Autor: Biffi, Giacomo Buch: Sehnsucht nach dem Heil Titel: Sehnsucht nach dem Heil Stichwort: Christliche Kultur; Grundbedeutungen; Begriffswandel: Kultivierung des Menschen -> Interpretation d. Wirklichkeit Kurzinhalt: Gibt es eine "christliche Kultur"? Ist sie möglich und notwendig?; Beinahe unmerklich geht man dann dazu über, unter "Kultur" nicht nur die Tätigkeit der "Kultivierung des Menschen", sondern auch ihr Ergebnis zu verstehen ... Textausschnitt: II. FÜR EINE "CHRISTLICHE KULTUR"
Vorbemerkungen
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1. Es scheint mir angezeigt, daß wir dieses Thema anschneiden, für das die Christen seit einigen Jahren lebhaftes Interesse zeigen. Meine Reflexion soll eine klare pastorale Ausrichtung haben. Sie wendet sich in erster Linie an die Gläubigen und will unser kirchliches Leben erleuchten und stärken. Sie kann aber auch bei denjenigen Interesse wecken, die davon überzeugt sind, daß die exakte Bestimmung der Begriffe unerläßliche Bedingung für einen fruchtbaren Dialog unter freien, aufrechten, denkenden Menschen mit unterschiedlichen Idealen ist. (Fs)
280a
2. Der ausdrücklich pastorale Charakter der Reflexion läßt es geraten scheinen, daß ich mich auf die in gewissem Sinn vorläufige, aber für die möglichen Implikationen entscheidende Frage beschränke: Gibt es eine "christliche Kultur"? Ist sie möglich und notwendig? Viele Gläubige vermeiden es, von christlicher Kultur zu sprechen in der lobenswerten Absicht, meine ich, die sich zum Evangelium bekennenden Literaten, Philosophen, Künstler, Musiker und allgemein die Freischaffenden nicht in Verlegenheit zu bringen, daß sie sich von der vielfarbigen Komplexität der modernen Kulturwelt ausgrenzen und in das kirchliche und konfessionelle Abseits flüchten. Also spricht man bestenfalls von einer "Kultur der Christen". Dagegen mahnt Johannes Paul II. wiederholt, "es nicht an einer starken, ernsthaften und wirksamen kulturellen Präsenz der Katholiken fehlen zu lassen". "Die katholische Kultur - sagt er - darf nicht fehlen" (1). (Fs)
Und das ist nicht nur und ausschließlich ein Gedanke des polnischen Papstes. Paul VI. war derselben Meinung, denn er verwandte "ohne Umschweife - wie Enzo Giammancheri in einer ausführlichen Abhandlung hervorhebt - den Ausdruck 'christliche Kultur', ja 'katholische Kultur', wobei er nachdrücklich betonte, daß es sich um 'unsere' Kultur handelt, die sich von den anderen unterscheidet und Denken und Handeln der Gläubigen unverkennbar zum Ausdruck bringt. Er hegte darüber keine Zweifel" (2). (Fs)
3. Mir scheint, daß es sich nicht um reine Wortklauberei handelt. In diesem Fall ist es wahrscheinlich ein sicheres Zeichen für die gegensätzliche Sicht vom Wesen der Dinge. Dieses Problem erfordert also eine ernsthafte Prüfung. (Fs)
Feststeht, daß auch hier ohne exakte Bestimmung der Begriffe und Termini unweigerlich Beiläufigkeit, Mißverständnis und Mehrdeutigkeit herrschen. (Fs)
280b Diese Überlegungen hier sollen ein wenig zur Klärung beitragen in der Überzeugung, daß Klarheit und Unterscheidung der Ideen die unumgängliche Voraussetzung zu jeder wünschenswerten Eintracht und wachsenden Lebenskraft sind und daß, wenn man unbedingt unter Christen diskutieren und streiten will, das Streitobjekt zumindest von allen gleicherweise verstanden werden sollte. (Fs)
I. Die Grundbedeutungen von "Kultur"
281a Kultur ist heute ein vielbenutztes, geradezu mythisches Wort, wie es in früheren Zeiten das Wort "Fortschritt" war. Es ist in aller Munde und wird hoch gehandelt, und alle meinen damit einen "Wert". Aber welchen Wert, das sagt kaum jemand. Ja, die Vokabel drückt je nach dem unterschiedlichen Zusammenhang und Gebrauch ganz verschiedene Inhalte aus. Manchmal wechselt ihre Bedeutung sogar in ein und derselben Rede, auf derselben Seite, in demselben Satz. Meist merkt man die semantische Schwankung überhaupt nicht, so daß das Ergebnis ein ganz schönes Durcheinander ist. (Fs)
