Autor: Biffi, Giacomo Buch: Sehnsucht nach dem Heil Titel: Sehnsucht nach dem Heil Stichwort: Heilige Geist (theologische Reflexion); neue Gegenwart (Schöpfer - Geist); "aktuelle" Gnade; Glaube, Hoffnung und Liebe (metánoia); Einwohnung des Heiligen Geistes; habituelle Gnade; Eingliederung in Christus; der "Heilige" Kurzinhalt: Aktuelle Gnaden und habituelle Gnade, die erhöhende Gnade und die nur heilende Gnade, wirksame Gnaden und genügende Gnaden, geschaffene und ungeschaffene Gnade: Sie alle scheinen verstreute Bruchstücke eines schönen, unwiderruflich untergegangenen ... Textausschnitt: Theologische Reflexion
Vorbemerkungen
127b
5. Wir vergleichen jetzt diese "übernatürliche Anthropologie", die uns die Offenbarung als uranfängliche Vorahnung einer wachsenden Gegenwart des Heiligen Geistes im Wesen und Handeln des Menschen anbietet, mit der Namensbezeichnung und den Aussagen, die uns die gewohnte Theologie liefert. Und da hat man unwillkürlich den Eindruck, daß ein lebendiger Organismus in viele einzelne Glieder zerstückelt wurde. (Fs)
Aktuelle Gnaden und habituelle Gnade, die erhöhende Gnade und die nur heilende Gnade, wirksame Gnaden und genügende Gnaden, geschaffene und ungeschaffene Gnade: Sie alle scheinen verstreute Bruchstücke eines schönen, unwiderruflich untergegangenen Segelschiffes. (Fs)
Man ging so weit, von "seinsmäßig natürlichen heilenden Gnaden" zu sprechen, so daß das allgegenwärtige Wirken des vom Auferstandenen gesandten Geistes aus dem Blickfeld geschwunden ist. Der genannte Begriff war schon im 17. Jahrhundert von Ripalda zurückgewiesen und - mit mehr Erfolg - zu Beginn des 20. Jahrhunderts (1908) von Billot entschieden kritisiert worden. Dieser nicht sonderlich attraktive Sachverhalt läßt sich geschichtlich dadurch erklären, daß die Theologie der Gnade seit Augustinus immer als Antwort auf die in dieser Frage aufgetauchten Lehrabweichungen (oder als scholastische Dispute) entwickelt wurde und nicht als Frucht einer ausgewogenen Betrachtung dessen, was uns vom Wort Gottes gesagt wird. (Fs)
127b Wir wollen uns daher so weit wie möglich an das halten, was uns die Offenbarung gelehrt hat, wobei wir auch eine theoretische Einordnung vornehmen, die unseren Wünschen nach Einheitlichkeit und Klarheit entspricht. Damit wollen wir keineswegs die Bedeutung und Notwendigkeit der gewohnten theologischen Analysen schmälern. Wir möchten nur zur Entwicklung einer Synthese ermutigen, die für unser geistliches Leben jenen großen Reichtum rettet, den die Seiten des Neuen Testamentes bergen. Andererseits können auch wir eine gewisse Komplexität und Ausfaltung der Begriffe nicht vermeiden. Die sprachliche Ausdrucksweise unseres Verstandes ist nicht imstande, sich einer reichhaltigen Wirklichkeit in einem einzigen Erkenntnisakt zu bemächtigen. Wir versuchen also nacheinander und in verschiedenen einzelnen Annäherungsversuchen die ganze Fülle des göttlichen Geschenkes zu erfassen. (Fs)
128a Dabei ist zu berücksichtigen, daß das eigentliche Objekt der verschiedenen Betrachtungen eine einzige lebendige, wenn auch äußerst vielfältige Wirklichkeit ist: unsere vollkommene Ähnlichkeit mit Christus, wie sie sich unter dem wachsenden Einfluß des Heiligen Geistes immer mehr entfaltet. Die Offenbarung nennt sie nicht umsonst "Leben", das heißt, sie verwendet einen Begriff, der es von seiner Natur her nicht verträgt, mit Begriffen wie Bruchstückhaftigkeit und Auflösung in Verbindung gebracht zu werden. (Fs)
