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Autor: Johannes Paul II - Wojtyla, Karol Józef

Buch: Enzyklika Veritatis splendor

Titel: Johannes Paul II., Evangelium vitae

Stichwort: Ethischer Relativismus - Demokratie (Mythos; Ersatz für Sittlichkeit); Aufgabe des staatlichen Gesetzes

Kurzinhalt: ... der Wert der Demokratie steht und fällt mit den Werten, die sie verkörpert und fördert: grundlegend und unumgänglich sind sicherlich die Würde jeder menschlichen Person, die Achtung ihrer unverletzlichen und unveräußerlichen Rechte sowie ...

Textausschnitt: 70. Gemeinsame Wurzel all dieser Tendenzen ist der ethische Relativismus, der für weite Teile der modernen Kultur bezeichnend ist. Manche behaupten, dieser Relativismus sei eine Voraussetzung für die Demokratie, weil nur er Toleranz, gegenseitige Achtung der Menschen untereinander und Bindung an die Entscheidungen der Mehrheit gewährleisten würde, während die als objektiv und bindend angesehenen sittlichen Normen zu Autoritarismus und Intoleranz führen würden. (Fs) (notabene)

Doch gerade die Problematik der Achtung vor dem Leben zeigt, welche Mißverständnisse und Widersprüche, begleitet von entsetzlichen praktischen Folgen, sich hinter dieser Einstellung verbergen. (Fs)

Es stimmt, daß die Geschichte Fälle kennt, in denen im Namen der »Wahrheit« Verbrechen begangen worden sind. Aber nicht minder schwere Verbrechen und radikale Leugnungen der Freiheit wurden und werden weiter auch im Namen des »ethischen Relativismus« begangen. Faßt eine parlamentarische oder gesellschaftliche Mehrheit, wenn sie die Rechtmäßigkeit der unter bestimmten Bedingungen vorgenommenen Tötung des ungeborenen menschlichen Lebens beschließt, nicht vielleicht einen »tyrannischen« Beschluß gegen das schwächste und wehrloseste menschliche Geschöpf? Das Weltgewissen reagiert mit Recht auf die Verbrechen gegen die Menschlichkeit, mit denen unser Jahrhundert so traurige Erfahrungen gemacht hat. Würden diese Untaten vielleicht nicht mehr länger Verbrechen sein, wenn sie, statt von skrupellosen Tyrannen begangen worden zu sein, durch des Volkes Zustimmung für rechtmäßig erklärt worden wären?

Tatsächlich darf die Demokratie nicht solange zum Mythos erhoben werden, bis sie zu einem Ersatzmittel für die Sittlichkeit oder einem Allheilmittel gegen die Unsittlichkeit gemacht wird. Sie ist ihrem Wesen nach eine »Ordnung« und als solche ein Werkzeug und nicht ein Ziel. Ihr »sittlicher« Charakter ist nicht automatisch gegeben, sondern hängt von der Übereinstimmung mit dem Sittengesetz ab, dem sie, wie jedes andere menschliche Verhalten, unterstehen muß: das heißt, er hängt von der Sittlichkeit der Ziele ab, die sie verfolgt, und der Mittel, deren sie sich bedient. Wenn heute ein beinahe weltweites Einvernehmen über den Wert der Demokratie festzustellen ist, wird das als ein positives »Zeichen der Zeit« angesehen, wie auch das Lehramt der Kirche wiederholt hervorgehoben hat.1 Aber der Wert der Demokratie steht und fällt mit den Werten, die sie verkörpert und fördert: grundlegend und unumgänglich sind sicherlich die Würde jeder menschlichen Person, die Achtung ihrer unverletzlichen und unveräußerlichen Rechte sowie die Übernahme des »Gemeinwohls« als Ziel und regelndes Kriterium für das politische Leben. (Fs)

Grundlage dieser Werte können nicht vorläufige und wechselnde Meinungs«mehrheiten« sein, sondern nur die Anerkennung eines objektiven Sittengesetzes, das als dem Menschen ins Herz geschriebene »Naturgesetz« normgebender Bezugspunkt eben dieses staatlichen Gesetzes ist. Wenn infolge einer tragischen kollektiven Trübung des Gewissens der Skeptizismus schließlich sogar die Grundsätze des Sittengesetzes in Zweifel zöge, würde selbst die demokratische Ordnung in ihren Fundamenten erschüttert, da sie zu einem bloßen Mechanismus empirischer Regelung der verschiedenen und gegensätzlichen Interessen verkäme.2

