Autor: Scheffczyk, Leo Buch: Aufbruch oder Abbruch Titel: Aufbruch oder Abbruch Stichwort: Kritik; H. Küng, "Christ sein" - Herausforderung an die Kirche; Zeichen einer Glaubenskrise; christlicher Agnostizismus - Unklarheit: "katholisch", "evangelisch"; einzig mögliche Reform: Heilung des gebrochenen Glaubens
Kurzinhalt: Das Buch ist das bisher wohl grellste Zeichen für die Tiefe der Glaubenskrise, die das katholische Christentum erfaßt hat. Man sollte sich auch eingestehen, daß solch ein Fanal nicht aufleuchten könnte ohne den Hintergrund ...
Textausschnitt: 12. Die Herausforderung an die Kirche
43b Wenn man den in diesem Buch demonstrierten Schwund des Christlichen und Katholischen bedenkt und die sich daraus ergebenden Folgerungen erwägt, wird sich die bange Frage stellen, wie es mit dem katholischen Glauben in der uns unmittelbar umgebenden Lebenswelt weitergehen soll. Das Buch ist das bisher wohl grellste Zeichen für die Tiefe der Glaubenskrise, die das katholische Christentum erfaßt hat. Man sollte sich auch eingestehen, daß solch ein Fanal nicht aufleuchten könnte ohne den Hintergrund einer bereits mit vielen Unheilsstoffen gesättigten Atmosphäre, in der sich tiefe geistige Umschichtungen vollziehen. Solche Gewächse treiben nur auf einem bestimmten Boden, der dafür präpariert ist. In dieser Hinsicht ist das Buch nicht nur in einem schlichten Sinne als «unkatholisch» zu bezeichnen, sondern muß auch als Ergebnis und Produkt der Entwicklung des Katholizismus in der Zeit nach dem Zweiten Vatikanischen Konzil angesehen werden. Als solches stellt es eine große Herausforderung dar an die von innen heraus angegriffene Kirche. (Fs) (notabene)
44a Weil die große Zahl der von dem Buch angetanen Leser um diese im Untergrund vor sich gehenden geistigen Umschichtungen nicht weiß und sie nicht diagnostiziert (was freilich auch nicht Pflicht und Aufgabe jedes einzelnen Gläubigen sein kann), werden viele guten Gewissens dieses Buch noch als katholisch ansehen. Vielleicht werden sie sogar weitergehen und, wenn sie die Distanz des Buches zum bisher geltenden Glauben der Kirche erkennen, diesen Abstand als positive Öffnung zu einem universalen Christsein und zu einem freieren, umfassenderen und konfessionell entgrenzten Christentum ausgeben. Tatsächlich versteht sich das Buch auch als ökumenischer Appell zur Wiedervereinigung aller getrennten Christen, aber auf einer Basis, auf der eigentlich keine der großen christlichen Konfessionen wirklich Stand fassen kann, weil hier der christliche Untergrund einfach zu schmal und brüchig geworden ist. (Fs)
44b Diejenigen Beurteiler, die dem Werke trotzdem Christlichkeit und sogar ein originaleres Christentum bescheinigen, bedenken zu wenig, daß in der Neuzeit der Name «Christentum» zu einem Sammelbegriff geworden ist, unter dem die merkwürdigsten und widersprüchlichsten Lehr- und Lebensauffassungen zusammengefaßt werden, so daß die Feststellung des evangelischen Theologen H. Thielicke zutrifft: «Das 'Christentum' ist der Inbegriff dessen, was die Menschen aus dem Evangelium gemacht haben»1. Der Begriff ist heute Ausdruck für einen «Christianismus vagus», der alles Menschliche und selbst das Allzu-Menschliche decken kann. (Fs)
44c In der Vergangenheit verfügte die katholische Kirche über die Fähigkeit und Kraft, wenigstens in ihrem Bereich den Begriff des Christlichen eindeutig zu erfassen, indem sie ihn durch die inhaltliche Hinzufügung des «Katholischen» festigte. Hier war der Begriff an der Wirklichkeit der Kirche und ihres Dogmas orientiert und von daher innerlich gefüllt und zur Eindeutigkeit gebracht. Heute dagegen ist, was sich an dem Buche deutlich zeigt, auch der Begriff des «Katholischen» schwankend geworden. Das Werk beansprucht für sich auch das Katholische, obgleich es in unmissverständlicher Weise das Wesen und die Grundbestände des katholischen Glaubens angreift und aufhebt. (Fs)
44d Diese Einstellung wie die entsprechende große Resonanz des Buches unter Katholiken erlaubt den Schluß, daß wir heute eigentlich nicht mehr wissen, was «katholisch» ist. Diese weitreichende Folgerung wird durch den Autor in einer anderen Veröffentlichung formell bestätigt. In der Antwort auf die Kritik seines Buches über die Unfehlbarkeit2 läßt der Verfasser im ersten Beitrag den evangelischen Theologen W. v. Loewenich zu Worte kommen, der mit einer gewissen Befriedigung bezüglich der heutigen Situation feststellt: «Man weiß heute nicht, was eigentlich 'evangelisch' ist». Aber die «Frage, 'Was ist katholisch?' kann offenbar heute auch nicht mehr eindeutig beantwortet werden»3. Das ist im Grunde ein gut beobachteter Situationsbefund, der auch durch das neue Werk Küngs bestätigt wird. (Fs)
45a Unter Berücksichtigung der Aussage des genannten evangelischen Theologen darf man folgern: Hier treffen sich die Vertreter der verschiedenen getrennten Kirchen in dem gleichen Abgrund des Nichtwissens um ihre eigene Konfession und in der gleichen Bodenlosigkeit eines christlichen Agnostizismus. Welche Konsequenzen das für die Beurteilung der dahinter stehenden Wissenschaftlichkeit und Theologie hat, wäre einer eigenen Betrachtung wert. Sie könnte kaum positiv ausfallen; denn eine Theologie, die ihren ureigensten Gegenstand nicht mehr zu benennen und zu erkennen vermag, darf eigentlich den Anspruch auf Wissenschaftlichkeit nicht mehr erheben. (Fs)
45b So stellt das Buch in jeder Hinsicht eine ernste Herausforderung des kirchlichen Glaubens dar, der hier in seinem Wesen getroffen ist. Einer solchen Entstellung und Verstümmelung des christlich-katholischen Glaubens kann nur begegnet werden durch eine entschiedene, theologisch vertiefte Verkündigung der Fülle, der Tiefe und Schönheit dieses Glaubens. Die hier in ihrer ganzen Abgründigkeit aufbrechende Glaubenskrise kann nur gebannt werden durch eine Wiederherstellung der Integrität dieses Glaubens selbst. Deshalb gehen heute alle kirchlichen Reformen an ihrer eigentlichen Aufgabe wie an ihrem Gegenstand vorbei, wenn sie die Heilung des gebrochenen Glaubens nicht zu ihrem letzten Ziele haben. (Fs)
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