Autor: Dawson, Christopher Buch: Gestaltungskräfte der Weltgeschichte Titel: Gestaltungskräfte der Weltgeschichte Stichwort: Europa; psychologische Grundlage der sozialen und äußeren Vorgänge; Hinduismus: Id; Buddhismus: Super-Ego + Todesimpuls; Christentum: Super-Ego -> dynamischer sozialen Kraft
Kurzinhalt: Mit anderen Worten: Die christliche Tradition hat aus dem Gewissen des einzelnen eine selbständige Kraft gemacht, die die Allmacht der gesellschaftlichen Sitte verringert und den Sozialprozeß neuen Einzelinitiativen zugänglich macht1.
Textausschnitt: 405b In einem seiner Aufsätze aus jüngerer Zeit weist Dawson auf eine psychologische Grundlage der sozialen und äußeren Vorgänge hin, die durch die abendländische Zivilisation eingeleitet wurden und die schließlich auf andere Teile der Welt übergriffen. Durch den Einfluß des christlichen Ethos auf die Psyche des einzelnen Menschen entwickelte sich die neue Einstellung zum Leben, die zum Ursprung der neuen Kultur und der ungeheuren, von ihr bewirkten sozialen Veränderung wurde. (Fs)
"Auch heute noch beschäftigt man sich sehr wenig mit der tiefen Umwälzung in der psychologischen Grundlage der Kultur, durch die die neue Gesellschaft des abendländischen Christentums entstand. In Begriffen der Freud'schen Psychologie ausgedrückt, war das, was eintrat, eine Übersetzung der Religion aus der Sphäre des Id in die des Super-Ego ... (Fs)
Mit der Annahme des Christentums wurden die alten Götter und ihre Riten als Manifestationen der Mächte des Bösen abgelehnt. Die Religion war nicht mehr eine instinktive Huldigung an die dunkle Unterwelt des Id. Sie wurde ein bewußtes und dauerndes Bestreben, das menschliche Betragen den Forderungen nach einem objektiven Sittengesetz und einem Akt des Glaubens an ein neues Leben und an sublimierte Vorbilder der geistigen Vollkommenheit anzupassen1. (Fs)
405c Wenn aber alle Zivilisationen sich von der Barbarei durch die größere Bedeutung, die sie dem Super-Ego zuerkennen, und durch die verstandesmäßige Beherrschung instinktiver Impulse mittels einer geordneten Erkenntnis ihrer Bedeutung unterscheiden, wodurch unterscheidet sich dann das Christentum von den Religionen, die die Grundlagen der anderen Weltkulturen bilden? Ist seine psychologische Grundlage nicht dadurch, daß es die höheren Forderungen des Super-Ego gegen das Id unterstützt, mit der ihren identisch? Nein, würde Dawson erwidern, man kann deutliche Unterschiede in der Beziehung zwischen diesen beiden Kräften im sittlichen Kosmos der verschiedenen Weltreligionen feststellen. (Fs) (notabene)
"In manchen Fällen hat, wie im Hinduismus, der scharfe Bruch mit den Kräften des Id, der charakteristisch für die Bekehrung des Abendlandes war, niemals stattgefunden, und das Leben wird nicht als ein Prozeß des sittlichen Strebens und der Disziplin aufgefaßt, sondern als Ausdruck einer kosmischen Libido wie im Tanz Schivas. (Fs)
Andererseits sehen wir im Buddhismus ein sehr hoch entwickeltes Super-Ego. Aber hier ist das Super-Ego mit dem Todesimpuls verbunden, so daß die Versittlichung des Lebens gleichzeitig ein regressiver Prozeß ist, der im Nirwana kulminiert2."
406a Die abendländische Kultur hat zwar religiöse Bewegungen erlebt, die eine ähnliche Tendenz aufweisen, wie zum Beispiel der Manichäismus und das Albigensertum, doch waren diese nur exzentrische Entwicklungen, die für die zentrale religiöse Tradition des Abendlandes nicht typisch sind. Diese Tradition hat zu der Entstehung eines anderen Persönlichkeitstypus geführt wie jene, die für die anderen Weltkulturen charakteristisch sind. (Fs)
"Aber der charakteristische Zug der abendländischen Zivilisation war immer ein Geist sittlicher Aktivität, durch den das einzelne Super-Ego zu einer dynamischen sozialen Kraft wurde. Mit anderen Worten: Die christliche Tradition hat aus dem Gewissen des einzelnen eine selbständige Kraft gemacht, die die Allmacht der gesellschaftlichen Sitte verringert und den Sozialprozeß neuen Einzelinitiativen zugänglich macht3."
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