Der geschichtliche Hintergrund dieser unkontrollierten und fast unbewußten Pluralität ist die Tatsache, daß das Wort im Lauf einiger Jahrhunderte einen Bedeutungswandel erfahren hat, ohne daß die bereits bekannten Bedeutungen aus dem allgemeinen Bewußtsein verschwunden sind. Mittlerweise sind die Definitionen von "Kultur" nicht mehr zu zählen, jede hat ihre Besonderheit und einen eigenen Akzent. Zum Glück ist es hier nicht unsere Aufgabe, sie alle aufzuzählen. Wir beschränken uns darauf, nur die wichtigsten Grundbegriffe herauszustellen, die ausreichen, um ein wenig Ordnung und Klarheit zu schaffen, damit keine Mißverständnisse entstehen. Für uns hier scheinen zumindest drei grundlegende Bedeutungen von "Kultur" nützlich; diese weitgehend diskutable Unterscheidung scheint uns für die gewünschte Klarstellung zweckmäßig. Diese drei Begriffe werden im ersten Teil unserer Reflexion behandelt (3). (Fs)
1. Die "Kultivierung des Menschen"
a) Die erste Bedeutung oder, wenn man will, die erste Reihe von Bedeutungen ist bäuerlichen Ursprungs und wird gewandelt, um einen geistigen Vorgang auszudrücken: Kultur ist die "Kultur des menschlichen Innenlebens" (4). (Fs)
281b In der antiken Welt, wo diese Idee entsteht und sich verbreitet, ist man auch allgemein davon überzeugt, daß diese Pflege mit Hilfe von "absoluten Werten" verwirklicht werden kann und muß: Pflege des Menschen mit Hilfe des Wahren, des Guten, des Gerechten und des Schönen. Nur die Wahrheit, die Güte, die Gerechtigkeit und die Schönheit können den Menschen kräftigen, ihm helfen, sich zu entwickeln und alle Tugenden zu entfalten. (Fs)
282a Diese Pflege umfaßt auch die "paideia", das heißt die ganzheitliche Bildung des Menschen in seinem ersten Lebensalter, endet aber damit nicht, sondern setzt sich das ganze Leben lang fort. Sie schließt nicht aus, ja setzt eigentlich die Möglichkeit voraus, daß der Mensch für diese Pflege der Selbstbildung sorgt (5). (Fs)
b) Beinahe unmerklich geht man dann dazu über, unter "Kultur" nicht nur die Tätigkeit der "Kultivierung des Menschen", sondern auch ihr Ergebnis zu verstehen. Das Wort bezeichnete also forthin das erworbene geistige Gut, mit dem eine Person ausgerüstet war. Dem klassischen Bild entsprechend verstand man unter diesem Gut die erworbenen Werte des Intellekts, der Moral und Ästhetik, mit denen der Geist durch die "Kultivierung" bereichert worden war (6). (Fs)
Bis zur Mitte des 18. Jahrhunderts sind keine anderen Inhalte der Vokabel bekannt. Sie bezieht sich, wie man sieht, bis dahin immer auf das persönliche Leben des Einzelnen. (Fs)
c) Mit der ideellen Verherrlichung des Volkes und der Nation bekommt das Wort "Kultur" sozusagen eine "soziale" Dimension. Man beginnt von der Kultur eines Landes, eines Volkes, einer menschlichen Gemeinschaft zu sprechen. (Fs)
In diesem Sinn wird die Kultur einer Gesellschaft nach den "sozialen" Kultivierungsmitteln des Menschen und den "sozialen" Ergebnissen gemessen; das heißt, vor allem nach seinen Schulen, seinen Forschungseinrichtungen, seinen Kommunikations- und Verbreitungsmitteln der Ideen; dann nach seinen literarischen, künstlerischen und musikalischen Erzeugnissen und weitgehend und tieferreichend nach dem "sozialen" Besitz der "Werte" der Wahrheit, Gerechtigkeit und Schönheit (7). (Fs)
2. Der "Begriffswandel durch den Menschen"
Von der zweiten Hälfte des vergangenen 19. Jahrhunderts an vollzieht sich durch die Fachausdrücke der anthropologischen und ethnologischen Wissenschaften eine entscheidender Bedeutungswandel von "Kultur". (Fs)
