Autor: Biffi, Giacomo Buch: Sehnsucht nach dem Heil Titel: Sehnsucht nach dem Heil Stichwort: Christus - Haupt: Folgen; Mensch als Ikone Christ; irdische Werte; Christus als Urbild; Wahrheit über den Menschen; 2 Aspekt, 1 Ordnug ("Profanität" der Dinge) Kurzinhalt: Wenn die Herrschaft Christi nicht - zumindest stillschweigend - anerkannt wird, lehnen sich auch die Dinge gegen uns auf und überwältigen uns... Unser Verstand bleibt ohne dieses "Gedächtnis" nicht lebendig. Unser Wille kann sich ... Textausschnitt: B) Die Folgen
73c Die Wahrheit vom "Primat" Christi und seiner zentralen Rolle nicht nur in der Kirche, sondern auch im geschaffenen Universum hat tiefreichende Auswirkungen auf die christliche Sicht der Wirklichkeit. (Fs)
1. Jeder Mensch ist eine "Ikone Christi"
74a Jeder Mensch, wie auch sein Verhalten, seine Überzeugungen, seine Gemütsverfassung sein mögen, bleibt immer ein anfängliches Abbild Christi und ist deshalb in den vom Glauben erleuchteten Augen des Menschen "liebenswert". (Fs)
Deshalb gibt es im Christentum nicht das Gebot, den Gläubigen zu lieben, sondern den Nächsten zu lieben, auch wenn er geistig fremd und anders ist. Für uns ist jeder durch sein Menschsein eine "Ikone Christi". Natürlich ist es unerträglich, daß ein Abbild Christi durch Irrtum, Unglaube und Bosheit entstellt und verdunkelt wird. Wer also den Herrn Jesus liebt, bemüht sich darum, daß ihm alle näherkommen und ähnlicher werden. Jeder wahre Christ ist zum Apostolat unter den Menschen berufen. (Fs)
2. Jeder irdische Wert ist Widerschein des inneren Reichtums Christi
74b Wenn in Christus die ganzen Werte der Schöpfung zusammengefaßt sind, so daß er die Wahrheit, die Schönheit, die Heiligkeit ist, dann ist jeder authentische Wert, dem man in der Welt begegnet, Widerschein seines Lichtes. Jeder wahre Wert ist deshalb ursprünglich christlich. In der Natur und Geschichte, in der Forschung und Erfindung, in der Kunst und in der Kontemplation wird alles Wahre, alles Schöne und alles Gute, dem wir begegnen dürfen - vorausgesetzt, es ist wirklich wahr, schön und gut -, vom fleischgewordenen Wort her erhellt, das sich ohne Minderung ständig schenkt und überall manifestiert, wo es ein Geschöpf Gottes gibt. (Fs) (notabene)
Die Werte achten, hochschätzen und lieben, wo immer sie sich finden und welche Form sie auch angenommen haben, kann, wenn es reinen Herzens geschieht, auch ein unbewußter, aber realer Weg zu Christus und sogar zur Begegnung mit ihm sein. Christus im Glaubensakt besitzen, d. h. den Ursprung, den Höhepunkt, die Summe aller Wahrheit, aller Schönheit und aller Gerechtigkeit kennen, bedeutet aber auch, die Werte in bevorzugter Weise und besser aufzunehmen, als es diejenigen können, die sie verspürt und ausgedrückt haben, ohne Christus genau zu kennen. (Fs)
3. Christus ist das allumfassende Urbild
74c Wie alle Werte der Welt schon in gewisser Weise "christlich" sind, so ist alles, was existiert, in Christus ein Wert. (Fs)
75a Und weil dieser Christus der gekreuzigte und auferstandene Sohn Gottes ist, wie es im Plan Gottes konkret erdacht und gewollt wurde, damit er der Anfang und das Urbild der Menschen und des Universums sei, darum hat in ihm auch all das einen Wert, was dem Verstand allein als das Gegenteil erscheinen mag, wie z. B. das Leiden, der Mißerfolg, die Niederlage und der Tod. (Fs) (notabene)
Die nichtchristliche Vernunft kann darin keinen Wert entdecken. Damit ist die Vernunft gemeint, die noch nicht die wirklichen Dimensionen des konkreten Daseins in sich aufgenommen hat, wenn es wahr ist, daß das konkrete Dasein in Christus seine Mitte, sein Urbild, seine Rechtfertigung findet. (Fs)
Aber die vom Glauben erleuchtete Vernunft, die die Zentralität, Urbildlichkeit und Gesamtheit des gekreuzigten und auferstandenen Herrn kennt, zögert nicht - gerade weil sie wahrhaftig und voll "Vernunft" sein will -, den logischen Prozeß umzukehren: Die gesellschaftlichen Nichtwerte wie Leiden, Mißerfolg, Niederlage, Tod, sind, wenn sie in Christus und wie Christus gelebt werden, für uns zweifellos auch Werte. (Fs) (notabene)
75b Damit findet das Leiden, das für den Menschen ein Rätsel ist, eine christliche Lösung. (Fs)
4. Zwei Aspekte, eine Ordnung der Dinge
75c Es besteht ein klarer und unverwechselbarer Unterschied zwischen dem geschöpflichen Zustand, in den alle Dinge und alle Menschen natürlicherweise versetzt sind, und dem Heilszustand, in den wir durch das Opfer Christi und die daraus folgende Ausgießung des Heiligen Geistes gelangen. (Fs)
Aber diese beiden Befindlichkeiten oder Aspekte des Daseins bestehen in Christus, durch Christus und auf Christus hin (um an die dreifache Kausalität des Hymnus aus dem Kolosserbrief zu erinnern). Kann man deshalb von einer Weltlichkeit oder gar von einer "Profanität" der Dinge sprechen?
