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Autor: Biffi, Giacomo

Buch: Sehnsucht nach dem Heil

Titel: Sehnsucht nach dem Heil

Stichwort: Das Böse; Sünde, Sinn des Leidens: Strafe, Sühne Miterlösung; Newman (Erbsünde); Paradoxon (Vorzug des Leidens); Schuld: Ausdruck und Beweis der Freiheit

Kurzinhalt: In einer absolut sündelosen Welt wäre das Leiden nicht einmal begriffsmäßig denkbar... nicht: "Ich bin unschuldig, also leide ich zu unrecht"; sondern: "Ich leide, also neige ich zur Sünde."... Möglichkeit der Sühne haben, sich untereinander und mit ...

Textausschnitt: Sinn des Leidens: Strafe

228b Wenn wir den Sinn des Leidens ergründen wollen, müssen wir die Offenbarung befragen und aus dem, was sie uns sagt, lernen. In einer absolut sündelosen Welt wäre das Leiden nicht einmal begriffsmäßig denkbar. (Fs) (notabene)

Kommentar (19.02.11): Zu oben dann die Frage: Wie verhält es sich mit dem Leiden Marias?
Nach einem absoluten und unwiderruflichen Prinzip wird Schuld vom Unglück begleitet, so wie Glückseligkeit der Zustand der Tugend sein muß. Das ist so evident, daß wir ansonsten unseren Gerechtigkeitssinn verletzt fühlen und empört sind. Aber das rechte Denken des Menschen, der leidet, ist nicht: "Ich bin unschuldig, also leide ich zu unrecht"; sondern: "Ich leide, also neige ich zur Sünde." (Fs) (notabene)
Eine Neigung, die entweder auf Grund einer persönlichen Beziehung zur Ungerechtigkeit oder zumindet auf Grund unserer Zugehörigkeit zu einem befleckten Menschengeschlecht besteht. Das Leiden ist die bitterste und entscheidendste Niederlage, die jedem naturalistischen Optimismus unweigerlich widerfährt: Niemand von uns kann sich absolut schuldlos nennen, und sei es nur auf Grund jenes inneren Zusammenhangs, der uns in die Mißgeschicke des ganzen Menschengeschlechtes einbezieht. (Fs)

228c Wie man sieht, ruft die Rätselhaftigkeit des Leidens die Rätselhaftigkeit einer Urschuld mit universalen Folgen auf den Plan. Darüber schrieb Kardinal Newman die bekannten Worte: "Betrachten wir die Welt nach ihrer Länge und Breite, ... die Enttäuschungen des Lebens, die Niederlage des Guten, den Triumph des Bösen, körperliche Leiden und geistige Drangsale, die Vorherrschaft und Gewalt der Sünde, ... - das alles ist ein Anblick, der Schwindel und Grauen erregt und dem Geiste die Ahnung eines tiefen Geheimnisses aufdrängt, das über alle menschlichen Lösungsversuche erhaben ist ... (Fs)

229a So schließe ich ... - wenn es einen Gott gibt, und da es einen Gott gibt, muß das Menschengeschlecht von der Wurzel her in irgendein furchtbares Unheil verstrickt sein. Es hat die Verbindung mit den Absichten seines Schöpfers verloren. Das ist eine Tatsache, so sicher wie die Tatsache seiner Existenz; und darum ist die Lehre von dem, was die Theologen Erbsünde nennen, in meinen Augen fast ebenso gewiß, wie die Existenz der Welt und die Existenz Gottes. (Apologia, c. V). (Fs) (notabene)