282b Der Mensch gehört noch dazu als Grundelement des Begriffs, aber nicht mehr als Empfänger und als Ziel einer Tätigkeit, sondern als Subjekt und Ausgangspunkt. Die objektiven absoluten Werte, die in der antiken Bedeutung immer eingeschlossen waren, verlieren an Gewicht und werden schließlich ausgeschieden: Es genügt der menschliche Ursprung, um mit der so verstandenen "Kultur" in Zusammenhang zu stehen. (Fs) (notabene)
283a Das Wort bezeichnet allmählich alles, was durch die soziale Tätigkeit einer Gruppe oder eines Volkes entstanden und sein eigener kollektiver Besitz geworden ist. (Fs)
So zeigt sich der Gegensatz zwischen "Kultur" und "Natur". "Natur" wird von dem gegeben, wovon man ausgeht und was dem Eingreifen des Menschen zuvorkommt; "Kultur" ist die "Humanisierung", die das Gegebene verändert. (Fs)
"Kultur" einer menschlichen Gruppe ist die Gesamtheit der Bildung und Verhaltensweisen in allen Bereichen, das sie als gemeinsames Gut besitzt. (Fs)
Der objektive "Wert" des Produkts ist nebensächlich: Die Hütten, die Jagd Werkzeuge, die Sitten und Bräuche, die Märchen der Pygmäen sind mit demselben Recht ihre "Kultur", wie es der Parthenon, die Statue von Phidias, die Werke von Platon in der "Kultur" der Athener in der Antike waren. (Fs)
Dann wird es verständlich, daß das Wort in der Mehrzahl gebraucht wird: Man kann von ebenso vielen "Kulturen" sprechen, wie es charakteristische und erkennbare Menschengruppen gibt (8). (Fs)
3. Die "Werteskala"
Seit über einem halben Jahrhundert taucht eine ganz andere Bedeutung auf. Nachdem der soziokulturelle Relativismus, der den "ethnologischen" Wortinhalt bezeichnet, überholt war, wird die "Kultur" ganz einfach als Interpretation der Wirklichkeit und als Verhaltensprinzip verwendet. (Fs)
"Kultur" bezeichnet somit ein kollektives Wertsystem von Ideen, Taten, Ereignissen und folglich auch eine Gesamtheit von "Lebensmodellen", die gesellschaftlich ausgewählt oder zumindest gesellschaftlich akzeptiert werden. Eine so verstandene "Kultur" bringt also eine "Werteskala" mit sich, die innerhalb einer bestimmten Gemeinschaft angeboten und angenommen wird. Und weil diese "Skala" oftmals frei und sogar willkürlich festgelegt wird, gibt es in unserer Gesellschaft viele und unterschiedliche "Kulturen", von denen jede einzelne an den Werten zu erkennen ist, die sie für vorrangig hält. (Fs)
283b Hier ist es angebracht, auf die Wurzel einer schweren und häufigen Untat hin zuweisen. Wenn man die "Kultur" mit ihrer Wertehierarchie identifiziert, gerät man leicht in Versuchung, denjenigen, der sich ihr nicht anpassen will, als ungebildet, primitiv, unkultiviert zu bezeichnen. So verbreitet sich die zweifelhafte Verwendung des Wortes "Kultur" und die unterschwellige Wiederaufnahme ihrer klassischen Bedeutung, aber als Verurteilung, Disqualifizierung oder sogar Beleidigung. (Fs)
284a In gleicher Weise kann es oft geschehen, daß jemand verächtlich als "Dogmatiker" oder "Integralist" bezeichnet wird, weil er eine seinen Grundsätzen entsprechende Haltung einnimmt, wenn diese Grundsätze verschieden sind von denen, aufgrund derer der andere sich anmaßt zu verurteilen. Tatsächlich ist geschichtlich nachweisbar, daß die jeweils vorherrschenden Kulturen durch Annahme und Ablehnung von "Primärwerten", die ohne jede Beweisführung jeweils akzeptiert und ebenso widerspruchslos wieder abglegt werden, aufeinanderfolgen. So konnte man auf der italienischen Bühne des 20. Jahrhunderts nach und nach die Überhandnahme einer positivistischen Kultur, einer idealistischen Kultur, einer marxistischen und radikalistischen Kultur bewundern. Alle ihre Anhänger vertraten die Überzeugung, sehr "kritisch" zu sein unter gleichzeitiger Beteuerung von "anfänglichen Sicherheiten", die für unbestreitbar gehalten und als Glaubensdogmen vorgelegt wurden, als könnten sie von irgendeiner göttlichen Offenbarung abgleitet werden, von der wir Unerfahrenen nie etwas gehört haben. (Fs) ____________________________
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