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Autor: Biffi, Giacomo

Buch: Sehnsucht nach dem Heil

Titel: Sehnsucht nach dem Heil

Stichwort: Kirche, Reich - theologische Reflexion; Hypthesen (Verrat, vollkommene Verwirklichung des Gottesreiches, "Wegweiserin"); Schluss vom NT auf das persönliche Denken Christi; Kirche: Sakrament des Reiches Gottes

Kurzinhalt: "Jesus verkündete das Reich Gottes, und gekommen ist die Kirche", hat A. Loisy geschrieben" ... Der Begriff Sakrament ist also die angemessene Form, um die Wirklichkeit der Kirche zu erfassen, ohne Einseitigkeit und ohne Zensur.

Textausschnitt: III. Theologische Reflexion: Die Kirche und das "Reich"

148c Die bisherige Prüfung der Texte wirft sofort eine Frage auf, die wir nicht so sehr als exegetisch-geschichtliches Problem, sondern als theologische Frage behandeln wollen, so daß wir am Ende zu einem tieferen Verständnis des Geheimnisses der Kirche gelangen. Wie wir gesehen haben, spricht Jesus immer vom "Reich", während die christliche Urgemeinde vorwiegend von "Kirche" spricht (wie es die Apostelgeschichte, die wir überprüft haben, aber auch die Briefe der Apostel bezeugen). Die Gegenüberstellung ist unvermeidlich: Was ist die Kirche im Vergleich zu dem von Christus angekündigten Reich?

150a Prüfen wir zunächst der Reihe nach die verschiedenen Hypothesen, damit wir uns ein theologisches Urteil bilden können. Theologische Beurteilung soll hier heißen: ein kritisches Urteil der Vernunft, das sich ständig vom Licht des Glaubens erleuchten läßt. (Fs)

1. Erste Hypothese: Verrat des Reiches

150b "Jesus verkündete das Reich Gottes, und gekommen ist die Kirche", hat A. Loisy geschrieben (L Évangile et l'Église, Paris 1902, S. 111). Oh weh! - Das von Christus angekündigte Reich Gottes, verstanden als eschatologische Wiedergeburt, ist nicht gekommen. An seine Stelle ist die Kirche getreten. Die Idee Jesu ist also schon von der christlichen Urgemeinde mißverstanden worden ... Man beachte, daß es in dieser Gegenüberstellung gar nicht so sehr darum geht, das heutige Kirchenbild anzuprangern, weil es gegenüber dem der Zeit der Apostel verzerrt erscheint (das ist der ständige unterschwellige Gemütszustand derjenigen, die sich in allen Jahrhunderten gegen die Kirche auflehnen). Es handelt sich vielmehr um die Feststellung, daß sich schon die Kirche der apostolischen Zeit vom Plan des Meisters unterscheidet. (Fs) (notabene)

Diese Auffassung zeigt sich mehr oder weniger bewußt in der Haltung derjenigen, die in der Kirche mehr ein Hindernis als eine Verbindung mit Christus sehen. Sie begründen und rechtfertigen diese Hypothese im geschichtlichen und exegetischen Bereich damit, daß sie vom Neuen Testament aus (das nicht mehr als Glaubensmaßstab betrachtet wird) auf das persönliche Denken Christi schließen wollen. Dieses, so wird vermutet, stimme mit dem, was aus den Dokumenten eindeutig hervorgeht, nicht überein. Es sei denn, daß man - wie so oft - erklärt, der Versuch sei gescheitert, und das, was Jesus wirklich gedacht hat, sei nicht nachvollziehbar. Rein theologisch sind zwei Überlegungen notwendig:

150c
a) Wenn uns also nicht einmal die lebendige, kirchliche Gemeinde (weil sie von Anfang an Verrat übte) wirklich mit Christus verbinden kann, dann ist keine wahre Verbindung mit ihm möglich. Außer man schränkt ein, daß man nur durch das historisch-exegetische Studium der Dokumente zur wahren und lebendigen Erkenntnis Jesu gelangen könne. Das wäre dann ein rein "kulturelles" Christentum, das auf berühmten Professoren und Bibliotheken gründet, und in dem die "Weisen" und "Gebildeten" den Vorrang haben, was jedoch einem berühmten "Logion" Christi widerspricht (Mt 11,25). (Fs)

151a
b) Die Kirche als Verrat am Himmelreich zu sehen, kann ernsthaft nur von dem behauptet werden, der Jesus von Nazaret als Sohn Gottes, Erlöser der Welt und Offenbarer des Vaters ablehnt. Welchen Sinn hätte der Eintritt der göttlichen Wahrheit in die Geschichte, wenn sie dann verloren ginge?

