Autor: Dawson, Christopher Buch: Gestaltungskräfte der Weltgeschichte Titel: Gestaltungskräfte der Weltgeschichte Stichwort: Europa; 13. Jhdt.: Christentum, soziale Dynamik - Franziskus, Thomas, Rober Bacon; Renaissance, christliche Ursprünge; Expansion abendländischer Zivilisation - Erschöpfung der geistigen Quellen; östliche Religionen; Joseph de Maistre
Kurzinhalt: So steht nach Dawsons Auffassung die kulturelle Entwicklung des Abendlandes im Mittelpunkt der Weltgeschichte, und es war der dynamische Einfluß Europas und seines Sprosses in der Neuen Welt, der die jetzige Möglichkeit für die Entstehung einer ... Textausschnitt: 406b Aber obwohl diese soziale Dynamik im Christentum von Anfang an enthalten war und den Impuls für die Bekehrung der alten Welt und die Weitergabe der christlichen Kultur an neue Völker in den dunklen Zeiten der Barbarei und der Angriffe des Islams bildete, wurde ihre Bedeutung erst im 13. Jahrhundert voll erkannt. In der Geistigkeit des heiligen Franziskus, in der die Mentalität des christlichen Humanismus ihren höchsten Ausdruck fand, in der philosophischen Synthese des heiligen Thomas, die Vernunft und Glauben vereinte und die Grundlage für ein wissenschaftliches Herantreten an die Wirklichkeit schuf, und in dem Weltbild Roger Bacons, der in der wissenschaftlichen Erfindung eine schöpferische Kraft von unberechenbarer Macht sah, gelangte die neue Auffassung der Wirklichkeit schließlich zur Reife1. (Fs)
407a Von diesem Standpunkt aus liegt die Bedeutung des 12. und 13. Jahrhunderts darin, daß sie zum ersten Mal die christliche Kultur in neuen, dynamischen und sozialen Formen verkörpern. Denn die erste christliche Kultur - die des byzantinisch-patristischen Zeitalters - war das Ergebnis der Anwendung christlicher Ideen auf eine schon reife und statische Kultur. Aus diesem Grund konnte die soziale Dynamik des Christentums in der Gesellschaft und Kultur des Byzantinischen Reiches keinen entsprechenden Ausdruck finden. (Fs)
407b Die darauffolgende Entwicklung der abendländischen Kultur seit der Renaissance ist die Folge der Entstehung dieser neuen, dynamischen, abendländischen christlichen Gesellschaft und Kultur. Denn mit der Renaissance begann jene große Expansion der abendländischen Zivilisation, nicht nur geographisch, sondern auch auf dem Gebiet der Wissenschaft und Technik, die der hervorstechende Zug der letzten vier Jahrhunderte der Weltgeschichte war. Mit dieser Bewegung strebt das vierte Zeitalter der Welt nach seiner äußeren Verwirklichung. Die Einmaligkeit dieser durch den abendländischen Menschen geschaffenen Epoche steht in unmittelbarer Beziehung zu den missionarischen Zielen, die dem Geist der abendländischen Kultur durch mehr als tausend Jahre christlicher Lehre eingepflanzt wurden; die neue, durch die Renaissance eingeführte Kultur wurzelte besonders in den sozial-religiösen Idealen des Mittelalters. Der abendländische Humanismus und die abendländische Wissenschaft, die abendländischen Entdeckungen und Kolonisationen waren keine schnell reifenden Treibhausfrüchte, sondern die Früchte einer tausendjährigen sorgfältigen Pflege, "das Ergebnis der Bemühungen von Jahrhunderten, die den jungfräulichen Boden des Abendlandes bebaut und den Samen in breitem Wurf über das Antlitz der Erde gestreut haben2". (Fs)
408a Trotz der Auffassung, daß die Renaissance in erster Linie eine Auflehnung gegen die christliche Vergangenheit war (eine Anschauung, die heute von den Gelehrten größtenteils fallen gelassen wurde, die aber noch einen großen Einfluß auf das Denken vieler Nichthistoriker ausübt3, weist Dawson darauf hin, daß die gesamte Kulturepoche, die die Renaissance einleitete und die sich noch im 19. Jahrhundert fortsetzte, nicht zu verstehen wäre, würde man sie von ihren christlichen Ursprüngen trennen. (Fs)
"Die großen Männer der Renaissance waren geistige Menschen, selbst wenn sie noch so tief in die zeitliche Ordnung verstrickt waren. Von den angestauten Quellen ihrer christlichen Vergangenheit erhielten sie die Kraft, die äußere Welt zu erobern und die neue geistige Kultur zu schaffen."
