Autor: Biffi, Giacomo Buch: Sehnsucht nach dem Heil Titel: Sehnsucht nach dem Heil Stichwort: Kirche, Zusammenfassung (NT); Kontinuität Israels ("Fülle der Zeit"), Universalität, Sendung, Wirken des Geistes, Communio und Gemeinschaft, Leiden und Kampf, eschatologische Erwartung; Kosmopolitismus; antikirchliche Haltung Kurzinhalt: Das "wahre" Bild der Kirche ist nicht das, was sich die Menschen zu einem bestimmten geschichtlichen Zeitpunkt von ihr machen, sondern das, was Gott von ihr hat, der sie gewollt hat, und was offenbar geworden ist. Textausschnitt: B) Abschließende Synthese
172a Versuchen wir jetzt, kurz die Lehre zu erfassen, die uns die einzelnen Bausteine der neutestamentlischen Welt dargeboten haben. In einer Reflexion, die "für Gläubige" bestimmt ist, muß diese Zusammenfassung wahrheitsgetreu sein, wenn sie bindend sein soll. Das "wahre" Bild der Kirche ist nicht das, was sich die Menschen zu einem bestimmten geschichtlichen Zeitpunkt von ihr machen, sondern das, was Gott von ihr hat, der sie gewollt hat, und was offenbar geworden ist. Natürlich ist diese notwendigerweise gedrängte Darstellung zu schematisch und lückenhaft. Aber wir wollen uns wenigstens einbilden, daß wir die in den Schriften der christlichen Urgemeinde anscheinend grundlegenden und unverzichtbaren "Themen" erfassen konnten. (Fs)
1. Die Kontinuität Israels
a) Die Kirche erscheint nicht als ein improvisiertes und nie dagewesenes Ereignis. Sie ist und will der letzte Abschnitt einer Geschichte sein, die viel früher mit der Berufung Abrahams, mit dem befreienden Unternehmen von Mose und mit der Gründung des jüdischen Volkes angefangen hat. Diese Geschichte wird nicht geleugnet, sondern setzt sich fort und wird in der Kirche Wirklichkeit. Die Gründung der Kirche ist die "Fülle der Zeit", wie Paulus sagt, d. h. der Höhepunkt des langen Heilsplans. (Fs)
b) Das geht schon aus den Logien des Herrn hervor, die chronologisch an erster Stelle in der neuen Wirklichkeit die "verlorenen Schafe des Hauses Israel" haben wollen und uns den Erlöser zeigen, wie er seine Tätigkeit und die beginnende Arbeit der Apostel absichtlich auf das jüdische Territorium begrenzt. Das wird selbst in der Verbreitung des Terminus "ecclesía" (übersetzt "qahal") deutlich, wie ihn uns die Apostelgeschichte dokumentiert. (Fs)
173a
c) Der Begriff ist für unser Kirchenbild entscheidend. Er lehrt uns, daß man unbedingt an eine ununterbrochene Kontinuität gebunden und in eine "Geschichte" eingetaucht sein muß, um den Sinn für die Kirche zu haben. Die Haltung dessen, der vielleicht unbewußt meint, am Anfang von allem zu stehen und sich gleichsam als einer der Gründerväter oder Mitbegründer betrachtet, ist das antikirchlichste, was man sich nur vorstellen kann. Auf diese Weise befinden wir uns in maximaler Entfernung von demjenigen, der eine Religion im Lichte der jetzigen Zeit und in Bezug auf den Menschen von heute entwickeln will; oder von der Haltung dessen, der zu einem abstrakten Kosmopolitismus neigt und eine Religion erträumt, die rein humanistisch und rational nach Art der Aufklärung ist; oder von der Haltung dessen, der in der Kirche eine "Übereinstimmung" mit den (philosophischen, sozialen oder politischen) "Idolen" sucht, die in unserer Zeit vorherrschen. Die einzige "Übereinstimmung", die die Kirche häufig überprüfen muß, ist die mit der von Gott geleiteten eigenen Heilsgeschichte. (Fs) (notabene)
2. Die Universalität
a) Die Kirche ist ihrer Herkunft nach israelitisch und ihrer Bestimmung nach universal. In ihr ist Raum für alle Menschen mit den positiven Werten ihrer Geschichte und Kultur. (Fs)
Diese wesenhafte "Katholizität" gründet in dem wirksamen Heilswerk des einen Erlösers der Welt, so daß jeder, der davon erreicht wird, von Grund auf so neu wird, daß alle vorausgehenden Merkmale (Geschlecht, Rasse, Sprache, sozialer Stand) unbedeutend werden. (Fs)
b) Lukas und Paulus dokumentieren mit unterschiedlicher Einfühlsamkeit, wie schwer es für die Urkirche war, diese Auffassung zu akzeptieren, und wieviel es sie gekostet hat. Bei Johannes scheint sie schon ein feststehender Begriff zu sein: Wenn es nur einen Hirten, Christus, gibt, ist es natürlich, daß man nur einen Schafstall bildet. (Fs)
173b
c) Wann immer in der Kirche Ansprüche oder Haltungen auftauchen, die deutlich rassistischer, klassenkämpferischer oder sonstwie diskriminierender Natur sind, wird ein Wesensmerkmal der Kirche Christi verleugnet und aufs Spiel gesetzt. (Fs)
3. Der Plan Gottes und die Sendung
174a
a) Die Kirche wird aus dem Heilsplan des Vaters geboren; eine Initiative, die in der konkreten Sendung zum Ausdruck kommt: der Sendung des Sohnes, der Sendung der Apostel, der Sendung der von den Aposteln Beauftragten. (Fs)
Jede kirchliche Kontinuität erwächst also aus einer Sendung und wird von einer Sendung gestützt. (Fs)
b) Die Logien Christi sind eindeutig in diesem Punkt, so daß sie den Eindruck erwecken, daß das "Reich" mit den Boten des Evangeliums (Aposteln und beauftragten Jüngern) identisch ist. Was wahrscheinlich auf die Tatsache zurückgeht, daß sich Jesus in der Gründungsphase der neuen Wirklichkeit der Kirche befindet. (Fs)
Aber auch bei Lukas, Paulus und Johannes ist dieser Gedanke immer lebendig: "Wie mich der Vater gesandt hat, so sende ich euch."