Mancher könnte sich vorstellen, daß in Ermangelung eines Besseren auch eine solche Funktion um des sozialen Friedens willen anerkannt werden müsse. Selbst wenn man in einer solchen Einschätzung einen gewissen Wahrheitsaspekt anerkennt, muß man doch sehen, daß ohne eine objektive sittliche Verankerung auch die Demokratie keinen stabilen Frieden sicherstellen kann, um so mehr als der Friede, der nicht an den Werten der Würde jedes Menschen und der Solidarität unter allen Menschen gemessen wird, nicht selten eine illusorische Angelegenheit ist. Denn in den die demokratische Beteiligung einschließenden Regierungssystemen selbst erfolgt die Regelung der Interessen häufig zum Vorteil der Stärkeren, vermögen sie doch am besten nicht nur die Hebel der Macht, sondern auch das Zustandekommen des Konsenses zu steuern. In einer solchen Situation wird Demokratie leicht zu einem leeren Wort. (Fs)

71. Im Hinblick auf die Zukunft der Gesellschaft und die Entwicklung einer gesunden Demokratie ist es daher dringend notwendig, das Vorhandensein wesentlicher, angestammter menschlicher und sittlicher Werte wiederzuentdecken, die der Wahrheit des menschlichen Seins selbst entspringen und die Würde der Person zum Ausdruck bringen und schützen: Werte also, die kein Individuum, keine Mehrheit und kein Staat je werden hervorbringen, verändern oder zerstören können, sondern die sie nur anerkennen, achten und fördern werden müssen. (Fs)

In diesem Sinne muß man wieder die Grundzüge der Auffassung von den Beziehungen zwischen staatlichem Gesetz und Sittengesetz aufgreifen, die von der Kirche vorgelegt werden, die aber auch zum Erbe der großen Rechtstraditionen der Menschheit gehören. (Fs)

Sicherlich ist die Aufgabe des staatlichen Gesetzes im Vergleich zu der des Sittengesetzes anders und von begrenzterem Umfang. Jedoch »kann in keinem Lebensbereich das staatliche Gesetz das Gewissen ersetzen, noch kann es Normen über das vorschreiben, was über seine Zuständigkeit hinausgeht«,3 die darin besteht, das Gemeinwohl der Menschen durch die Anerkennung und den Schutz ihrer Grundrechte, durch die Förderung des Friedens und der öffentlichen Sittlichkeit sicherzustellen.4 Denn die Aufgabe des staatlichen Gesetzes besteht darin, ein geordnetes soziales Zusammenleben in wahrer Gerechtigkeit zu gewährleisten, damit wir alle »in aller Frömmigkeit und Rechtschaffenheit ungestört und ruhig leben können« (1 Tim 2, 2). Eben deshalb muß das staatliche Gesetz für alle Mitglieder der Gesellschaft die Achtung einiger Grundrechte sicherstellen, die dem Menschen als Person eigen sind und die jedes positive Gesetz anerkennen und garantieren muß. Erstes und grundlegendes aller Rechte ist das unverletzliche Recht auf Leben eines jeden unschuldigen Menschen. Auch wenn die öffentliche Autorität bisweilen auf die Unterdrückung von etwas verzichten kann, was im Fall des Verbots einen schwereren Schaden anrichten würde,5 kann sie doch niemals zulassen, die Verletzung, die anderen Menschen durch die Nicht-Anerkennung eines ihrer Grundrechte wie das auf Leben zugefügt wird, als Recht der einzelnen zu legitimieren - selbst wenn diese die Mehrheit der Mitglieder der Gesellschaft ausmachen würden. Die gesetzliche Tolerierung von Abtreibung oder Euthanasie kann sich gerade deshalb keinesfalls auf die Respektierung des Gewissens der anderen berufen, weil die Gesellschaft das Recht und die Pflicht hat, sich vor den Mißbräuchen zu schützen, die im Namen des Gewissens und unter dem Vorwand der Freiheit zustande kommen können. 6

Papst Johannes XXIII. hatte diesbezüglich in der Enzyklika Pacem in terris festgestellt: »Da man in unserer Zeit annimmt, das Gemeinwohl bestehe vor allem in der Wahrung der Rechte und Pflichten der menschlichen Person, muß die Aufgabe der Staatslenker vor allem darin bestehen, daß einerseits die Rechte anerkannt, geachtet, untereinander in Einklang gebracht, verteidigt und gefördert werden, und andererseits jeder seine Pflichten leichter erfüllen kann. Denn 'die den Menschen eigenen unverletzlichen Rechte zu schützen und dafür zu sorgen, daß jeder seine Aufgaben leichter erfülle, das ist die vornehmliche Pflicht jeder öffentlichen Gewalt'. Wenn deshalb Behörden die Rechte des Menschen entweder nicht anerkennen oder verletzen, so weichen sie nicht nur selbst von ihrer Pflicht ab, sondern es entbehrt auch das, was von ihnen befohlen wurde, jeder Verbindlichkeit«.7

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