Was ich hier an dieser (vor achtzehn Jahren geschriebenen) Stelle über die Ursprünge der humanistischen Kultur gesagt habe, scheint mir ebenso für das Zeitalter der Aufklärung und das 19. Jahrhundert zu gelten, wo die abendländische Kultur die Welt eroberte und verwandelte ... (Fs)
Die Aktivität des abendländischen Geistes, die sich ebenso in den wissenschaftlichen und technischen Erfindungen wie in den geographischen Entdeckungen äußerte, war nicht nur das natürliche Erbteil eines bestimmten biologischen Typus; sie war das Ergebnis eines langen Erziehungsprozesses, der die Richtung des menschlichen Denkens allmählich veränderte und die Möglichkeiten des sozialen Handelns erweiterte4."
408b So steht nach Dawsons Auffassung die kulturelle Entwicklung des Abendlandes im Mittelpunkt der Weltgeschichte, und es war der dynamische Einfluß Europas und seines Sprosses in der Neuen Welt, der die jetzige Möglichkeit für die Entstehung einer weltumfassenden Gesellschaft geschaffen hat. Während viele zeitgenössische Geschichtsphilosophen entweder an dem Abendland verzweifeln oder es wegen seiner Sünden und seiner Mängel so sehr tadeln, daß sie es sittlich und geistig tiefer einstufen als den Osten (siehe zum Beispiel Mullers "Uses of the Past" oder Toynbees "The World and the West" als Vertreter dieser Richtung), erklärt Dawson, daß die abendländische Kultur sich trotz ihrer Weltlichkeit und ihres Eigennutzes durch eine sittliche Tatkraft und geistige Dynamik auszeichnet, die sie von ihrer christlichen Vergangenheit übernommen hat, und daß diese Tatkraft zu der Verbreitung der Institutionen des Abendlandes über den restlichen Erdball geführt und die anderen Kulturen zu Teilen einer einzigen Welt der kulturellen Weitergabe gemacht hat. Wir können daher durch ein Verständnis Europas die Kräfte begreifen, welche die Schicksale der modernen Welt gestalten; denn selbst jene Bewegungen, die sich gegen das Abendland auflehnen, verdanken ihre Ursprünge dem Einfluß des Abendlandes und hätten sich ohne den europäischen Einfluß nicht nach ihrer jetzigen Richtung entwickeln können. Dawson hat darüber vor einigen Jahren in einem Aufsatz folgendes geschrieben:
"Die Auflehnung des Ostens gegen die Vormachtstellung Europas ist selbst größtenteils durch den Einfluß des Abendlandes entstanden. Ihre Ideologie ist rein europäisch und hat nichts mit den kulturellen Traditionen der Völker zu tun, die sie befreien will. Selbst auf dem Gebiet der Literatur sind die Führer des östlichen Denkens, sofern es europäischem Geist entstammt, Männer abendländischer Kultur und Bildung. Der zentrale Faktor in der Gesamtsituation der Beziehungen zwischen Ost und West ist nicht der verhältnismäßig geringe und oberflächliche Kult östlicher Ideen im Westen, sondern die unvergleichlich stärkere und weitreichendere Verbreitung westlicher Ideen im Osten, wo die traditionellen Kulturen bis auf ihre Grundlagen erschüttert wurden5."
409a Aber der Einfluß des Westens auf den Osten war nicht nur ein subversiver. Durch die Arbeiten europäischer Archäologen und Sprachforscher haben die Zivilisationen des Ostens die Größe ihrer eigenen Geschichte und Kultur erkannt und einen klareren Blick für ihre Eigenart gewonnen. Dawson bewertet die Auswirkung der europäischen Forschungsarbeit in dem letzten Aufsatz des vorliegenden Bandes folgendermaßen:
"Es erweiterte nicht nur die Grenzen der abendländischen Zivilisation in ungeheurer Weise und legte das Fundament für ein neues Verständnis zwischen Ost und West, sondern es gab auch den außereuropäischen Völkern ein neues Verständnis für ihre eigene Vergangenheit. Ohne dieses Verständnis wäre dem Osten die Größe seines Erbgutes nicht zum Bewußtsein gekommen, und die Erinnerung an die ältesten Zivilisationen Asiens lägen weiter im Staub begraben. (Fs)
Das ist ein bleibendes Erbe für die ganze östliche und westliche Welt, das die politischen Ideologien und Wirtschaftsreiche überdauern wird6."
