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Autor: Biffi, Giacomo

Buch: Sehnsucht nach dem Heil

Titel: Sehnsucht nach dem Heil

Stichwort: Kirche, Ekklesiologie, Paulus: die ersten großen Briefe; Kirche: das neue Israel, das heilige Volk, die Gemeinschaft in Erwartung (Thessalonicher)

Kurzinhalt: Weil sie "Heilige" sind, dürfen sie in ihrer Mitte niemand dulden, der bewußt und öffentlich in Sünde leben will...

Textausschnitt: I. Die Briefe des Apostels Paulus

155b Auch in den paulinischen Briefen finden wir die vorgenannte semantische Entwicklung des Terminus "Kirche", die wir in der Apostelgeschichte zu sehen meinten. (Fs)

Die Bezeichnung "Kirche Gottes" wurde erstmals von der Jerusalemer Gemeinde verwandt, um die Würde eines messianischen Volkes beanspruchen zu können. Zu demselben Zweck und in demselben Sinn werden Worte wie "Heilige" und "Auserwählte" benützt. Unter den Gläubigen griechischer Sprache wurde es üblich, von der Ortsgemeinde der Christen zu sprechen. Die ursprüngliche Wurzel hat neue Formen hervorgebracht: Durch die sich vertiefende paulinische Betrachtung über die von Christus wiederhergestellte Erneuerung wird die universale Dimension von "ecclesia" wiedererlangt und sogar in einer überirdischen und ewigen Sicht überschritten. (Fs)

155c Die Ekklesiologie des Paulus — die uns keine systematischen Abhandlungen bietet, sondern in gelegentlichen Niederschriften ausgedrückt ist - ist eine Erkenntnis, die sich fortschreitend entwickelt. Daher ist es zweckmäßig, die einzelnen Schriften ihrer Entstehung nach chronologisch zu ordnen. Wir untersuchen drei Gruppen:

- die ersten großen Briefe (1. und 2. Brief an die Thessalonicher; 1. und 2. Brief an die Korinther; Brief an die Galater und Brief an die Römer);
- die Gefangenschaftsbriefe (Brief an die Kolosser, die Epheser und die Philipper);
- die Pastoralbriefe (1. und 2. Brief an Timotheus; Brief an Titus). (Fs)

155d Wir beschränken uns darauf, die Leitideen der einzelnen Briefgruppen zu beleuchten, vorbehaltlich dessen, daß keiner dieser Gedanken ausschließlich, sondern nur vorwiegend zu einer bestimmten Gruppe gehört. (Fs)

A) Die ersten großen Briefe

156a Diesen Texten können wir drei Hauptthemen entnehmen: Die Kirche als das neue Israel, die Kirche als das heilige Volk, die Kirche als Gemeinschaft in Erwartung. (Fs)

1. Das neue Israel

Auch die ekklesiologische Reflexion des Paulus geht von der Identifizierung der Christen als "Volk Gottes" des neuen Zeitalters aus. Seine umstrittene Mission unter den Heiden und die Polemik mit den Judenchristen haben ihn dazu veranlaßt, die Beziehung zwischen der Gemeinschaft der Jünger Jesu und dem Volk Israel zu klären, das die alte Offenbarung als Empfänger aller Verheißungen dargestellt hatte. Er kommt zu dem Schluß, daß die Versammlung der Gläubigen mit Israel identisch ist. Es ist nach seinen Worten das "Israel Gottes". Schwerpunkte dieser Reflexion sind:

a) Das Volk der Gläubigen ist "von der Knechtschaft des Gesetzes befreit": Das ist das Hauptthema des Briefes an die Galater. Der Unterschied zwischen Kirche und Synagoge wird durch die typischen Gestalten der zwei Frauen Abrahams dargestellt: die Freie und die Sklavin. Hagar "entspricht das gegenwärtige Jerusalem, das mit seinen Kindern in der Knechtschaft lebt. Das himmlische Jerusalem aber ist frei, und dieses Jerusalem ist unsere Mutter" (Gal 4,25.26). (Fs)

b) "Hat Gott sein Volk verstoßen?" (Röm 11,1): Es hat tatsächlich den Anschein, als habe er seinen ursprünglichen Plan geändert und die an die Juden gerichteten Verheißungen bei anderen wahr gemacht. (Fs)