Eine neue Gegenwart
128b
6. Der Mensch ist aufgrund seiner inneren Beschaffenheit ein Wesen, das wächst und fortschreitet, begabt mit einer Freiheit, die nicht mit einem Schlag da ist, sondern nach und nach aufgebaut wird. Er ist ein Geschöpf, das durch sein ständiges, sich wiederholendes Tun seine endgültige Gestalt ausbildet. Und der Heilige Geist respektiert bei seinem Einwirken diese Komplexität und paßt sich ihr an. Wir versuchen hier die einzelnen Faktoren oder Stufen aufzuzählen, die wir bei der Verwandlung des menschlichen Geistes durch den Geist, den der Erlöser geschenkt hat, wahrnehmen können. Man muß sich dabei aber immer die absolute Einheit des Heiligen Geistes vor Augen halten, der immer der gleiche ist, trotz seiner vielfältigen Wirkungen: das gleiche Licht, das "alles überströmt / und Vielfalt hervorruft, / wo immer es niederfällt". Gleichzeitig muß man auch die lebendige Einheit der inneren Welt des Menschen berücksichtigen, die nur schwer in klar abgegrenzte oder sogar voneinander getrennte Begrifflichkeiten zu zwängen ist. (Fs)
128c Wir stehen hier vor einer geheimnisvollen "Gegenwart" des Heiligen Geistes im Geschöpf (die sich von der unauslöschlichen Einwohnung des Schöpfers in den Lebewesen, der sogenannten "Gegenwart der Unendlichkeit" unterscheidet). (Fs)
129a Diese neue Gegenwart ist anders als die anfängliche nicht notwendig und unausweichlich: Sie kann vorhanden sein oder nicht, sie kann in demselben Menschen stärker oder schwächer sein. Sie kann sich in jedem Einzelnen auf je eigene Weise entwickeln. Diese Gegenwart ist ihrer Natur nach eine "Assimilation" an den Heiligen Geist, der diese bewirkt, und eine Grundlage für die fortschreitende "Vergöttlichung". Sie dringt in den Menschen von außen, das heißt von seinem Handeln her, immer tiefer ein, bis sie nach und nach sein Herz trifft. (Fs)
Die "aktuelle" Gnade
129b
7. Der Heilige Geist wirkt im mündigen und sündigen Menschen durch dessen Tun. Der Mensch, der handelt, ist ständig aufgefordert — wenn auch in unterschiedlichem objektivem Maß und mit unterschiedlichem subjektivem Bewußtsein -, zwischen Gut und Böse zu entscheiden. Er nutzt oftmals, ohne es wahrzunehmen, seine angeborenen Fähigkeiten mit Hilfe von Eingebungen und Kräften, die vom göttlichen Beistand kommen. (Fs)
Durch das Geschenk des Heiligen Geistes ist Christus jedem Menschen nahe, der als Mensch handelt. Und je nach der freien Zustimmung des Menschen wird Christus in stärkerem oder geringerem Maß im Handeln dessen gegenwärtig, der sich entscheidet. Diese Gegenwart Christi durch den Heiligen Geist wird uns in unseren Handlungen ("Akten") von den "aktuellen" Gnaden geschenkt. Von dem Augenblick an, da der Vater in der einen Mittlerschaft Christi alle zum Heil berufen hat, werden diese Gnaden keinem verweigert. (Fs)
Unter dem Einfluß dieser Gnade schickt sich der Ungläubige an zu glauben, wird der Sünder gerecht, und der Gerechte bleibt standhaft und wächst im neuen Leben. (Fs)
Glaube, Hoffnung und Liebe
129c