410a Nichtsdestoweniger kann man das Ausmaß, in dem die weltliche Kultur des Abendlandes die traditionellen Kulturen des Ostens bedroht, nicht ignorieren oder verkleinern. Trotz den optimistischen Anschauungen von Schriftstellern wie Muller und Northrop über ihre Zukunft und der Meinung einiger, daß sich die Religionen des Ostens bei einer Vermischung der Kulturen und Religionen, wie sie gegenwärtig stattfindet, widerstandsfähiger erweisen werden als das Christentum, bestehen Anzeichen dafür, daß die östlichen Religionkulturen in ein Stadium des Niederganges und des Rückzuges vor der verweltlichten Zivilisation eingetreten sind, von dem sie sich nur schwer erholen werden. (Fs)
410b Infolgedessen laufen die östlichen Religionen heute Gefahr, durch weltliche Bewegungen, die aus der abendländischen Kultur hervorgegangen sind, besiegt zu werden. Die Ursache dieser Schwäche der östlichen Religionen liegt in dem Verlust ihres organischen Zusammenhanges mit dem Leben des Volkes. Dawson schrieb darüber in einem kürzlich erschienenen Aufsatz, der sich mit der Ausbreitung des Kommunismus befaßt: "Wenn der Kommunismus in diesem Licht (das ist als eine Religion) betrachtet wird, warum hat er dann eine solche Anziehung für die Asiaten, die genügend wirklich theologische Religionen haben? Die Antwort darauf ist, meiner Meinung nach die, daß die großen Religionen des Ostens kulturell nicht mehr aktiv sind und von dem Leben der Gesellschaft und der gegenwärtigen Kultur getrennt wurden7."
411a Dawson weist auf ihre schwierige Lage in der folgenden Stelle hin:
"So wie sich der Hellenismus während der hellenistischen und römischen Zeit allmählich immer mehr ausbreitete, bis er die gesamte antike Welt erfaßte, so hat sich auch die abendländische Kultur in den letzten fünfhundert Jahren so ausgebreitet, daß sie die gesamte moderne Welt umfaßt. Und wie die antike Welt schließlich durch die Entstehung des Islams in zwei Hälften zerfiel, so zerfällt die moderne Welt durch die Entstehung des Kommunismus in zwei Hälften. (Fs)
Daher glaube ich, daß die großen östlichen Weltreligionen heute eine Stellung einnehmen, die derjenigen der Religionen des Ostens im Altertum - Ägyptens, Babyloniens und Kleinasiens - in der Welt Roms entspricht. Wenn dies stimmt, so sind die ernstesten Rivalen des Christentums in der heutigen Zeit nicht die alten Religionen des Ostens, sondern die neuen politischen Ersatzreligionen, wie der Kommunismus, der Nationalismus usw. Man kann der Dringlichkeit dieser Frage, von der die ganze Zukunft der Welt abhängt, nicht entfliehen8."
411b Aus der Perspektive der Weltgeschichte und einem Vergleich der gegenwärtigen Lage der östlichen Religionen mit den revolutionären Entwicklungen bei der Entstehung des Islams im 7. Jahrhundert n. Chr. sieht Dawson für die traditionellen religiösen Kulturen des Ostens eine sehr akute Gefahr voraus, und nicht nur für sie, sondern auch für das Christentum. (Fs)
411c Der Unterschied aber, der vielleicht eine günstigeres Folge erhoffen läßt, ist der, daß die dynamische Kraft des Islams einem leidenschaftlich angehangenen Glauben entstammte und die Sanktion einer übernatürlichen Wirklichkeitsordnung besaß, während der Kommunismus trotz seiner quasi-religiösen Motivierung vorwiegend irdisch denkt und an nichts Höheres appellieren kann als an die Hoffnung des Menschen auf ein materialistisches Utopia. (Fs)
411d Die Widerstandskraft der östlichen Religionen gegen den Ansturm weltlicher Ideologien wird daher im Verhältnis zu ihrer Kraft stehen, ihren religiösen Charakter zu bewahren und gleichzeitig einen neuen Kontakt mit dem täglichen Leben zu finden. Ob dies angesichts der "Unbeteiligtheit" möglich ist, die die Religion des Ostens in der Vergangenheit sehr deutlich gezeigt hat, kann nur die Zukunft lehren. (Fs)
412a Für Dawson liegt die Bedeutung des gegenwärtigen Augenblickes der Geschichte darin, daß die Zivilisation des Westens durch ihre technischen Erfindungen und durch ihre ideologische Wirkung imstande war, die Schranken niederzureißen, die die abgeschlossenen Kulturen der großen Weltreligionen früher voneinander trennten, und sie zu einer neuen und größeren, interkulturellen Gesellschaft zusammengefaßt hat. Aber in diesem Prozeß der Entwicklung und Expansion hat die westliche Zivilisation die Berührung mit den geistigen Quellen ihrer schöpferischen Kraft immer mehr verloren. Daher ist der Augenblick ihres größten äußeren Sieges auch der Zeitpunkt ihrer größten geistigen Krise. (Fs) (notabene)
"Die Ereignisse der letzten Jahre kündigen entweder das Ende der Geschichte der Menschheit oder einen Wendepunkt in ihr an. Sie haben uns in flammender Schrift gewarnt, daß unsere Zivilisation gewogen und zu leicht befunden wurde und daß der Fortschritt, der sich durch die von geistigen Zielen und sittlichen Werten losgelöste Wissenschaft und Technik erzielen läßt, eine unverrückbare Grenze hat9."
