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Autor: Scheffczyk, Leo

Buch: Aufbruch oder Abbruch

Titel: Aufbruch oder Abbruch

Stichwort: Kritik; H. Küng, "Christ sein" - Herausforderung an die Kirche 2; Zeichen der Krise: Verlust des: Glaubensinhalt (dafür leerer Akt des Vertrauens), Fehlen d. Wahrheitsfrage (Adorno); Erfüllungsgehilfen des Zeitgeistes; Dogma: doxologischen Moment

Kurzinhalt: Eine solche Kirche besitzt nicht einmal mehr das rechte Augenmaß für die Beurteilung der Auswirkungen und «Erfolge» dieser Anbiederung an den Zeitgeist. Man könnte ja doch meinen, daß wenigstens die eklatanten Mißerfolge dieses wahrheitsvergessenen ...

Textausschnitt: 45c Dabei ist jedoch zu beachten, daß zum Wesen des katholischen Glaubens auch und gerade das lehrhafte Moment und das inhaltliche Element hinzugehört, obgleich selbstverständlich der Glaube als personaler Akt der Hingabe und des Vertrauens auch ernst genommen werden muß. Aber die heutige Krise betrifft ja nicht den «Vertrauensglauben», der rein akthaft und personalistisch verstanden, gar kein Spezifikum des christlich-katholischen Glaubens ist; das in dem Buch immer wieder geforderte «Grundvertrauen» zur Wirklichkeit können tatsächlich auch die angesprochenen Atheisten und Agnostiker aufbringen, wovor man als Christ Respekt bezeugen wird, ohne hier eine Verwirklichungsform christlichen Glaubens anzunehmen, was die Atheisten auch als Unterstellung ablehnen würden. (Fs)

46a Es ist sogar ein besonders signifikantes Zeichen der Krise, daß die Verlagerung der Gewichte vom inhaltlichen Glauben auf einen inhaltslosen Akt des Vertrauens, von Wahrheit zur Wahrhaftigkeit, von der Erkenntnis zum Engagement so drastisch und einseitig vorgenommen wird. Was dabei vor sich geht, ist nichts Geringeres als die Ausschaltung der Wahrheitsfrage aus dem Glauben. Die Konsequenzen dieser Verlagerung kann man sich an einem heute vielberufenen Beispiel klarmachen, nämlich an der auch in dem Buch voranstehenden Forderung nach der «Nachfolge Christi». Heute ist immer wieder zu hören, daß nicht das theoretische Wissen von Glaubensgegenständen selig mache (was, recht verstanden, eine Selbstverständlichkeit ist), sondern die praktische Nachfolge Christi. Aber dieser Auffassung ist die Frage entgegenzuhalten: Wie kann und darf man Christus nachfolgen, wenn man die Wahrheitsfrage nicht gestellt und mit denkerischer Verantwortung geprüft hat, wer dieser Christus ist und war? Käme bei dieser Frage nämlich heraus, daß es sich bei Jesus Christus nur um einen höheren, gottinnigeren Menschen handelte, dann wäre «Nachfolge» im religiösen Sinn eine Art Vergötzung und Erneuerung archaischen Heroenkultes. (Fs) (notabene)

46b Der Glaube kommt also ohne die Frage nach der inhaltlichen Wahrheit nicht aus, wie es Th. W. Adorno bestimmt formulierte: «Wird Religion um eines anderen als ihres eigenen Wahrheitsgehaltes willen angenommen, so unterminiert sie sich selber»1. Das Buch stellt diese Frage nicht mehr. Das ist nicht nur an den vielen Fehlauffassungen im einzelnen nachzuweisen, sondern auch an der Tatsache, daß hier nur die Schlußfolgerungen aus den Thesen des Autors über die «Unfehlbarkeitsfrage» gezogen werden. Dort wurde mit einer gewissen Monotonie immer wieder erklärt: menschliche Aussagen können wahr und falsch (zugleich) sein, so daß es keinen Irrtum ohne einen Wahrheitskeim gibt, aber auch jede menschliche Wahrheitsaussage «an Irrtum grenzt». Deshalb könne die Kirche auch keine endgültigen Wahrheiten aussagen. Vor allem die gegen den Irrtum gerichteten Aussagen seien nur halbe Wahrheiten, die besser als halbe Irrtümer bezeichnet zu werden verdienen. Deshalb könne die Kirche auch nicht verbindlich sprechen, sondern allenfalls situationsbedingte Hinweise geben, die letztlich nur dann Geltung beanspruchen können, wenn sie von der Mehrheit angenommen würden. Die Wahrheit ist hier als etwas Situationsbedingtes, etwas Zeitgebundenes und «Geschichtliches» erklärt, das sich zu einer anderen Zeit geradezu ins Gegenteil verkehren könne, vor allem, wenn es der Meinung der Mehrheit entspreche. Nach diesem Grundsatz geurteilt, hätten z.B. die «Deutschen Christen» in der Naziaera die Wahrheit auf ihrer Seite gehabt, weil sie tatsächlich dem herrschenden Zeitgeist entsprachen.Gerade in dieser für das Christentum entscheidungsvollen Auseinandersetzung sprach D. Bonhoeffer das Wort: «Nur als die Kirche, die die Wahrheit des Evangeliums verkündet, können wir sprechen»2. Daran schloß er die Warnung an: «Mit der Wahrheit darf man nicht spielen, sonst vernichtet sie uns. Wir spielen hart am Abgrund. Wenn uns hier die Augen aufgingen!»3. (Fs)

