ebenfalls zwei Bedeutungen:
- als Wesenheit des individuellen Dinges und
- als Wesenheit von dessen Art (Species). (XII; Fs)
(Definierbar ist die Wesenheit eines Dinges nicht qua Individuums, sondern der Art nach.) Da nun nur die 'anzeigbare' Materie Individuationsprinzip ist, kann es durchaus eine Wesensdefinition der allgemeinen Art (Species) geben. (XII; Fs)
[20] Individuum und Art, wie auch die ihnen entsprechende Wesenheit, nach den beiden Bedeutungen, unterscheiden sich gerade durch die anzeigbare und nicht anzeigbare Materie. (XII; Fs)
[21] Wie zwischen Individuum und Art, so besteht auch analogerweise wieder zwischen Art und Gattung ein Verhältnis des Anzeigbaren und Nicht-Anzeigbaren. Doch erfolgt die Anzeigbarkeit hier und dort auf verschiedene Weise. (XIIf; Fs)
[22] Dabei verhält sich die Art zum Individuum nicht wie ein Teil zum Ganzen, als ob sie die prägenden (individuierenden) Merkmale ausschlöße. Vielmehr ist die Art das ganze Ding und schließt die prägenden Merkmale des Individuums schon unbestimmterweise ein. Ebenso ist auch die Gattung nicht Teil der Art, sondern steht wie diese für das ganze Ding und enthält unbestimmterweise die prägenden (spezifizierenden) Merkmale der Art. (XIII; Fs)
[23] - [26] Erläutert wird dies durch das Beispiel mit den zwei Bedeutungen, die der Begriff 'Körper' haben kann, [24] der an sich eine Substanz mit drei Dimensionen bezeichnet (die hier gleichsam als substantielle Form fungieren). [25] Diese Substanz schließt nun in einer Bedeutung jede weitere Formvollendung aus und ist dann ein Teil des Lebewesens. [26] In einer anderen Bedeutung jedoch schließt es [sic; er??] weitere Formen, nämlich des Lebens u.ä.m., ein und steht dann für das ganze Lebewesen, als Gattung. (XIII; Fs)
[27] Allgemein gesprochen, verhält sich die Gattung eines Dinges zu dessen Art (z.B. Lebewesen zu Mensch) nicht wie ein Teil zum ganzen Ding, sondern wieder wie das ganze Ding, das gegenüber der Art noch ungeprägt ist, aber die weitere spezifische Prägung und Formvollendung unbestimmterweise einschließt. (XIII; Fs)
[28] Näher gesehen, bedeutet zwar die Gattung das ganze Ding, jedoch mehr nach seiner materiellen Seite hin, wenn sie auch nicht mit der Materie identisch ist. (XIII; Fs) (notabene)
[29] Ebenso bedeutet der Artunterschied das ganze Ding, aber mehr nach der Seite der Form hin, ohne wiederum mit dieser identisch zu sein. Und die Art (Species) bezeichnet ein Ding gleicherweise mit den beiden Ursachen, Materie und Form (ohne mit ihnen identisch zu sein). (XIII; Fs) (notabene)
[30] Gattung, Artunterschied und Art verhalten sich also zu Materie, Form und Zusammengesetztem nur analog, nicht identisch, da sie jeweils das ganze Ding (wenn auch nach verschiedenen Seiten hin) bezeichnen. (XIII; Fs)
[31] In gewissem Sinne ist zwar die Wesensdefinition aus den definitorischen Begriffen (Gattung und Unterschied) 'zusammengesetzt', aber nicht wie aus Teilen. (XIII; Fs)
[32] Daraus folgt nicht, daß die Gattung verschiedener Arten eine numerische (individuelle) Einheit hätte; denn ihre Einheit, in welcher sie ein ganzes Ding vorstellt, rührt nur von jener Unbestimmtheit (Ungeprägtheit) gegenüber den Arten her. (XIIIf; Fs)
[33] Dadurch daß die Gattung die besondere Prägung der Art unbestimmt einschließt, und die Art die besondere Prägung des Individuums, kann auch die Wesenheit der Art so betrachtet werden, daß sie das besondere Gepräge des Individuums unbestimmt einschließt. Dieses kann aber auch von ihrer Betrachtung ausgeschlossen werden. Je nachdem ergeben sich zwei Bedeutungen der Wesenheit (wie oben erwähnt). (XIV; Fs)
1) als Wesenheit der Art eines Dinges, wonach sie für das Ding als ganzes steht und das Individuelle, auch die individuelle, 'anzeigbare' Materie, unbestimmt einschließt, und
2) [34] als Wesenheit des individuellen Dinges, die nur einen Teil desselben ausmacht, weil sie das Individuelle, wie auch die 'anzeigbare' Materie (als nicht zur Wesenheit gehörig) ausschließt. (Im Ding gibt es neben dem Wesentlichen, Notwendigen, auch Nicht-Wesentliches, Kontingentes, Akzidentelles.) (XIV; Fs)
[35] Der Begriff, der die Wesenheit als Teil des individuellen Dinges bezeichnet, kann von diesem nicht ausgesagt werden, da der Teil vom Ganzen nicht aussagbar ist. (XIV; Fs)
[36] Bezeichnet wird die Wesenheit 'als Ganzes' durch den Artbegriff (z.B. homo), dagegen 'als Teil' durch den Wesensbegriff der Art (humanitas), zu dem dann der Wesensbegriff der Gattung (animalitas) und des Unterschiedes (rationalitas) gehört. (XIV; Fs)
[37] Zusammenfassend gesehen, entsprechen den zwei verschiedenen Bezeichnungen der Wesenheit, durch den Artbegriff (z. B. homo) und den Wesensbegriff der Art (humanitas), die zwei (o. gen.) verschiedenen Bedeutungen der Wesenheit, sofern sie einmal als ganzes Ding und zum andern als Teil desselben betrachtet werden kann. Während die Wesenheit nach dem Artbegriff (homo) vom ganzen individuellen Ding (Sokrates) ausgesagt werden kann, ist dies nach dem Wesensbegriff der Art (humanitas) nicht mehr möglich. (XIV; Fs) ____________________________
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