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Autor: Biffi, Giacomo

Buch: Sehnsucht nach dem Heil

Titel: Sehnsucht nach dem Heil

Stichwort: Gott; Gottesfrage; Dilemma, 3 existentiellen Dilemmata: Zufall oder Plan - Tod - Grenze d. Erkenntnis (Sichtbare); Scheinproblem: Urknall, Abstammung; Beweisnot (areligiöser Mensch): Gott gibt es nicht: unvernünftigste aller Sicherheiten

Kurzinhalt: Was war schon vor mir da? Was hat mein Dasein hervorgerufen? ... Der "areligiöse" Mensch ist derjenige mit der gewagtesten und unvernünftigesten aller Sicherheiten: der Gewißheit, daß es etwas nicht gibt.

Textausschnitt: B) Die Dilemmata des Daseins
23a
1. Was war schon vor mir da? Was hat mein Dasein hervorgerufen?

Diese grundlegende und vorrangige Frage stößt auf ein ebenso grundlegendes und vorrangiges Dilemma: Entweder ist mein Dasein einem Zufall zu verdanken, oder es liegt ihm ein Plan zugrunde. Daß ich bin, hat seinen Grund entweder im Zufall oder in einem vernünftigen Entschluß. Jede andere Hypothese würde sich sehr bald als vorläufig oder vordergründig erweisen. Weil man unter Zufall "Abwesenheit eines vernünftigen Plans" versteht, widersprechen sich die beiden Antworten und erlauben keine Zwischenlösungen: Das ist das "Dilemma". (Fs)

Seit einigen Jahrhunderten stehen wir alle unter dem Einfluß der verschiedenen Ideologien der Humanwissenschaften, die sich ständig wandeln. Man findet keinen Ausweg, und man begreift nicht, wie einfach das Dilemma zu lösen ist. (Fs)

23b Wenn wir danach forschen, ob der Mensch vom Affen abstammt oder nicht; ob das organische Leben spontan aus unorganischer Materie hervorgegangen ist; ob das Sonnensystem seinen Ursprung in einem Urnebel hatte; ob die Entwicklung des Kosmos durch den "big bang", d.h. eine uranfängliche Explosion, in Gang gesetzt wurde, hat das für uns persönlich kein großes Gewicht. Das sind wissenschaftliche Probleme und eine interessante Aufgabe für die Anhänger der Biologie, der Paläontologie, der Astrophysik und aller anderen wunderschönen Fachzweige. Das, was wirklich zählt, ist: zu wissen, ob die in meiner Vorgeschichte stattgefundenen Prozesse zufällig oder gewollt waren. Das ist die einzige Frage, die den Menschen unabhängig von seinem Bildungsniveau beschäftigen sollte. Die Entscheidung für eine der beiden möglichen Lösungen hat tiefgreifende Folgen für das ganze Dasein. (Fs) (notabene)

23c Wenn mein Dasein einem Zufall zu verdanken ist, wird der Zufall meine Lebensregel. Es ist nicht einzusehen, warum man sich von der Vernunft und vom Willen leiten lassen soll, wenn man zufällig geboren ist, d. h. ohne den Eingriff einer Vernunft und eines Willens. Wer nicht die Wahrheit eines Planes als Voraussetzung für sein Auf-die-Welt-Kommen anerkennt, dessen Leben hat als inneres Gesetz die Abwesenheit jeden Gesetzes und als Verhaltensprinzip die Verneinung jedes Prinzips. Seine Haltung und sein Tun werden von der absoluten Anarchie geleitet. Was zufällig begonnen hat, muß zufällig fortschreiten. (Fs) (notabene)

24a Aber der Mensch ist in dieser Hinsicht glücklicherweise inkonsequent. Auch die unduldsamsten und konsequentesten "Anarchisten" scheinen zum Glück bei näherem Betrachten ihrer Taten ausnahmslos tausenderlei inneren Gesetzen und eisernen Verhaltensregeln unterworfen. Ja, gewöhnlich sind sie bigotte Anbeter von "Idolen", das heißt von Grundsätzen, die ohne vernünftige Begründung in ihnen die lebendige Rolle der Wahrheit übernommen haben. (Fs) (notabene)