47a Es ist leider nicht zu erkennen, daß die Kirche der Gegenwart insgesamt diesen Abgrund sähe und daß ihr die Augen bezüglich der Notwendigkeit der Wahrheitsfrage aufgegangen wären. Es trifft vielmehr das Gegenteil zu, daß das Verständnis für die Notwendigkeit der Wahrheit im Glauben weithin geschwunden ist. Statt dessen beherrscht ein unbekümmerter Pragmatismus und ein eilfertiger Opportunismus das Feld. Man fragt nicht mehr nach der wahren Lehre, sondern spricht vom «modernen Lebensgefühl», vom «veränderten Zeitbewußtsein» und von der «neuen Denkungsart», der die Kirche entsprechen müsse, um die Menschen zu erreichen und in ihrer Situation «abzuholen». Es wird so beinahe gleichgültig, womit die Kirche das tut und was sie dabei an die Menschen heranträgt. Wichtig ist nur, daß es ankommt, daß es in die Landschaft paßt und nicht unmodern erscheint. So wird auch im wissenschaftlichen Bereich eine reine «Gebrauchstheologie» entwickelt mit unaufhörlichen Appellen an das Gewissen und zum Engagement, was außerhalb der Theologie von den Wissenschaften bereits eindeutig als Verfallserscheinung erkannt wurde4. (Fs) (notabene)

47b Im Sog dieser Mentalität drohen weite Kreise in der Kirche zu einfachen Erfüllungsgehilfen des Zeitgeistes zu werden. Der inhaltlich bestimmte Glaube ist etwas so Beliebiges geworden, daß der Begriff einer «Sünde gegen den Glauben», die in der überlieferten Lehre als die schwerste aller Sünden angesehen wurde, fast völlig geschwunden ist. (Fs)

Deshalb tritt an Stelle des eindeutigen Bekenntnisses der Glaubenswahrheit das Experimentieren mit ihr und der Versuch, sie künstlich zu erzeugen durch unablässiges «Hinterfragen», durch endloses «Diskutieren» und angeblich kritisches «Reflektieren», wobei man nicht mehr merkt, daß solches «Diskutieren» und «Reflektieren» Hand in Hand geht mit einer zunehmenden denkerischen Zucht- und Disziplinlosigkeit. (Fs)

47c In dieser auch in die Kirche eingebrochenen Vermassung des Denkens wird dann, in einer scheinbar überzeugenden Wendung, dem angeblich theoretischen und so unlebendigen Anspruch der Wahrheit die Forderung nach Liebe entgegengesetzt. Dabei kann natürlich von einem solchen Denken nicht mehr bedacht werden, daß die wahre Liebe gerade auch Liebe zur Wahrheit sein muß. Wer nämlich die Wahrheit aufgibt, entzieht sich selbst und dem anderen den entscheidenden Wert, den er zur Verwirklichung seines Glaubens und zum Gewinn seines endlichen Heiles braucht. Das hat D. Bonhoeffer noch gewußt, wenn er sagte: «Nur wenn man dem anderen die Wahrheit nicht vorenthält, handelt man brüderlich mit ihm. Sage ich ihm nicht die Wahrheit, so halte ich ihn für einen Heiden. Sage ich dem Andersmeinenden die Wahrheit, so geschieht die Liebe, die ich ihm schulde»5. (Fs)