412b Und doch ist diese Krise der Kultur eine Zeit, in der Europa die ihm gebotene Gelegenheit nützen und der neuen, weltumfassenden Gesellschaft, die jetzt im Entstehen ist, Gestalt und Richtung geben kann. Wissenschaft und Technik, die der abendländischen Zivilisation ihre Entstehung verdanken, müssen nicht Werkzeuge zur Vernichtung der Menschheit werden; sie können auch dem höheren Zweck einer Zusammenfassung der Menschheit zu einer übernationalen geistigen Gemeinschaft dienstbar gemacht werden. (Fs)
412d Die große Revolution des 18. Jahrhunderts, die die moderne Zeit einleitete und die mehr als tausendjährige politische und soziale Struktur Europas über den Haufen warf, glich in vieler Hinsicht der jetzigen Zeit. Die Heere der Französischen Revolution und später die Napoleons untergruben oder vernichteten die alten Monarchien, sie schafften die Leibeigenschaft ab und weckten in den Herzen fast aller Völker den Nationalismus. In unserer Zeit hat das Eindringen des europäischen Nationalismus und der abendländischen Ideologien in Asien und Afrika und die Ausbreitung der europäischen revolutionären Tradition ähnliche Wirkungen ausgeübt wie sie die Französische Revolution in den letzten hundertfünfzig Jahren auf Europa und den amerikanischen Kontinent ausgeübt hat. Die Ideale der politischen Freiheit, der Selbstbestimmung der Völker und der sozialen Gleichheit sind bis zu den entferntesten Völkern vorgedrungen, bis sie jetzt praktisch universale Geltung erlangt haben. (Fs)
413a Es ist daher richtig, daß Christopher Dawson auf das Zeitalter der Französischen Revolution zurückblickt, um das Wesen unserer eigenen Zeit und ihre Bedeutung für die Weltgeschichte zu erkennen. Die Reaktion eines der tiefsten konservativen Denker jener Zeit auf die Revolutionen, die in seine Lebensweise eingebrochen waren, deutet die Haltung an, die Dawson heute den Völkern des Abendlandes empfiehlt:
"Vor mehr als hundert Jahren erkannte Joseph de Maistre, der letzte Vertreter des alten, vor-nationalistischen Europa, ein Verbannter in der Stadt Peters des Großen und Lenins, mit fast prophetischem Blick die Bedeutung der Revolutionen, die sein eigenes Glück zerstört und die traditionelle Ordnung des europäischen Lebens, die ihm so teuer war, zerschlagen hatten. Frankreich und England, so schreibt er, wurden trotz ihrer gegenseitigen Abneigung veranlaßt, gemeinsam an derselben Aufgabe zu arbeiten. Während die Französische Revolution den Samen der französischen Kultur nach ganz Europa trug, hat England die europäische Kultur nach Asien gebracht und den Anstoß gegeben, daß Newtons Werke in der Sprache Mohammeds gelesen wurden. Der gesamte Osten fügt sich der Überlegenheit Europas und die Ereignisse haben England eine fünfzehntausend Meilen lange gemeinsame Grenze mit China und Tibet gegeben. Der Mensch in seiner Unwissenheit täuscht sich oft in bezug auf die Ziele und Wege, die Kräfte und Widerstände, die Werkzeuge und Hindernisse. Manchmal versucht er, eine Eiche mit einem Taschenmesser zu fällen, und manchmal schleudert er eine Bombe, um ein Schilfrohr zu knicken. Aber die Vorsehung kennt kein Schwanken und erschüttert die Welt nicht umsonst. Alles deutet darauf hin, daß wir uns auf eine große Einheit zu bewegen, die wir, um eine religiöse Ausdrucksform zu wählen, von fern preisen müssen. Wir wurden auf schmerzliche Art und gerechterweise zerschlagen, aber wenn meine Augen würdig befunden wurden, die göttliche Absicht zu erkennen, wurden wir nur zerschlagen, um eins zu werden10." (E10; 30.09.2010)
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