8. Wenn die göttliche Gegenwart den inneren Beweggrund des Handelns erreicht - das heißt das Denkvermögen, die Fähigkeit der Zustimmung zum Guten, des Strebens zur eigenen natürlichen Mitte und der Liebe - ereignet sich die "metánoia", die innere Umkehr. Sie besteht in der entschiedenen Ablehnung gegenüber jeder Gegenwart des Bösen im eigenen Leben und einer entschlossenen, vertrauensvollen und erleuchteten Zustimmung zur göttlichen Heilsinitiative. (Fs) (notabene)
130a Das Wort Gottes erhellt und vertieft die Selbsterkenntnis und die Einsicht von den Dingen, von Gott. Es wird nach und nach zur Mentalität, zum Urteilskriterium, zur Erkenntnisquelle. Und so beginnt das Leben des "Glaubens". (Fs)
Bei dieser Umkehr verändert sich die Natur des Ausblicks auf die Zukunft, die Natur der Wünsche und Sehnsüchte, der Erwartungen. Der Mensch, ursprünglich auf die Erde bezogen und gekrümmt, öffnet sich der "Hoffnung", die zuversichtliches Streben nach der Fülle des Reiches Gottes ist. (Fs)
Die Welle der Vergöttlichung berührt den inneren Kern des geschaffenen Geistes, wenn es ihr gelingt, die menschliche Liebe zu verwandeln und der Liebe ähnlich zu machen, mit der Jesus sich dem Vater und den Brüdern schenkt. Und das ist die "Nächstenliebe", die das ganze Geschöpf erneuert und erhöht und in die Freundschaft und Vertrautheit mit Gott einführt. Das alles wirkt der Heilige Geist, der vom Auferstandenen gesandt wird und uns durch diese Verwandlung immer enger mit Christus vereint und ihm ähnlich macht. (Fs)
130b Glaube, Hoffnung und Liebe sind in unserem Innersten offensichtlich Prinzipien, die ausstrahlen. Aufgabe des "aszetischen" Lebens, d. h. des in Grundsatztreue und Fügsamkeit voll entfalteten christlichen Lebens ist es, alle Hindernisse auszuräumen, damit diese Ausstrahlung auch die geheimsten Winkel unserer komplexen Wirklichkeit erreichen kann. (Fs)
Die Einwohnung des Heiligen Geistes
9. Die Liebe verwandelt also unsere Herzen kraft einer Gegenwart des Heiligen Geistes, die nun so intensiv geworden ist, daß sie als "Einwohnung" bezeichnet werden kann. Deshalb nennt die Offenbarung den Beistand immer wieder einen geheimnisvollen und wirksamen Gast des "neuen" Menschen. (Fs)
130c Der Heilige Geist ergreift uns und macht uns mit dem göttlichen Leben vertraut, indem er uns unmerklich in die lebendigen Akte der Erkenntnis und Liebe einbezieht, durch die Gott sich vollkommen besitzt; in dieselben Akte, aus denen das unaussprechliche Leben der Dreifaltigkeit ewig hervorströmt. (Fs)
131a Bei dieser wunderbaren Teilhabe können wir von einer wirklichen "Vergöttlichung" des Menschen sprechen, denn er wird in allen seinen Fasern vom Feuer des Heiligen Geistes durchdrungen, der in ihm Wohnung genommen hat. (Fs)
Die habituelle Gnade
10. Weil der Geist, der in uns wohnt, verwandelnd wirkt, wird der Mensch von ihm in seinem ganzen Wesen nicht von außen, sondern von innen her umgewandelt, wobei er seine persönliche Identität und seine Menschennatur beibehält. Aber er wird wirklich "neu" geschaffen. (Fs)
Das meint man gewöhnlich, wenn von "habitueller Gnade" die Rede ist. Sie kommt vom Heiligen Geist, ist aber nicht identisch mit ihm, dem ungeschaffenen Geschenk, sondern wird "unsere eigene" und deshalb "geschaffene", bleibende Neigung. (Fs)