48a Eine Kirche, die sich in Verbeugung vor allem und jedem gefällt, die sich einer Gefälligkeitsgesellschaft angleicht und die es gerade noch wagt, an den immer noch am eindeutigsten ausfallenden Stellungnahmen des Papstes Kritik zu üben (weil das halt auch «zeitgemäß» ist), droht nicht nur die Wahrheit, sondern auch die Wahrhaftigkeit zu verlieren. Eine solche Kirche besitzt nicht einmal mehr das rechte Augenmaß für die Beurteilung der Auswirkungen und «Erfolge» dieser Anbiederung an den Zeitgeist. Man könnte ja doch meinen, daß wenigstens die eklatanten Mißerfolge dieses wahrheitsvergessenen Anbiederungsstrebens gelegentlich nachdenklich machen müßten. Aber wer das Erkennen der Wahrheit (und das heißt Denken) grundsätzlich sistiert, kann es auch in einem Einzelfall nicht wiederfinden. (Fs) (notabene)

48b Natürlich wird dieser Forderung nach dem Ernstnehmen des Wahrheitsgehalts des Glaubens sofort der Einwand begegnen: hier komme das typisch intellektualistische Mißverständnis zum Vorschein, das unter Wahrheit nur theoretisches Wissen und abstrakte Inhalte verstehe. Gegen eine solche «sterile Orthodoxie» steht heute eine «lebendige Orthopraxie». In Wirklichkeit ist in diesem Argument natürlich auch wieder ein Denkfehler enthalten, insofern der Begriff der «Orthopraxie» (in dem orthos) das Moment des Rechten, des mit der Norm Übereinstimmenden und d. h. des Wahren in sich schließt. So muß sich eben auch die menschliche Praxis (und erst recht die Praxis der Kirche) an einer vorgegebenen Wahrheit bewähren. Der Einwand ist also in sich unhaltbar. Er kommt aus einem subjektivistischen Wunschdenken, das eine Praxis ausüben möchte, ohne «orthodox» sein zu müssen, das aber auch umgekehrt mit dem Vorwurf spielt, daß man «orthodox» sein wolle, ohne die Wahrheit im Leben zu verwirklichen. Hinter diesem Einwand steht ein (vielleicht eigens hergestelltes) Zerrbild von der Wahrheit, das es dem Menschen ermöglichen soll, sich ihren strengen Forderungen zu entziehen, indem er einmal auf die «Orthopraxie», zum anderen auf die «Orthodoxie» ausweicht, und so in jedem Falle den vollen Anspruch der Wahrheit «halbiert». (Fs)

49a Demgegenüber ist das rechte Verständnis der Wahrheit wieder in Erinnerung zu rufen, auch derjenigen Wahrheit, die sich im Wort oder im Dogma der Kirche erschließt, das im Grunde nur eine Ausweitung des Christusereignisses in die Leiblichkeit der menschlichen Sprache ist. Von solch einer «Verleiblichung» behaupten zu wollen, sie sei etwas rein Theoretisches, heißt den Heilsrealismus katholischen Glaubens vollkommen zu verkennen. Aber es ist (logisch zuvor) schon irrig, die Wahrheit und ihre Erkenntnis durch den Menschen als etwas Theoretisches zu betrachten. In Wirklichkeit ist jede Wahrheitserkenntnis, zumal die des Glaubens, ein Lebensakt, der das Erkennen wie das Wollen des Menschen ganz beansprucht. Die Annahme des Glaubens ist, wie besonders der biblische Begriff des «Glaubensgehorsams» (Vgl. Rom 1,5; 6,17) verdeutlicht, ein totaler Lebensakt, in dem Erkennen und Wollen, Verstehen und Werten sich zusammenschließen. Keiner kommt zur Erkenntnis einer Glaubenswahrheit, der nicht auch den ethischen Willen zur Wahrheit einsetzt. Das liegt zuletzt daran, daß nach christlichem Verständnis der Urgrund aller Wahrheit oder die Wahrheit schlechthin - Gott selber ist. (Fs)