Wie man sieht, die Kirche und Christus widersprechen sich nicht, sondern bedingen einander. (Fs)

151b Aber die vorgenannte Hypothese kann uns auch etwas lehren. Sie erinnert uns daran, daß die Botschaft Christi gerade auf Grund ihres absoluten und transzendenten Wertes zu keiner Zeit der Geschichte vollkommen verwirklicht wird. Die Kirche ist ein Ansatz des Gottesreiches, der nie ganz gelingen kann. Der Gläubige ist nicht so sehr ein Christ, als vielmehr der mehr oder weniger gelungene Versuch, Christ zu sein. (Fs)

2. Zweite Hypothese: Die vollkommene Verwirklichung des Gottesreiches

151c Wenn Jesus das Reich Gottes verkündet hat, und die Kirche gekommen ist, bedeutet das aus theologischer Sicht nichts anderes, als daß die Kirche eben schon das vollkommen verwirklichte Reich Gottes auf Erden ist. (Fs)

Diese Auffassung geht auf die Väterzeit zurück, hat die mittelalterliche Ekklesiologie großenteils geprägt und in der Bulle Unam Sanctam Bonifaz' VIII. ihren stärksten Niederschlag gefunden. Dennoch kann auch dieser Gedanke nicht ohne Vorbehalte akzeptiert werden:
a) Wenn das Reich Gottes mit der Kirche vollkommen identisch wäre, wäre seine grundlegend eschatologische Natur, wie sie aus den synoptischen Katechesen und auch aus der Katechese des Johannes hervorgeht (die wir später datieren), nicht mehr zu erklären. (Fs)

b) Ebensowenig wäre die Kirche ein "pilgerndes" Volk, sondern vielmehr ein "ans Ziel gelangtes Volk", und die Erwartung des Reiches - die wesentlich zum christlichen Leben gehört - wäre ihres eigentlichen Inhalts beraubt. (Fs)

151d
c) Diese Auffassung könnte sowohl zum kirchlichen Triumphalismus als auch zur Enttäuschung über die Kirche verleiten. Wenn man die Kirche mit dem Himmelreich identifiziert, ist man versucht, in der Struktur und im Leben der Kirche alles zu kanonisieren und für vollkommen zu halten. Oder man neigt umgekehrt dazu, an den Erbärmlichkeiten der kirchlichen Gemeinschaft derartigen Anstoß zu nehmen, als wäre die kirchliche Gemeinschaft schon das himmlische Jerusalem. (Fs)

152a Andererseits ist aber auch Jesu Wort wahr: "Das Reich Gottes ist (schon) mitten unter euch!" (Lk 17,21). Wenn Paulus schreibt, daß das Reich Gottes nicht Essen und Trinken ist, sondern Gerechtigkeit, Friede und Freude im Heiligen Geist (vgl. Röm 14,17), spricht er gerade vom gegenwärtigen christlichen Leben. Und Johannes schreibt über die in dieser Welt lebenden Christen: "Er hat uns zu Königen gemacht und zu Priestern" (Offb 1,6). (Fs)

Wenn wir die Lehre der Bibel nicht verzerren wollen, indem wir einige Abschnitte hervorheben und andere zensieren, müssen wir sagen, daß zwischen der "basileia" und der "ecclesia" sicher ein Unterschied besteht, aber keine Trennung. (Fs)

3. Dritte Hypothese: "Wegweiserin"

152b Die Kirche ist nicht das Reich Gottes, und sie ist auch nicht dessen Fälschung: Sie ist seine Ankündigung und seine Präfiguration. Sie ist Wegweiserin und gibt die Richtung an. Sie ist keine Wegweiserin, die in die Irre führt oder voraussetzt, daß das Ziel schon in gewisser Weise da ist. (Fs)

Sie ist auch kein "Vorstadium" des Reiches: Zwischen Kirche und Reich gibt es keine Kontinuität. Die Kirche ist nur die "Dienerin" des Reiches. (Fs)

"So liegt der Kirche ganzer Sinn nicht in sich selbst, nicht in dem, was sie ist, sondern in dem, worauf sie zugeht." (H. Küng, Die Kirche, Freiburg i. Br. 1967, S. 118)
Vom theologischen Standpunkt aus scheint diese Sicht der Dinge ärmlich und lückenhaft. Denn:

152c
a) Sie tendiert dazu, in den Schatten zu stellen, daß nach biblischer Lehre das kirchliche Leben schon Besitz der zukünftigen Güter ist: des "ewigen Lebens", das hauptsächlich in der Erkenntnis des Vaters und Christi besteht (vgl. Joh 17,3); der Liebe, die "niemals aufhört" (vgl. 1 Kor 13,8); des Geistes Gottes, der "der erste Anteil des Erbes ist, das wir erhalten" (Eph 1,14); des Reiches, das uns wenn auch unter Bedrängnissen schon gegeben ist: "Ich, euer Bruder Johannes, der wie ihr bedrängt ist, der mit euch an der Königsherrschaft teilhat und mit euch in Jesus standhaft ausharrt" (Offb 1,9). (Fs)

153a Das alles ist nicht nur "Zeichen" oder Prophetie, sondern auch Besitz und Wirklichkeit. (Fs)

b) Die vorgenannte Sicht berücksichtigt nicht die Auffassung, die bei Paulus und Johannes erscheint (und die wir noch prüfen werden). Die Kirche - auch die auf Erden pilgernde christliche Gemeinschaft - ist schon der "Leib" Christi (vgl. Eph 5,23). Für Paulus ist die Kirche nicht die "Magd", sondern die "Braut" des Herrn (vgl. Gal 4,22-31). (Fs)

