Datenbank/Lektüre


Autor: Biffi, Giacomo

Buch: Sehnsucht nach dem Heil

Titel: Sehnsucht nach dem Heil

Stichwort: Christliche Moral (allgemein) - Vernunft; Dostojewskij (Brüder Karamasow) Gottesfrage; Gott als Herr über Gut und Böse - der Mensch als "Maß aller Dinge"

Kurzinhalt: Wenn Gott nicht existiert, öffnet sich im Dasein ein Abgrund, der alles unrettbar verschlingt und zunichte macht: alles, auch die Prinzipien, die Ideale... die Selbstlosigkeit, die Werte... Wenn dagegen Gott existiert, kann nur er über Gut und Böse ...

Textausschnitt: ANSATZ ZUR CHRISTLICHEN MORAL

Vorbemerkung

Ein aktuelles Thema

242a Die moralische Frage ist immer aktuell und von großer Bedeutung. Aber heute ist sie in unserem Bewußtsein ganz besonders lebendig, wie es sich auch während der jüngsten Ereignisse im öffentlichen Leben und in den daraus folgenden allgemeinen emotionalen Reaktionen gezeigt hat. Zumindest hinsichtlich unseres Gebarens sind wir ein Volk von Moralaposteln
Johannes Paul II. hat gleichsam als Antwort auf diese wiedererwachte Frage die Morallehre der Kirche in der Enzyklika Veritatis splendor neu dargelegt: Das außerordentliche Echo, das sie in der ganzen Welt gefunden hat, beweist, wie stark das Bedürfnis ist, in diesem Bereich feste Bezugspunkte zu haben. (Fs)

242b Es ist deshalb verständlich, daß auch ich mich veranlaßt sehe, gerade diese Problematik zum Thema einer Reflexion zu machen. Im Gegensatz zum päpstlichen Dokument - das menschlich und kulturell sehr reichhaltig, aber nicht leicht zu kommentieren ist - ziehe ich es vor, die Grundzüge der traditionellen Ethik einfach systematisch darzustellen. Wer sie annimmt, ist eher in der Lage - so hoffe ich -, den eigentlichen Gehalt der Lehre des Papstes zu erfassen. (Fs)

Wie das moralische Problem entsteht

243a Wie soll man sich verhalten? Welches Tun ist recht, und welches Tun ist unrecht? Welche Handlungen sind unbedingt zu vermeiden, was kann und was muß man tun?
Das ist das moralische Problem, das im Menschen, einem bewußten und freien Geschöpf, unvermeidlich ist. Wer zu dem Schluß käme, daß man alles tun kann, was man will, hat deshalb noch nicht das moralische Problem gelöst. Er beweist höchstens, daß er es schlecht gelöst hat. (Fs)

Eine "christliche" Moral

243b Das Verhalten eines Geschöpfes hängt von seiner Natur ab. Man handelt — man muß handeln — gemäß dem, was man ist. Man kann das Tier nicht tadeln, weil es als Tier handelt, und man kann den Menschen nicht loben, wenn er nicht als Mensch handelt. Das konkrete Subjekt dieser Untersuchung, von der Theologie her betrachtet, ist der Christ: Wir fragen uns, wie sich der Mensch verhalten muß, damit er tatsächlich Bild des Herrn Jesus Christus, des gekreuzigten und auferstandenen Gottes und Menschen, ist; damit er wie Jesus Sohn des Vaters, des Ursprungs und Ziels unseres Daseins, ist; der Mensch, der wie Jesus vom Heiligen Geist getrieben wird, der in uns und mit uns Prinzip unseres Handelns als Christen ist. "Denn alle, die sich vom Geist Gottes leiten lassen, sind Söhne Gottes" (Röm 8,14). (Fs)

Um also zu wissen, wie ein Christ handeln soll, müssen wir das Leben und Handeln Christi, unseres "Hauptes" und Vorbilds, näher betrachten. Wir müssen versuchen, den von Christus erlösten "neuen Menschen" zu erfassen (d. h. die übernatürliche Anthropologie ihrem Inhalt und ihrer Dynamik nach zu erkennen). Wir müssen herausfinden, was das letzte und wahre Ziel ist, das uns gesteckt wurde. Das alles natürlich im Licht des Glaubens, und das heißt, die Wirklichkeit immer mit den Augen des Sohnes Gottes zu sehen. (Fs)

243c Das heißt aber auch, daß das moralische Problem des Christen nur als Ergebnis und Anwendung dessen, was uns von der ganzen Offenbarung mitgeteilt wird und was Studienobjekt der gesamten Theologie ist, hinreichend gelöst werden kann. Daraus ergibt sich, daß wir keine angemessene Antwort auf die von uns gestellte Frage finden können, weil wir hier und jetzt keine so eingehende und anspruchsvolle Untersuchung durchführen können. (Fs)