24b Wenn aber meinem Dasein ein Plan zugrunde liegt, dann ist es meine Aufgabe, mich um meine persönliche Übereinstimmung mit dem Plan, der mich gewollt hat, zu bemühen. Wenn ich aus einem vernünftigen Willensakt geboren bin, dann bin ich und muß ich ein bewußtes und freies Gegenüber sein. Wenn ich aus der Liebe hervorgegangen bin, dann bin ich berufen, durch mein Leben auf die Liebe zu antworten. Wenn mein Leben aus einem Plan hervorgegangen ist, dann ist der Sinn meines Lebens der Gehorsam gegenüber dem Plan, der mir vorausgegangen ist. (Fs)

2. Was kommt nach dem Tod? Auch das ist eine "menschliche" Frage, das heißt eine Frage, die den Menschen als solchen betrifft. Sie ist an keine bestimmte "Kultur" gebunden, und ist weder auf religiöse Schläue noch Machthunger zurückzuführen, auch wenn man uns das manchmal einreden will. Fragen zu stellen ist nie eine ideologische Überheblichkeit. Aber es ist ideologisch überheblich, durch tausenderlei Kunstmittel zu verhindern, daß jede beliebige Frage frei gestellt werden kann. (Fs)

24c Auch diese zweite Frage bringt uns in ein Dilemma. Nachdem in diesem Falle ohnedies alle Hypothesen vorläufig sind und einer "späteren Lösung" harren, gibt es zunächst einmal nur zwei denkbare Möglichkeiten: Entweder ist nachher der Untergang oder das ewige Leben. Untergang und ewiges Leben, beide beziehen sich auf den Menschen, der sich bewußt diese Frage stellt, und sie beziehen sich auf ihn, insofern er sich ihrer bewußt ist. Denn ein eventuelles Weiterleben, ohne daß mein Bewußtsein und meine einmalige Identität fortbestehen, ist für mich uninteressant. Es würde ja den Untergang des Menschen bedeuten, der sich selbst erforschen will. Keine noch so gute Rhetorik kann dies vor mir verbergen. (Fs)

25a Es ist merkwürdig, daß so viele Menschen, die sich für mächtig und fortschrittlich halten, sich zumindest nach außen hin mit romantischen und vagen Behauptungen zufriedengeben. Zum Beispiel, wenn man vom Fortbestehen des Einzelnen in einer erweiterten Wirklichkeit wie der Natur, dem Vaterland, der Arbeiterklasse oder der "leuchtenden Zukunft" der Menschheit spricht. Es gibt kein Weiterleben, wenn es nicht den Einzelnen, den bewußten Einzelnen betrifft. Alles andere ist einfach reiner Untergang, auch wenn man ihm angenehmere und weniger lästige Namen gibt. (Fs)

Ja, hier ist zu beachten, daß die kollektiven Wirklichkeiten wie Vaterland, Gesellschaftsklasse oder Menschheit nur dann als wahre Werte, die das Opfer des Einzelnen verdienen, betrachtet werden können, wenn der Einzelne das ewige Leben als Bestimmung hat und er selbst einen wahren Wert darstellt. Im andern Fall verliert alles an Bedeutung, denn die Summe unzähliger Nullen ergibt immer als Resultat Null. (Fs)

Auch wenn sich dieses Dilemma auf das "Nachher" bezieht, bestimmt es meinen jetzigen Standort und den Sinn meines Erdenlebens. (Fs)

25b Wenn das Ziel das Nichts ist, ist das Nichts schon jetzt, trotz des farbenprächtigen Anscheins, die einzige Wirklichkeit. Wenn das Leben auf das Nichts zugeht, lebt man schon jetzt im Nichts. Wenn ich hingegen auf das ewige Leben zugehe, ist die Ewigkeit schon jetzt in gewisser Weise in mir, denn die Bestimmung eines Menschen geht in den Menschen selbst ein. (Fs) (notabene)

3. Sind die Grenzen des "Sichtbaren" auch die Grenzen allen Daseins? Oder, was dasselbe ist: Besteht die Möglichkeit, daß es außer der "sichtbaren" Welt noch etwas anderes gibt? (Fs)