Bei näherer Betrachtung entspricht dieses Kirchenverständnis von reinem "Zeichen", Verkündigung und Prophethie mehr dem "Israel des Fleisches" als dem "Israel Gottes", um mit den Worten von Paulus zu sprechen. (Fs)

153b Dennoch ist festzuhalten, daß diese Hypothese eine reiche Vielfalt zum Aussdruck bringt. Der Gedanke, die Kirche als "Zeichen", Verkündigung und Prophethie des Reiches zu verstehen, ist zwar ungenügend und unvollkommen, aber nicht völlig falsch. Wenn "Zeichen", dann muß es sichtbar und deutlich, nicht im Untergrund und verborgen sein. Wenn Verkündigung, dann muß sie sich deutlich von den abgeschmackten Ideologien unterscheiden. Wenn Prophethie, dann muß sie immer auf die eschatologi-sche Vollendung der Heilsgeschichte ausgerichtet sein. (Fs)

Das "Sakrament" des Reiches Gottes

153c Die Kirche, die wir erkennen wollen, ist die, die in der Geschichte zwischen dem ersten und dem zweiten Kommen Christi lebt: Sie ist nicht die "Synagoge", und sie ist nicht das offen in Besitz genommene "ewige Leben". (Fs)

Sie ist die Zeitspanne der Sakramente, das heißt der wirksamen Zeichen, die nicht nur erklären oder verheißen, sondern ankündigen und bewirken. Sie ist die Zeit, in der die messianischen Güter uns noch nicht voll und unverhüllt, aber in unvollendeter Weise unter greifbaren Symbolen gegeben sind. (Fs)

153d Der Begriff Sakrament ist also die angemessene Form, um die Wirklichkeit der Kirche zu erfassen, ohne Einseitigkeit und ohne Zensur. Und diese Form wird von den Dokumenten des II. Vatikanischen Konzils verwandt (vgl. SC 26; LG 1.9.48; AG 1), wo es heißt: "Ecclesia, seu Regnum Christi iam praesens in mysterio." "Die Kirche, das heißt das im Mysterium schon gegenwärtige Reich Christi" (LG 6). (Fs) (notabene)

154a Die Kirche ist also das "Sakrament des Reiches Gottes". Das heißt:
a) Die Kirche ist wahrhaft "Zeichen", Wegweiserin, Prophetin des Reiches, vorausgesetzt, alle diese Züge werden nicht im ausschließlichen Sinn verstanden (was einem verkürzten Verständnis gleichkäme). Die Kirche ist gegründet "für" das Reich, so wie die Taufe und die Eucharistie "für" die Eingliederung in Christus gestiftet sind. (Fs)

b) Aber wie schon die Taufe Einverleibung in Christus und die Eucharistie eschatologisches Hochzeitsmahl ist, das gegenwärtig gesetzt und dessen wir in diesem Leben bereits teilhaftig sind, so ist die Kirche schon Vorwegnahme des Reiches. (Fs)

Wer wahrhaftig und voll in der Kirche ist, ist schon wahrhaft und voll im Reich, aber unter zweifachem Vorbehalt: daß diese Zugehörigkeit noch verhüllt ist und daß man sie auch verlieren kann. (Fs)

c) Die sakramentale Wirklichkeit hat die Eigenschaft, daß sie das (begrenzte, fehlbare, immer perfektible) Handeln des Menschen und das (unfehlbar wirksame und heilbringende) Handeln Gottes zusammenführt und miteinander verbindet. (Fs) (notabene)

Das geschieht in jedem Sakrament, und das geschieht auch in der Kirche. Das "Zeichen" in der Kirche (das heißt der menschliche Aspekt ihrer Wirklichkeit) mag schön oder weniger schön, mehr oder weniger würdevoll, mehr oder weniger angemessen sein, ihrem inneren Wesen mehr oder weniger entsprechen. Aber das, was durch das "Zeichen" Wirklichkeit und Gegenwart wird (das "Reich"), ist immer wahr und wirksam, auch unter den Fehlern und Mängeln der Menschen. (Fs)

154b Wenn man die Kirche als "Sakrament des Gottesreiches" versteht, ist es möglich und geboten, von Reform, Erneuerung und Wachstum der Kirche zu sprechen. Aber ihr Leere, Nutzlosigkeit, Verrat oder Sünde zuzuschreiben, ist unmöglich und unannehmbar. Auch unter mittelmäßigen oder farblosen Zeichen ist in der Kirche für uns das Reich Gottes substantiell in unfehlbarer Weise wahrhaft vorweggenommen, trotz der Untreue, der Verzerrung, der Stumpfheit und geistlichen Dürftigkeit derer, die an dem großen kirchlichen "Abenteuer" beteiligt sind. (Fs)

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