c) Deshalb ist die Kirche nicht nur eine Wirklichkeit, die "da ist" und die "handelt", sondern eine Wirklichkeit, die "geschaffen wird". Der Vater bildet sie, aber er beschränkt sich nicht darauf, die einzelnen Menschen direkt zu inspirieren, sondern er sendet den Sohn und legt in ihm den Leitfaden der Sendungen. (Fs)
4. Das Wirken des Geistes
a) Der Vater ruft die Kirche ins Leben, indem er in Einheit mit dem Auferstandenen den Heiligen Geist sendet. Der Geist wird als die "Gabe" schlechthin betrachtet, als das Unterpfand und die Vorwegnahme des vollen und endgültigen Erbe des Reiches. Ohne den Heiligen Geist wird die Kirche nicht erbaut und lebt sie nicht. Sie ist, wie Paulus sagt, "der Tempel des heiligen Geistes" und der Ort des immerwährenden Pfingsten. (Fs)
Der Geist eine aktive Gabe: Er leitet, inspiriert, lehrt die Kirche und führt sie "in die ganze Wahrheit" (Joh 16,13). Zwischen der Kirche und dem Geist gibt es keine Gegensätze, so daß sie mit gleicher Stimme dasselbe erbitten: "Der Geist und die Braut sagen: Komm!" (Offb 22,17). (Fs)
174b Und dieses Prinzip schließt die äußeren "sakramentalen" Kulthandlungen nicht aus, sondern setzt sie voraus: Denn der Geist beginnt sein Wirken mit der Taufe und vollendet es in der Eucharistie. (Fs)
Kommentar (08.02.11): Andererseits ist das Wirken des Geistes nicht auf die Kirche beschränkt.
175a
b) Lukas, Paulus, Johannes und die Geheime Offenbarung verkünden in verschiedener Weise dieselbe Wahrheit: Die Kirche wird erbaut und lebt durch den Geist, den Jesus ihr aus dem Schoß des Vaters sendet. (Fs)
c) Eine rein juridische, strukturelle, soziologische und politische Sicht der Kirche, die über jeden äußeren Anschein hinaus nicht das phantastische und unvorhersehbare Handeln des Geistes zu bewundern vermag, stünde nicht im Einklang mit dieser Lehre. (Fs)
5. Communio und Gemeinschaft
a) Die Kirche ist ihrem Wesen nach eine "Communio", das heißt eine lebendige und ständige Begegnung der Menschen mit Christus und mit Gott, die zu einer Communio der Gläubigen untereinander führt. (Fs)
Diese Communio läßt die Menschen nicht in ihrem bisherigen Zustand, sondern wandelt sie von Grund auf, indem sie sie fortwährend durch das Wort Gottes, die Eucharistie und die gelebte Nächstenliebe zusammenruft und erneuert. (Fs)
Unter dem Antrieb des Wortes Gottes, der Eucharistie und der Nächstenliebe strebt diese Communio - wenn sie authentisch ist - danach, "Gemeinschaft" zu bilden. Das heißt, sie wird eine neue soziale und nach außen hin erkennbare Wirklichkeit, die in allen Bereichen ihren eigenen Weg in einer besonderen Verhaltensweise zu gehen sucht, und bis zu einem gewissen Grad gelingt es ihr. Deshalb ist die Kirche eine geeinte Wirklichkeit mit besonderem Merkmal, die sich von der Menge der Menschen unterscheidet: Sie ist eine "andere" Wirklichkeit. Sie ist ein "heiliges Volk", das heißt, sie ist von der Liebe Gottes ausgesondert, und sie ist ein heiligmachendes Volk, das die Menschen umwandelt, indem sie sie in die eigene Antwort auf den Anruf des Vaters einbezieht. (Fs)
b) Johannes und Paulus machen den Begriff der "coinonia" zu einer der Grundlagen ihrer Meditation über die Kirche. (Fs)
Die Apostelgeschichte zeigt uns das Idealbild der Kirche als "neue Gemeinschaft"; Paulus zeichnet die christlichen Verhaltenszüge in allen Bereichen (in Ehe und Familie, in Gesellschaft und Gerichtsbarkeit); Johannes stellt die neue Wirklichkeit vor dem dunklen Hintergrund der "Welt" dar. (Fs)
175b