75c Ja, wenn damit gemeint ist, daß die Dinge eine eigene Struktur und folglich eine eigene natürliche Erkennbarkeit besitzen, die, wenn sie von der Sünde entweiht und in ihrer ursprünglichen Berufung verletzt wird, ebenso fortbesteht und mit dem Verstand zu erfassen ist, wie wenn sie von der umwandelnden Wirkung des Heiligen Geistes erreicht und erneuert wird. Zum Beispiel bleibt ein Mensch weiterhin Mensch, auch wenn er sich gegen den Plan Gottes auflehnt und von Christus getrennt hat, so wie er Mensch bleibt, wenn er lebendiges Glied des kirchlichen Leibes wird. (Fs)
76a Nein, wenn damit gemeint ist, daß die Dinge in dieser vorgesehenen Ordnung unabhängig von Christus existieren und daß sie ohne den grundlegenden Bezug auf Ihn ausreichend erfaßt werden könnten, denn er bleibt in jedem Fall, ob wir wollen oder nicht, ihr Haupt und Herr. Weil Christus nur im Glauben erkannt werden kann (d. h. als der tiefste und endgültige Sinn des Universums und insbesondere des Menschen), kann der Mensch und das Universum nur von demjenigen vollständig erfaßt und verstanden werden, der den Glauben als höchstes Erkenntnisprinzip anerkennt. Wir leben in keiner Schattenwelt. Die Dinge existieren wirklich. Jedes Geschöpf besitzt eine Gegenständlichkeit, eine eigene Natur und eine eigene Verständlichkeit. Die Geschöpfe sind keine leeren Gelegenheiten, die der Wirksamkeit Gottes dargeboten werden. Sie haben eine eigene sekundäre, aber wirkliche Kausalität. Das soll nicht heißen, daß die Welt ein Haufen einzelner, heterogener, unabhängiger Fragmente ist. Die Offenbarung über Christus als denjenigen, in dem alles erdacht worden ist, sagt uns, daß ein einheitlicher Gesamtplan besteht und daß jedes Ding als Teil eines Organismus existiert, der in Christus sein Haupt hat. Wenn das wahr ist, dann kann nichts vollständig erkannt werden, solange es vom Rest getrennt wird. Jedes getrennte Erkennen eines Geschöpfes ist immer nur eine abstrakte Erkenntnis, weil kein Geschöpf eine fragmentarische Existenz hat, sondern alle nach einem Plan und in einer zumindest anfänglichen und tief verwurzelten Verbundenheit leben. (Fs) (notabene)
Jede menschliche Wissenschaft hat ihre eigenen Methoden und Gesetze, die zu Recht respektiert werden müssen. Um die Fragen der einzelnen Fachbereiche zu beantworten, darf man nicht sogleich auf Jesus Christus als Antwort zurückgreifen. Aber getrennt von der Erkenntnis Christi schöpft keine Wissenschaft vollständig die Verständlichkeit ihres Objektes aus. Ebensowenig können wir durch eine Praxis, die nicht mit dem Gehorsam gegenüber dem Herrn Jesus verbunden ist, über das Universum in rechter Weise herrschen. (Fs) (notabene)
76b "Alles gehört euch; ihr aber gehört Christus, und Christus gehört Gott" (1 Kor 3,23). Alles gehört uns - unter der Bedingung, daß wir Christus gehören. Wenn die Herrschaft Christi nicht - zumindest stillschweigend - anerkannt wird, lehnen sich auch die Dinge gegen uns auf und überwältigen uns. (Fs)
77a In der Tat huldigt "die materialistische Zivilisation trotz 'humanistischer' Erklärungen dem Vorrang der Sachen über die Person", sagt Johannes Paul II. (vgl. Dives in misericordia 11). (Fs)
5. Christus lehrt die Wahrheit über den Menschen
77b Wenn der Mensch immer ein anfängliches Abbild Christi ist, ist jede wahre und echte Anthropologie auch beginnende Christologie: Wer in rechter und ehrlicher Absicht den Menschen betrachtet und liebt, erkennt etwas vom Geheimnis des Gott-Menschen, und seine Liebe führt ihn unwillkürlich hin zum Herrn Jesus, auch wenn es ihm nicht bewußt ist: "Denn ich war hungrig, und ihr habt mir zu essen gegeben" (Mt 25,35). (Fs)