25c Wir beziehen uns hier, wohlgemerkt, nicht so sehr auf die "Tatsache", sondern auf die "Möglichkeit" der Existenz des "Unsichtbaren"; das heißt, auf etwas, das jenseits desjenigen Erkenntnisaktes liegt, der als einzige annehmbare Forschungsmethode die mathematische Beweisführung und empirische Prüfung anerkennt. (Fs)

26a Auch das ist ein Dilemma, dem der Mensch nicht ausweichen kann. Er muß sich für den einen oder den anderen Ausblick entscheiden. Und wenn er manchmal meint, nicht entscheiden zu müssen und seine unbefleckte Neutralität bewahren zu können, reiht er sich im konkreten Geistesleben doch irgendwo ein. So sehr er auch theoretisch und absichtlich jede Entscheidung verweigern will - in der konkreten Wirklichkeit nimmt er das mögliche Vorhandensein der un-sichbaren Welt ernst, oder er nimmt es nicht ernst. Die Entscheidung für eine dieser beiden Haltungen hat schon im sichtbaren Leben schwerwiegende und entscheidende Folgen. Wer von vornherein sich dem Unsichtbaren verschließt, findet sich auf einen Raum eingeengt, der schon auf den ersten Blick auch für die einfachsten menschlichen Grundinteressen zu eng erscheint. Zum Beispiel, wenn er völlig unkritisch und apriorisch die Frage nach einem möglichen Weiterleben seiner Lieben mit Nein beantwortet hat. Woraus sich dann viele andere "existentielle Fragen" ergeben, z. B.: Warum liebt der Mensch jemanden, der nicht mehr ist, der ja theoretisch auch nicht mehr existieren kann? Vor allem die Enge der sichtbaren Welt versetzt uns, wenn wir jeden Aufbruch zur Höhe ausgeschlossen haben, unweigerlich in einen Zustand der Bedeutungslosigkeit, der an das Absurde grenzt, denn - wie es so schön heißt - "der Sinn des Universums ist nicht das Universum". (Fs)

26b Wer sich hingegen der Möglichkeit des Unsichtbaren öffnet, betritt einen Raum, wo die Möglichkeiten praktisch unbegrenzt sind, so daß man alles erwarten und nichts vorhersehen kann. Vom Unsichtbaren ist jede mögliche Überraschung zu erwarten. Entweder ist das Universum leer und dann natürlich auch taub und stumm; oder es ist möglicherweise bevölkert. Dann hoffe ich auch, daß es dort viele Wesen gibt, die unsere Rufe hören können und ihre Stimmen zu uns gelangen lassen. (Fs)

Der von Natur aus "religiöse" Mensch schließt "a priori" nichts aus. Er weiß, daß es schwierig ist, die Existenz von etwas zu beweisen, aber noch viel schwieriger, die Nichtexistenz von etwas unwiderlegbar zu beweisen. (Fs)

26c Der "areligiöse" Mensch ist derjenige mit der gewagtesten und unvernünftigesten aller Sicherheiten: der Gewißheit, daß es etwas nicht gibt. Das ist außerdem eine Gewißheit, die nur Gott zusteht. Nur er ist allwissend und kann die Dinge nennen, die es nicht gibt. (Fs) (notabene)

27a Hier bricht ein Idol der vorherrschenden Kultur der vergangenen Jahrhunderte zusammen, nach dem nur das existiert, was menschlich erfaßbar ist. Wahr und vernünftig ist aber das Gegenteil: Ich kann nur sicher sein, daß etwas nicht existiert, solange es auf die sichtbare Welt begrenzt ist. Zum Beispiel kann ich, nachdem ich die Erde und das Meer komplett durchforscht habe, zu der vernünftigen Überzeugung gelangen, daß es irdische Geschöpfe wie den Hippogryphen, die Zentauren und die Sirenen nicht gibt. Aber ich darf keinesfalls, wenn ich nicht unvernünftig werden will, zu der Überzeugung gelangen, daß es keine Cherubim gibt. (Fs) (notabene)

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