Datenbank/Lektüre


Autor: Biffi, Giacomo

Buch: Sehnsucht nach dem Heil

Titel: Sehnsucht nach dem Heil

Stichwort: Wer ist Jesus Christus? Meinung (der Welt): Mythos, Legende, Idee, Religionsführer, Revolutionär, Sozialpolitiker

Kurzinhalt: Es hat den Anschein, als bemühten sich die "Leute" unbewußt ... Jesus von Nazaret auf etwas schon Bekanntes, etwas bereits Feststehendes, etwas "Normales" zu reduzieren: Wichtig ist nur, daß man ihn in eine von der menschlichen Erfahrung vorgesehene ...

Textausschnitt: A) Für wen halten die Leute Jesus Christus?

46a Wenn man die "Leute" befragt, erhält man in Bezug auf Christus nichts Gewisses zur Antwort, sondern sehr unterschiedliche, vielfältige Meinungsäußerungen. Wir wollen sie der Reihe nach untersuchen und in drei Gruppen einteilen, um die Sache zu erleichtern. (Fs)

1. a) Jesus ist für viele ein Mythos, der das Leben bereichert und ausgeschmückt hat, ohne daß er selbst lebendig ist; etwa wie Orpheus in der griechischen Antike und, etwas bescheidener, wie der Weihnachtsmann im säkularisierten Westen. So ist auch manchmal vom "Christkind" die Rede. (Fs)

b) Für manche ist Jesus eine legendäre Gestalt, die, gerade weil sie nie wirklich existierte, nach und nach göttliche Züge angenommen hat. (Fs)

c) Für andere ist Jesus eine göttliche Idee, ein Glaube, ein geistiger Aufschwung, der nach und nach im Bewußtsein einer Gruppe von Menschen das Aussehen und die Natur eines Menschen angenommen hat. (Fs)

Im Grunde eine übermenschliche, aber irreale Größe. (Fs)

46b
2. Jesus - sagen wiederum andere - sei ein Mensch, ein außergewöhnlicher, aber doch schlicht ein Mensch, der durch seine besondere Ausstrahlung, sein sublimes Denken und seine einzigartige Persönlichkeit der Weltgeschichte einen neuen Impuls gegeben hat: mit einem Wort, er ist für diese Leute ein Genie. (Fs)

a) Mancher sagt: Jesus sei ein Religionsführer, der die höchste Wahrheit der Dinge mit äußerster Klarheit und Intensität erfaßt und die Vaterschaft Gottes, den Kult "im Geist und in der Wahrheit" und das Gebot der Nächstenliebe entdeckt hat. (Fs)

b) Mancher sagt: Jesus sei ein großer Philosoph, der die Bedeutung des subjektiven Gewissens und den Vorrang der Innenwelt vor der Außenwelt offenbart hat. (Fs)

47a
c) Man sagt auch: Jesus sei ein großer Sozialpolitiker, der die grundlegende Gleichheit der Menschen bekräftigt und das Streben nach Gerechtigkeit hochgeschätzt hat. (Fs)

d) Man sagt auch: Jesus sei ein genialer Politiker, der in der Menschheitsgeschichte den Einsatz und das Ideal der "Befreiung" von allen Formen der Gewalt und von allem äußeren Druck und Zwang eingeführt hat. Er ist für diese Gruppe eine reale, aber keine übermenschliche Größe. (Fs)

47b
3. Jesus - so lautet eine weitere Meinung - sei ein Mensch, der sicher gelebt habe, aber über den man nichts Gewisses erfahren kann. Die Beweise, die wir besitzen, deuteten alle auf Christus hin, an den die christliche Urgemeinde geglaubt, den sie geliebt und angebetet hat. Aber dadurch ließe sich nicht erklären, wer der geschichtliche Jesus wirklich war. Er sei also ein historisches Rätsel, das nicht zu lösen ist. (Fs)

Kommentar

47c
1. Allgemein ist festzustellen, daß das Urteil der "Leute" über ihn absichtlich gut und positiv ist. Niemand oder fast niemand spricht schlecht über ihn. (Fs)

2. Die kritische Prüfung dieser Meinungen, d. h., daß man die in ihnen enthaltene Wahrheit sowie ihre Grenzen und ihre ganze Unhaltbarkeit aufzeigt, erfordert eine langwierige, aber keineswegs schwierige Analyse. Sie ist andererseits auch Aufgabe des mündigen Christen, wenn er seinen Glauben in vernünftiger Weise leben will. Aber hier in dieser Betrachtung unter Glaubenden stellen wir uns diese Aufgabe nicht. Wir nehmen uns nur den Vergleich zwischen den beiden Haltungen vor - die der "Leute" und die der "Kirche" -, um die beiden Ansätze zum Zwecke unserer Annäherung an das Geheimnis Christi aufzuzeigen und festzustellen, daß sie völlig unvereinbar sind. Dieses Nachdenken will nur die besagte, in unserem Inneren sich abspielende "friedliche Koexistenz" von "Welt" und "Kirche", von der Meinung der "Leute" und der uns vom Vater geschenkten Erkenntnis, erschüttern und wenn möglich auslöschen, damit wir zunehmend in Grundsatztreue und der Reinheit des Glaubens leben. (Fs)

48a
3. Obwohl die Meinungen der "Leute" unterschiedlich sind, haben sie gemeinsam, daß Jesus von Nazaret eingeordnet werden kann: "einer der Propheten". (Fs)

Ist er ein Mythos? Die Geschichte ist voll von Mythen. Ist er eine Idee, die das menschliche Leben geprägt hat? Dann wäre er mit der Gnosis der antiken Welt oder mit dem Marxismus der modernen Welt zu vergleichen. (Fs)

Ein Religionsfuhrer? Dann können wir ihn unter Buddha, Mose und Mohammed einreihen. (Fs)

Ein Philosoph? Platon und Aristoteles hätten ihn als Begleiter. Ein Sozialkritiker? Er könnte neben den Enzyklopädisten des 18. Jahrhunderts und neben Marx stehen. (Fs)

Ein Aufwiegler? Spartakus, Masaniello und Bakunin wären noch besser als er. (Fs)

Ein Befreier? Stellen wir ihn neben Simon Bolivar und Giuseppe Garibaldi. (Fs)

Ein Mensch, von dem man nichts Gewisses weiß? Dafür gibt es andere Beispiele: Homer, Pythagoras und sogar Sokrates wären ihm gleichzustellen. (Fs)

48b Es hat den Anschein, als bemühten sich die "Leute" unbewußt, auch wenn sie die ausgefallensten Hypothesen über ihn anstellen und gewöhnlich ein wohlwollendes Urteil abgeben, Jesus von Nazaret auf etwas schon Bekanntes, etwas bereits Feststehendes, etwas "Normales" zu reduzieren: Wichtig ist nur, daß man ihn in eine von der menschlichen Erfahrung vorgesehene Kategorie einordnet. Wenn er dann in einem Fach untergebracht und beschriftet ist, gilt er als nichts Besonderes mehr und stört nicht. (Fs) (notabene)

____________________________

Home Sitemap Lonergan/Literatur Grundkurs/Philosophie Artikel/Texte Datenbank/Lektüre Links/Aktuell/Galerie Impressum/Kontakt