Es handelt sich um eine Wahrheit, "tief verborgen wie jedes Geheimnis; aber ohne sie wird alles in der Welt und im Menschen noch undurchdringlicher, angefangen von dem Meer von Tränen und Blut, das unsere Geschichte bedeckt" (G. Biffi, La Bella, la Bestia e il Cavaliere, S. 74 f.). Dieser zweifellos schwierige Begriffsknoten läßt sich keinesfalls lösen, "wenn man den theologischen Inhalt der traditionellen Lehre irgendwie verkürzt, damit er in die Schemata der zeitgenössischen Kultur und Wissenschaft paßt.... Die Wurzel der Sünde, die von den Anfängen der Menschheit an in geheimnisvoller Weise unsere ganze Geschichte hindurch weitergegeben wurde, ist in der unsichtbaren Welt zu suchen (das heißt in der Engelwelt), über die wir nicht viel sagen können, aber die wir noch weniger verneinen oder kritisch beurteilen sollten" (ebd., S. 82 f.). Wie man sieht, müssen wir voraussetzen, daß unter den Menschen - ja unter allen Lebewesen — eine von Natur aus gegebene Solidarität besteht, die uns miteinander verbindet und uns schon seit der Erschaffung gleichsam zu einem Leib macht. (Fs)

Sinn des Leidens: Sühne

Das Leiden ist nicht nur Bestrafung der Schuld, sondern auch Grund und Mittel zur Sühne. (Fs)
229b Die Sünde ist formal der geschaffene Wille, der vom Willen des Schöpfers abweicht. Jede eventuelle Wiedergutmachung gegenüber der verletzten Gerechtigkeitsordnung kann grundsätzlich nur in dem Willen bestehen, der dem Willen Gottes durch einen Akt der Liebe wieder zustimmt. Aber jede Berichtigung des Willens, die sich nicht der verdienten Strafe unterziehen würde, wäre trügerisch und fast nur ein Wort, weil ihr die volle Liebe zur Gerechtigkeitsordnung fehlen würde. (Fs)

230a Die Sünde wird wiedergutgemacht durch die Reue. Aber jede wahre Reue wird durch Annahme des Leidens ausgedrückt und bewiesen. (Fs)

Sinn des Leidens: Miterlösung

In der von Gott gewollten Ordnung erhält das Leiden auch einen Heilswert zugunsten der anderen. Das Solidaritätsgesetz dient wiederum zur Weitergabe des Guten: Jedes aus Liebe angenommene Leiden nützt nicht nur dem, der leidet, sondern dem ganzen sozialen Leib der Menschheit, in den wir von Grund auf eingebunden sind. Kein Leiden ist unnütz oder vergebens, wenn es in Liebe zum göttlichen Gesetz ertragen wird. Auch wenn das Leiden die persönliche Schuld überwiegen sollte, fließt alles im Heilswerk zugunsten des Universums zusammen. (Fs)

Das ist möglich, weil wir nicht in einen rein theoretischen Plan des Loskaufs des Menschengeschlechtes einbezogen sind, sondern in eine lebendige Teilhabe an der Wirklichkeit dessen, der der Erlöser aller ist. (Fs)
Daraus folgt das Paradoxon, daß das in Christus angenommene Leiden ein Weg zur vollkommenen Verwirklichung unserer Bestimmung wird. (Fs)

Wir sind nach der vom Vater festgelegten Ordnung der Dinge dazu bestimmt, "an Wesen und Gestalt seines Sohnes teilzuhaben, damit dieser der Erstgeborene von vielen Brüdern sei" (Röm 8,29). Aber der Sohn Gottes ist ein Mensch, der zum Heil der Welt gekreuzigt wurde. Wer ihm vollkommen ähnlich werden will, der kann deshalb das Kreuz, dieses Werkzeug des Heils, nicht außerachtlassen. (Fs)

230b So schwer das Leiden auch anzunehmen ist, es bedeutet einen Vorzug; einen um so größeren Vorzug, weil die Teilhabe am furchtbaren Geheimnis des Karfreitags die Teilhabe am freudvollen und herrlichen Geheimnis des Auferstehungstages bedingt und ausmißt. Das Leiden als Ausdruck der Liebe zum Vater und zu den Mitmenschen wird so ein grundlegender Baustein des christlichen Daseins, das darin besteht, sich immer vollkommener in Jesus, den auferstandenen Gekreuzigten, den einzigen Erlöser des Menschen, einzugliedern. (Fs)