49b Dieser Gott aber ist in seinem Wesen die Einheit von Erkennen und Wollen, von Wahrheit und Liebe. Die Annahme einer von Gott geoffenbarten Wahrheit ist also nur möglich unter Einsatz von Erkenntnis und Liebe. Deshalb wird in der Wahrheit des Glaubens keine Theorie übermittelt, wie auch der Akt der Annahme nicht ein bloß intellektueller Vorgang ist. Wenn z. B. ein Mensch das Christusdogma der altkirchlichen Konzilien bezüglich der wahren Gottessohnschaft Jesu Christi im Glauben annimmt und bekennt, dann vollzieht er nicht nur einen denkerischen Akt (oder gar ein sacrificium intellectus), in dem er das Paradox von «zwei Naturen» und «einer Person» zusammendenkt. Er gibt im gleichen Zusammenhang vielmehr eine Wertantwort, in der er die Größe, die Geheimnishaftigkeit, die Heiligkeit und Güte Gottes bejaht, der sich in dieser radikalen Weise der Menschheit angenommen hat. Das ist keine «sterile Orthodoxie», sondern eine totale Lebensbewegung des Menschen auf Gott und den Nächsten hin, die natürlich in dem, was man landläufig «Praxis des Lebens» nennt, weitergehen muß. Aber sie kann in dieser Praxis nicht weitergehen, wenn nicht zuvor das Moment des «orthos» im Geist erfaßt worden ist und festgehalten wird. (Fs)

49c Dieser Auffassung der Glaubenswahrheit, wie sie sich im Dogma der Kirche ausprägt, entspricht auch die durch die neuere Forschung gewonnene Einsicht in den Ursprung des Dogmas. Danach ist gesichert, daß dem ursprünglichen (aber auch dem weiterentwickelten Dogma) neben dem Element der Erkenntnis, das zum Bekenntnis führte, immer auch ein rühmendes, ein doxologisches Moment inne war. So sind die Dogmen der Kirche immer auch als Rühmungen der Großtaten Gottes zu verstehen, die weit über den aktivistisch-utilitarischen Begriff der modernen «Gebrauchstheologie» hinausgehen. Nur so kann man verstehen, warum die Märtyrer mit dem Aussprechen «Dogmatischer Formeln» in den Tod gingen. Das kann man nur, wenn man in der (auch in Sätzen ausgedrückten) Wahrheit einen absoluten Wert erkennt und bejaht. Mit den Thesen eines christlich verbrämten Humanismus kann man das allerdings nicht. Die Formeln eines christlichen Humanisierungsprogramms, wie sie das Buch im letzten Teil aufstellt und wie sie heute in der Kirche weithin nachklingen, sind nicht von einer solchen überrationalen Größe und Tiefe, daß man mit ihnen sterben könnte. Aber, was noch schlimmer ist, man kann mit ihnen nicht einmal im tiefen Sinne christlich leben. (Fs) (notabene)

50a Überhaupt sollte die Kirche nicht verkennen, daß ein entscheidender Prüfstein der Rechtheit und Wahrheit in Verkündigung und Lehre heute in der Frage liegt, ob das Christentum noch Raum läßt für die Forderung nach dem höchsten Einsatz, nach dem «Zeugnis bis zum Letzten», das zwar nicht immer als «Blutzeugnis» verlangt wird, das aber in der Form restloser Hingabe an die göttliche Forderung in jeden Alltag hineinragt. Wenn sie diesen Maßstab anlegte, würde sie auch viele Fragen der praktischen Sittlichkeit wieder mit viel größerer Übersicht und Klarheit beurteilen und zwischen Moral und Unmoral ohne Zuhilfenahme einer modernen Kasuistik mit untrüglichem Glaubensinstinkt unterscheiden können. (Fs)

50b So betrachtet, müßte die Kirche heute immer auch bedenken, daß jeder Akt des Bekenntnisses der Glaubenswahrheit ein Akt der Gottesverehrung ist. Dann aber ist das Schweigen in Situationen, wo der «status confessionis» gegeben ist, entsprechend theologisch zu qualifizieren. Es entspricht nicht dem Geist und der Wahrheit, die «frei macht» (Joh 8,32). Diesem Geiste gegenüber ist aber auch das dauernde Gerede von einer Reform des Glaubens und des Glaubensbewußtseins oberflächlich und irreführend. Den Glauben und seine Wahrheit kann man nicht reformieren (wie es etwa jene Exegeten beziehungsreich andeuten, die zu ihren Schülern davon sprechen, daß die vier Evangelien eigentlich nicht mehr zeitgemäß seien und daß jede Zeit sich ihr eigenes fünftes Evangelium schaffen müsse). Man kann sich von ihr nur immer tiefer erfassen und «performieren» lassen. Das allein ist auch das legitime Anliegen einer geschichtlichen Entwicklung der Glaubenswahrheit. (Fs)

50c Die Kirche wird die hier und heute an sie ergehende Herausforderung nur bestehen, wenn sie weniger «reformiert» und mehr in die Fülle des Glaubens eindringt. (E10; 16.11.2010)

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