131b Der Mensch, der so erneuert worden ist, hat die Gleichförmigkeit mit Christus wiedererlangt, in der er am Anfang erdacht und gewollt worden war. In ihm gibt es nichts mehr, was sich dem Plan Gottes widersetzt, und deshalb ist an ihm keine Verzerrung mehr festzustellen. Der Sündenzustand ist ausgelöscht, und der anfängliche Zustand der Gerechtigkeit ist wiederhergestellt. Durch diese Ausgießung des Heiligen Geistes hat der Sünder endlich die Rechtfertigung erlangt. (Fs)
Die Eingliederung in Christus
11. Durch das Geschenk des Heiligen Geistes werden wir lebendige Glieder unseres Herrn Jesus. (Fs)
Die Eingliederung in Christus ist ein wunderbares Bild, das die geheimnisvolle Wirklichkeit, die wir entdeckt haben, umfassend verdeutlicht. (Fs)
131c Sie schließt Gleichförmigkeit und Verbundenheit mit Christus ein: Und das sind Wirkungen, die der vom Auferstandenen gesandte Geist im Menschen hervorruft. Der Heilige Geist macht den Menschen Christus ähnlich, indem er ihm dieselbe Mentalität, dieselben Wünsche, dieselbe Liebe, dasselbe Gnadenleben, ja die Teilhabe am göttlichen Leben schenkt, die Jesus als Sohn Gottes in Fülle besitzt. Der Heilige Geist bindet den Menschen an Christus, weil er in das Geschöpf kommt, ohne seine vollkommene Einwohnung in der Menschheit Christi und seine Wesensgleichheit mit dem Wort zu unterbrechen. So ist der Besitz des Geistes Christi die beste Voraussetzung zur Vereinigung mit dem gekreuzigten und auferstandenen Herrn. (Fs)
Der "Heilige"
132a
12. Der Geist Gottes kennt keine Grenzen in seiner Ausgießung über die Welt. Alle geistlichen Reichtümer, die wir aufgezählt haben, können im Herzen eines jeden Menschen vorhanden sein, wie seine äußere Befindlichkeit auch immer sei. Die tatsächliche Verwirklichung dieser Sublimierung des Geschöpfes in den einzelnen Phasen bleibt jedoch immer ein Geheimnis Gottes. Uns ist es nicht gegeben, die "Landkarte" der Heiligkeit zu kennen, die das Ergebnis des ewigen Pfingsten ist. Der Grund, daß es unseren Augen verborgen bleibt, ist nicht nur und nicht in erster Linie das Geheimnis des Heiligen Geistes, sondern beruht ganz einfach auf dem Geheimnis der freien Antwort des Menschen, die dem Auge eines anderen Menschen verborgen bleibt. Die Gegenwart des Heiligen Geistes, von der wir gesprochen haben, ist im mündigen Gläubigen von seiner Öffnung und freien Zustimmung abhängig. Besser: Der Heilige Geist handelt immer zuerst, führt aber das Erneuerungswerk fort, indem er der freien Antwort des Menschen Raum läßt. Das ist von außen nicht vorauszusehen und, genaugenommen, nachher nicht mehr festzustellen. Infolgedessen ist es uns nicht gegeben, das Ausmaß des Glaubens, der Liebe und der heiligmachenden Gnade in der Welt zu erkennen. Nun sind wir so weit, daß wir auch verstehen, was mit dem Wort "heilig" gemeint ist: Heilig ist das, was der Geist des Auferstandenen unter Achtung und mit der Zustimmung der geschaffenen Freiheit hervorruft. (Fs) (notabene)
132b So versteht man, wie Heiligkeit überall zu finden ist, wo ein Menschenherz fähig ist, zum Geist "ja" zu sagen, so verschiedenartig und ungünstig auch die äußeren Bedingungen dafür erscheinen mögen (vgl. G. Biffi, Io credo, Mailand 1980, S. 157-161). (Fs) ____________________________
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