Sinn des Leidens insgesamt

231a Wenn wir dieses Problem von der allgemeinen Sicht trennen, die uns vom Glauben gegeben wird, scheint es völlig undurchdringlich und beinahe der Gipfel des Absurden zu sein. Stellen wir aber dieses Problem in den Rahmen des Weltbildes, das uns geoffenbart wurde, können wir vielleicht folgendes daraus entnehmen: Es widerspricht keineswegs der Weisheit und Güte Gottes, daß er eine Welt geschaffen hat, in der die freien und sündigen Menschen die Möglichkeit der Sühne haben, sich untereinander und mit Christus durch den Heilswert ihrer Leiden enger zu verbinden; daß sie ihre Zuneigung zum Herrn des Universums in einer Weise spüren können, wie es in einem Zustand dauernden Wohlergehens nicht möglich ist; daß sie ihre Hingabefähigkeit verstärken und damit eine größere Vollkommenheit und Freude erlangen können. (Fs)

So verstehen wir, daß das Wesen jeder wahren religiösen Beziehung darin besteht, die Welt anzunehmen, die Gott frei erwählt hat, um den für alle seine Geschöpfe bestimmten Heilsweg zu verwirklichen: Dieser Weg endet im Himmelreich, führt aber unweigerlich über Golgota. (Fs)

Sinn der Schuld: Ausdruck und Beweis der Freiheit

231b Im Unterschied zur griechischen Auffassung, die vor allem in den Tragödiendichtern erscheint und wo oft von einer transzendenten Notwendigkeit (anagkE tychE)) als tiefster Wurzel der menschlichen Sünde die Rede ist, schreibt die jüdisch-christliche Offenbarung die Existenz des moralischen Übels, das heißt der Sünde, immer der Anwesenheit freier Menschen in der Welt zu. Die geschaffene Freiheit bringt unweigerlich das Risiko der Auflehnung mit sich, die, weil sie aus einer freien Entscheidung des Geschöpfes erwächst, in keiner Weise Gott zugeschrieben werden kann. Dazu ist es nützlich, uns einen Text von Jesus Sirach in Erinnerung zu rufen:

Sag nicht: Meine Sünde kommt von Gott.
Denn was er haßt, das tut er nicht.
Sag nicht: Er hat mich zu Fall gebracht.
Denn er hat keine Freude an schlechten Menschen.
Verabscheuungswürdiges haßt der Herr;
alle, die ihn fürchten, bewahrt er davor.
Er hat am Anfang den Menschen erschaffen
und ihn der Macht der eigenen Entscheidung überlassen.
Wenn du willst, kannst du das Gebot halten;
Gottes Willen zu tun ist Treue.
Feuer und Wasser sind vor dich hingestellt;
streck deine Hände aus nach dem, was dir gefällt.
Der Mensch hat Leben und Tod vor sich;
was er begehrt, wird ihm zuteil (Sir 15,11-17). (Fs)

232a Das Vorrecht der Freiheit macht den Menschen in gewisser Weise Gott ähnlich, denn er wird sozusagen zum Prinzip des Guten und des Bösen, zumindest in Bezug auf sich selbst. Weil der Herr aber nicht darauf verzichtet, das objektive und wahre Prinzip des Guten und des Bösen zu sein, führt die Entscheidung des Geschöpfes unweigerlich zu einer Begegnung oder einem Zusammenstoß mit dem Absoluten. Wenn ich positiv entscheide, bekräftige ich das gewählte Objekt als konkreten auf mich bezogenen Wert; wenn ich es ablehne, zerstöre ich das Objekt, das ich ja als konkreten auf mich bezogenen Wert abgelehnt habe. Gott, der "universales Gesetz" und universale Hoheit ist, hat schon im voraus eine bestimmte Meinung über die Beziehung, die zwischen mir und einem bestimmten Objekt zu bestehen hat (seine Meinung wird mir durch die Stimme des Gewissens mitgeteilt). Meine Entscheidung oder meine Ablehnung, im Einklang oder im Widerspruch zu Gottes Ansinnen, führt deshalb von selbst zur Annahme oder Verneinung dessen, der die unabdingbare Norm von allem ist. (Fs)