Christliche Moral und Vernunft

244a Trotzdem ist uns eine etwas bescheidenere und in gewisser Weise vorläufige Erforschung möglich. (Fs)

Der Mensch wurde auch als Mensch vom Vater von Anfang an in Christus erdacht und ihm nachgebildet. So ist auch die Überlegung auf geschöpflicher Ebene - das heißt die Prüfung dessen, was wir mit dem anfechtbaren Ausdruck "natürlich" nennen können -schon eine erste Erkenntnis, die einer ganzheitlichen christlichen Sicht dient. Wir werden uns mit diesem Ansatz der christlichen Ethik begnügen, der immer mit der Einfühlsamkeit des Glaubenden durchgeführt werden soll. (Fs)

Und obwohl das ein rein vernunftmäßiger Diskurs zu sein scheint, der auch dem vernünftig denkenden Nichtglaubenden zugänglich ist, bleiben wir immer im Rahmen der "Glaubenslehre". Im übrigen ist auch die Vernunft eine notwendige Voraussetzung für den Glaubensakt, für seine Reifung und Entwicklung. (Fs)

Die Moral und die Gottesfrage

244b Die Diskussionen, die auf die Enzyklika folgten, haben vielfach ein positives Echo, aber auch seltsame Reaktionen gezeitigt. Viele scheinen nicht zu merken, daß auch in Bezug auf die Moral die entscheidende und vorrangige Frage die Gottesfrage ist. Und vom Papst kann man keineswegs verlangen, das zu vergessen. (Fs)

244c In der jüngsten Zeit wurden dicke Bücher zur Verteidigung einer Ethik geschrieben, die ganz von der religiösen Sicht losgelöst ist. Die teuflische Halluzination des Iwan Karamasow hatte es schon vorhergesehen: "Wenn die ganze Menschheit Gott leugnet, geht die alte Moral unter, und alles wird neu" (Die Brüder Karamasow 1,XI, c. IX), Aber wie kann man ernstlich bezweifeln, was Dostojewskij ganz klar sagt: "Wenn es Gott nicht gibt, ist alles erlaubt." Wenn alles erlaubt ist, gibt es keine moralische Frage mehr. Wenn alles erlaubt ist, dann ist alles sinnlos. (Fs)

245a Wenn Gott nicht existiert, öffnet sich im Dasein ein Abgrund, der alles unrettbar verschlingt und zunichte macht: alles, auch die Prinzipien, die Ideale, eventuell vorhandene Lebensregeln, selbst die Menschenliebe und die Selbstlosigkeit, die Werte. Wenn Gott nicht existiert, gibt es nichts, was den einzelnen konkreten Menschen daran hindern könnte, die Moralität seinem tatsächlichen Verhalten anzugleichen und auf kein Gesetz zu achten, das seinem Willen und seinem Vergnügen entgegenstünde. (Fs)

Wenn dagegen Gott existiert, kann nur er über Gut und Böse entscheiden. Wir können über unsere Handlungen bestimmen - die wir der objektiven Norm entsprechend oder abweichend von ihr vollbringen können - , aber nicht über die Norm, die uns vorausgeht, wie der Herr des Universums vor uns vorausgeht. (Fs)

245b Das ist dem Menschen unangenehm, der gern selbst " das Maß aller Dinge" sein möchte (wie Protagoras es sein wollte). Daher die Versuchung, die göttlichen Eigenschaften zu erlangen, wie es schon so wunderbar in der Erzählung der Genesis beschrieben wird: "Ihr werdet wie Gott und erkennt Gut und Böse" (Gen 3,5); das heißt (gemäß der semitischen Akzentuierung des Wortes) "ihr werdet über Gut und Böse verfügen". (Fs)

Schema des Diskurses

245c Unsere Reflexion - die für das ethische Problem anfängliche Schwerpunkte setzen will — wird drei verschiedene Themenkreise behandeln:
1. Die Freiheit, das heißt die "menschlichen" Akte.
2. Das Gesetz. (Fs)
3. Das Gewissen. (Fs)

245d Die schematische Behandlung wird den Eindruck einer gewissen Trockenheit ergeben. Daneben kann die Lektüre der Enzyklika Veritatis splendor eine Betrachtung mit mehr Würze, mehr existentiellem Nachhall und mehr Aufmerksamkeit für die Gefühle und Ängste des Menschen von heute vermitteln. (Fs)

____________________________

Home Sitemap Lonergan/Literatur Grundkurs/Philosophie Artikel/Texte Datenbank/Lektüre Links/Aktuell/Galerie Impressum/Kontakt