c) Das Verhältnis Communio-Gemeinschaft warnt uns davor, uns die Kirche als eine rein soziale Versammlung vorzustellen oder sie als rein mystische, abstrakte Tatsache, ohne nachweisbare Auswirkungen auf die Entwicklung der Geschichte zu betrachten. Und es ist gleichzeitig eine Aufforderung, am eigenen Ort auch verbandsmäßig Gemeinschaft zu bilden, aber nicht so sehr als selbstgenügsame kirchliche Tatsache, sondern als Hilfe, um das Geheimnnis der Communio zu leben, und als "Sakrament" der kosmischen und transzendenten Wirklichkeit der Kirche. (Fs) (notabene)
6. Leiden und Kampf
176a
a) Gerade weil sie "anders" ist, kann die Kirche nur erwarten, weitgehend unverstanden, bekämpft und verfolgt zu werden. Sie unterscheidet sich von der "Welt" zu sehr und bringt eine Botschaft, die zu stark im Widerspruch mit der vorherrschenden Mentalität unter den Menschen steht, als daß sie hoffen könnte, immer verstanden und akzeptiert zu werden. (Fs)
Außerdem wird die Kirche in ihrer äußeren Erscheinung, ihren Gliedern, ihrer Struktur immer die Zeichen der Schwäche und der Niedrigkeit tragen, denn die Zeit ihrer Herrlichkeit ist noch nicht gekommen. (Fs)
b) Die Logien Christi und die Ausführungen des vierten Evangeliums weisen uns darauf hin, daß wir uns von den Menschen Vorurteile und Feindschaft erwarten müssen. Dieses Thema wird besonders von der Apokalypse behandelt, wo uns der eigentliche Grund dieses ständigen Kampfes enthüllt wird: der dämonische Angriff auf die reiche und tiefe kirchliche Wirklichkeit. (Fs)
c) Das hilft uns, nicht den Mut zu verlieren angesichts der Mißerfolge und Mühen und uns keine Illusionen zu machen im Hinblick auf zeitweilige "Triumphe" der Kirche in der Geschichte; was auch die sicherste Methode ist, nicht enttäuscht zu werden. (Fs)
7. Die eschatologische Erwartung
a) Die Kirche ist immer ein Volk auf dem Weg. Keine Epoche, keine Gesellschaft, keine Form des Zusammenlebens ist ihr fremd, aber keine gehört ihr ganz. Sie bleibt immer ein wenig "Fremde" auf Erden, weil sie immer auf das volle Offenbarwerden des Reiches wartet. (Fs)
176b Aber die Erwartung ist nicht vergeblich. Ja, die Substanz des zukünftigen Reichtums ist schon in ihren Händen. Die Zukunft ist für sie schon gegenwärtig. Die Kirche ist nicht nur Pilgerin auf dem Weg ins Gottesreich, sie ist schon das Reich, wenn auch verhüllt und unvollkommen. Auch wenn sie sich immer "schön machen" muß, ist die Braut bereits schön. (Fs)
177a
b) Dieser auf die endgültige Herrlichkeit abzielende Dynamismus ist in den Logien Christi weitgehend vorhanden, wird von Paulus und Johannes beibehalten und ist der eigentliche Sinn der Geheimen Offenbarung. (Fs)
c) Wir leben, sind präsent und wirken als Kirche zu allen Zeiten und an allen Orten, aber wir bleiben immer ein wenig Fremde in jedem Augenblick der Geschichte. Wenn wir auch die menschliche Befindlichkeit voll leben müssen und keine Mühe scheuen dürfen, richtet sich unsere Erwartung auf das Reich Gottes, und nur der wirkliche Besitz des Reiches Gottes wird unsere Sehnsucht erfüllen können. (Fs)
Zusammenfassung
177b Jetzt sollten wir verstanden haben, daß die Kirche wesentlich "Geheimnis" ist, das heißt eine Wirklichkeit, die Heil vermittelt nach einem Plan, der dem Reichtum und der Phantasie des Vaters angemessen ist und deshalb immer unser Fassungsvermögen übersteigt. Dieses Geheimnis soll betrachtet, geliebt und gelebt werden in dem Bewußtsein, daß wir in ein Spiel miteinbezogen sind, das weit größer ist als wir. (Fs) ____________________________
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