232b Der Dieb glaubt, er habe nur die Geldbörse seines Reisebegleiters gewählt, als er sich zu stehlen entschloß, aber er hat mit ihr auch den Zusammenstoß mit Gott gewählt. Und das ist die Sünde. (Fs)

Sinn der Schuld: Gottes Barmherzigkeit offenbar machen
233a Warum greift Gott nicht ein und verhindert das moralische Böse? Dazu ist zu sagen, daß die Freiheit in den Augen des Herrn etwas so Großes ist, daß er auch die Auflehnung seines Geschöpfes gegen ihn duldet. Aber wir sind damit nicht zufrieden und wagen zur besseren Erklärung eine Hypothese zu formulieren: Hätte Gott unter unendlich vielen möglichen Welten, die er vorhersehen konnte, nicht eine Welt auswählen können, in der die freien Geschöpfe sich tatsächlich immer und immer frei für das Gute entscheiden würden? (Fs) (notabene)

Wir sehen nicht ein, warum er es nicht gekonnt hätte. Warum hat er dann anstelle einer Welt, die sich als schuldlos erwiesen hätte, diese verderbte Welt gewählt?
Unsere Fragen werden immer kühner, aber sie sind nicht unkorrekt. Im Grund geht es darum, zu verstehen, welchen positiven Sinn die Sünde im konkreten Plan Gottes hat, den er gewählt hat. Denn meines Erachtens genügt es nicht, die Idee eines rein "permissiven Willens" zu Hilfe zu nehmen. Man muß nach den spezifischen "Werten" dieser tatsächlich existierenden Welt suchen, die der Grund von Gottes Ratschluß waren. (Fs)

233b Eine Ordnung der Dinge, in der die Schuld vorgesehen ist, zeigt göttliche Vollkommenheiten, die eine Ordnung der Dinge, in der nur die Unschuld Platz hat, nicht zeigt: Zum Beispiel der Mensch, der demütig sein Unrecht anerkennt; die bußfertige Liebe, die nur ein Mensch, der gesündigt hat, dem Vater zollen kann; vor allem die erlösende Liebe Christi, der für unser Heil gestorben ist. Zweifellos hätte eine schuldlose Welt andere Vollkommenheiten, aber nicht diese geoffenbart. Der Faszination eines unbefleckten Herzens wurde die Faszination eines reumütigen, schmerzerfüllten Herzens vorgezogen. (Fs) (notabene)

Natürlich muß man sich vor dem schweren Irrtum in Acht nehmen, daß der Schöpfer die Schuld gewollt habe: Er hat nur das gewollt, was seine Weisheit aus der beklagenswerten Entstellung der Gerechtigkeitsordnung, die durch den freien geschaffenen Willen verursacht wurde, an Gutem und Lobenswertem hatte gewinnen können. (Fs)

233c In diesem Licht erhellt sich für uns ein wenig die paradoxe Aussage des Herrn: "Im Himmel (wird) mehr Freude herrschen über einen einzigen Sünder, der umkehrt, als über neunundneunzig Gerechte, die es nicht nötig haben umzukehren" (Lk 15,7). Dieser einzige Sünder stellt durch seine Reue ein Zeichen dar für das, was dieser konkreten von Gott gewollten Ordnung der Dinge eigen und für sie charakteristisch ist. (Fs)

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