156b Diese Sicht wird entschieden abgelehnt: Gott hat seine Verheißungen ausgedehnt und nicht zurückgezogen. Israel (auch das "Israel dem Fleische nach", d. h. die jüdische Gemeinschaft) wird nicht vom göttlichen Plan ausgeschlossen. Denn seine Verblendung ist vorübergehend; am Ende wird es seinen Platz finden, und Gott wird sich als treu erweisen (Röm 9-11). (Fs)

c) Denn die Kirche, das Israel Gottes, steht eigentlich nicht im Gegensatz zum Israel "dem Fleische nach", sondern schließt es ein. Das Volk Gottes, Erbe der alten Verheißungen, ist eine neue Wirklichkeit, in der für alle Platz ist und wo es keine Diskriminierung oder Behinderung gibt: "Es gibt nicht mehr Juden und Griechen, nicht Sklaven und Freie, nicht Mann und Frau; denn ihr alle seid 'einer' in Christus Jesus" (Gal 3,28). (Fs)

457a Alle (auch die Unbeschnitten, aber auch die Juden), die zu Gottes Israel gehören, sind Erben der Verheißung (vgl. Gal 3,16-19), alle sind Kinder Abrahams, der der Vater aller Glaubenden ist (vgl. Röm 4,11-17). (Fs)

2. Die Gemeinschaft der Heiligen

157b Wie das alte Israel und mehr als dieses verwirklicht die Kirche den Begriff der "heiligen Nation", das heißt, daß sie ein geheiligtes Volk ist, das Gott von der Welt abgesondert und für sich vorbehalten hat. Sie ist "Tempel Gottes" (vgl. l Kor 3,16), in dem der Heilige Geist wohnt (ebd.). (Fs)

Sie ist das durch die Taufe wiedergeborene Volk: "Ihr seid reingewaschen, seid geheiligt, seid gerecht geworden im Namen Jesu Christi, des Herrn, und im Geist unseres Gottes" (1 Kor 6,11). Deshalb sind die Christen die Geheiligten oder einfach die "Heiligen" (z. B. 1 Kor 1,2). (Fs)

Weil sie "Heilige" sind, dürfen sie in ihrer Mitte niemand dulden, der bewußt und öffentlich in Sünde leben will, wie es bei dem Mann in Korinth der Fall war, der Blutschande trieb (vgl. 1 Kor 5,1-13). Und weil sie ein "ausgesondertes" Volk sind, dürfen sie sich bei einem Rechtsstreit nicht an die heidnischen Gerichtshöfe wenden (vgl. 1 Kor 6,1-11). Sie dürfen aber die Beziehung zu den Nicht-christen und Sündern nicht abbrechen, sonst müßten sie ja "aus der Welt auswandern", wie Paulus mit Humor bemerkt (1 Kor 5,10). (Fs)

3. Die Gemeinschaft in Erwartung des Christus

157c Die Kirche ist wesentlich auf die Ereignisse ausgerichtet, die der Menschheitsgeschichte ein Ende setzen werden. Sie ist also ein Volk in Erwartung, so daß die Menschen, die ihr nicht angehören, als "die anderen, die keine Hoffnung haben" gelten (1 Thess 4,13). Das wird in den Briefen an die Thessalonicher deutlich, deren Hauptthema die Erwartung Christi ist. Aber dieses Thema findet sich auch in den großen Briefen. (Fs)

157d Christ werden heißt, sich von den Götzen abwenden, "um dem lebendigen und wahren Gott zu dienen und seinen Sohn vom Himmel her zu erwarten" (1 Thess 1,9.10). Die kirchliche Gemeinschaft ist die Braut Christi auf dem Weg zur eschatologischen Hochzeit: "Denn ich liebe euch mit der Eifersucht Gottes; ich habe euch einem einzigen Mann verlobt, um euch als reine Jungfrau zu Christus zu führen" (2 Kor 11,2). (Fs)

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