Wenn es andererseits wahr ist, daß der Mensch Christus und nicht Christus dem Menschen nachgebildet ist, ist keine kulturelle Anthropologie imstande, uns das Geheimnis des wahren Adam und auch nicht das Geheimnis des Menschen wirklich verständlich zu machen; (gemeint sind die verschiedenartigen Menschenbilder, die uns immer wieder von den "Kulturen" angeboten werden, die im Lauf der Geschichte auftreten und die Weltbühne beherrschen). Nur Christus kann wirklich sagen, wer der Mensch ist, und derjenige, dem der Herr Jesus nicht vom Fleisch und Blut, sondern vom Vater im Himmel geoffenbart worden ist. (Fs)
77c Nur er weiß vollständig, was im Menschen ist, denn nur er trägt in sich das Bild des vollkommen verwirklichten Menschen. Deshalb ruft jeder von der Erkenntnis Christi getrennte Humanismus (oder, noch schlimmer, ein dem christlichen Glauben gezielt entgegengesetzter Humanismus) unweigerlich eine unmenschliche und menschenfeindliche Gesellschaft ins Leben. Das ist die traurige Lehre, die unser Jahrhundert unfreiwillig mit einer bisher noch nie dagewesenen Deutlichkeit und Reichweite erteilt. (Fs)
Schlußbemerkungen
77d Wir haben versucht, in dieser kurzen Zeit Christus näherzukommen. Wir sind uns auch dessen bewußt, daß er im christlichen Sinn des Wortes ein "Geheimnis" ist: das heißt eine Wirklichkeit, die uns übersteigt und uns gerade deshalb heilt. Denn alles, was uns nicht übersteigt, ist zu gering für uns und muß wie wir geheilt werden. Wir haben versucht, dem Geheimnis Christi näherzukommen, und achteten darauf, seine Einzigkeit zu erfassen und zu respektieren: Wenn man ihn auf unsere Ebene und auf die Ebene unserer sozialen, kulturellen, wirtschaftlichen oder politischen Interessen reduzieren will, nivelliert man ihn und macht ihn zum Schluß unbedeutend und unnütz. (Fs)
78a Wir haben versucht zu verstehen, warum die Einzigkeit ihm universelles und notwendiges Gewicht verleiht: Kein Volk und keine Kultur dürfen ihn schuldhaft außeracht lassen, sonst werden sie menschenfeindlich. Keine Geschichtsepoche darf ihn für überholt halten, wenn auch alle mehr oder weniger dazu neigen, dies zu denken. Kein Mensch darf sich bewußt von ihm trennen, sonst verliert er sich als Mensch. Christus ist kein Luxus, keine fakultative Option, kein Ideenschmuckstück. Seine Gegenwart oder seine Abwesenheit (das heißt, wenn wir ihn aufnehmen oder ablehnen) berühren unseren Wesenskern und entscheiden unser Schicksal. Er ist der Herr, und er will, daß wir ihm in unseren Gedanken, in unseren Entscheidungen, in unserem Leben Raum geben. Unser Verstand bleibt ohne dieses "Gedächtnis" nicht lebendig. Unser Wille kann sich ohne diesen "Gehorsam" nicht aufrechthalten. Unser Menschsein verwirklicht sich nicht voll, wenn es nicht in dieser Verbundenheit und in dieser Übereinstimmung zu wachsen sucht. Er ist der Herr, und er darf aus keinem Winkel unseres Daseins ausgeschlossen werden. (Fs)
78b Er ist der Herr, obwohl er sich niemandem aufdrängt, sondern sich pausenlos der freien Zustimmung aller anbietet. Die Freude, daß er da ist, besiegt jede mögliche Traurigkeit in unserem Leben. Die Augen, die ihn im Glauben betrachtet haben, können die Welt und Geschichte nicht mehr voll Verzweiflung anblicken. Das Herz, das sich ihm geöffnet hat, hat sich dem Universum geöffnet und kann sich nicht mehr in die eigene Engherzigkeit einkapseln. Weil er da ist, sind wir ein erlöstes Volk. Weil er da ist, sind wir eine Kirche. Weil er da ist, muß alles neu werden. Jedes Nachdenken über Christus muß ein neues Menschsein in Christus zur Folge haben. (Fs) ____________________________
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