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Autor: Dawson, Christopher

Buch: Gestaltungskräfte der Weltgeschichte

Titel: Gestaltungskräfte der Weltgeschichte

Stichwort: Toynbee: Gleichwertigkeit der höheren Religionen (Kritik daran)

Kurzinhalt: So tritt an Stelle von Toynbees ursprünglichem Prinzip der philosophischen Gleichwertigkeit der Kulturen das Prinzip der theologischen Gleichwertigkeit der höheren Religionen.

Textausschnitt: 383a Jedenfalls stimme ich - vielleicht gegen die Mehrheit der modernen Historiker - Toynbees zentralem Thema zu, daß nämlich die Zivilisation dazu da ist, um der Religion zu dienen und nicht umgekehrt. Aber das bedeutet nicht, daß die Zivilisation verschwinden und durch eine Kirche ersetzt werden muß, so wie in der marxistischen Geschichtslehre der Staat verschwindet und durch die klassenlose Gesellschaft ersetzt wird. Solange es Menschen auf Erden gibt, muß es Zivilisationen und Kulturen geben, und die Tatsache, daß eine Zivilisation die Wahrheit einer Weltreligion anerkennt, macht sie deshalb nicht notwendig zu einer Kirche. (Fs)

383b Aber ebensowenig können die höheren Religionen dem Schicksal der Zivilisationen gleichgültig gegenüberstehen, denn wenn eine Religion eine Wirklichkeit ist, muß sie unfehlbar trachten, die Zivilisation, mit der sie verbunden ist, im Sinne ihrer ethischen Werte und geistigen Zwecke umzuwandeln. Ich glaube, daß Toynbees Einwand gegen diese Zivilisationen darin besteht, daß sie Hindernisse auf dem Weg zu der Einheit der Welt sind, aber das ist eigentlich mehr eine Kritik an den höheren Religionen als an den Zivilisationen, die sie möglicherweise anregen. Seiner Meinung nach versagen das Christentum und der Islam durch ihre Exklusivität, und der wahre Weg zur geistigen Einheit ist der des Mahayana Buddhismus, der die Vielfalt und Gleichwertigkeit der Wege anerkennt, die zur geistigen Wirklichkeit führen. So tritt an Stelle von Toynbees ursprünglichem Prinzip der philosophischen Gleichwertigkeit der Kulturen das Prinzip der theologischen Gleichwertigkeit der höheren Religionen. (Fs)

384a Ich glaube auch nicht, daß Toynbees Beschränkung der Geschichte auf die Theologie (um ein Wort Roger Bacons zu gebrauchen) bei den Theologen und vergleichenden Religionswissenschaftern mehr Anerkennung finden wird als bei den Historikern. So wie diese es schwer finden, sein Verzeichnis der Kulturen anzuerkennen, so werden jene bei seiner Aufzählung der primären und sekundären Religionen stutzen. Erstens ist es schwer einzusehen, warum er seine Kategorie der lebenden Religionen auf vier - das Christentum, den Islam, den Hinduismus und den Mahayana Buddhismus - beschränkt. Nur wenige Religionswissenschafter werden dem Judentum das Recht absprechen, als lebende Religion angesehen zu werden. Und im Fall des Buddhismus scheint es Willkür, jene Form auszuschließen, die noch heute die herrschende Religion Ceylons, Burmas, Siams und Kambodschas ist und die in Wirklichkeit heute viel lebendiger wirkt als der Mahayana Buddhismus, der jetzt in China fast im Aussterben begriffen ist und nur noch in Japan, Tibet und Nepal fortlebt. (Fs)

384b Toynbee erklärt seine Auswahl damit, daß dieser ältere Buddhismus keine lebende Religion, sondern nur ein fossiler Überrest der indischen Kultur ist. Ebenso betrachtet er das Judentum als einen Überrest der syrischen Kultur. Aber was immer an dieser Anschauung soziologisch richtig sein mag, so bietet sie doch keine entsprechende Grundlage für ein religiöses Urteil. Wenn die Thora oder der Achtfache Weg Bahnen sind, die noch von lebenden Menschen gläubig und voll Andacht beschritten werden, so sind sie lebende Religionen, wenn sie auch noch so alt sind und noch so viele Merkmale ausgestorbener Kulturen an sich haben. (Fs)

384c Und wenn es ungerechtfertigt scheint, die Religion auf diese vier Beispiele zu beschränken, so wird der Theologe wahrscheinlich Toynbees Versuchen, diese vier durch psychologische Deutung und theologische Synkretisierung auf eine zu reduzieren, noch kritischer gegenüberstehen. Es ist begreiflich, daß Toynbee sich durch die Aufgabe des relativistischen Prinzips einer philosophischen Gleichwertigkeit der Kulturen an die höheren Religionen halten muß, um ein Prinzip zu finden, das seine Studien auf einen einheitlichen Nenner bringt. Denn, wie er sagt, "die Geschichte der Religion scheint ein Prinzip der Einheit und des Fortschrittes zu enthalten im Gegensatz zu der Vielfalt und den Wiederholungen in der Geschichte der Kulturen" (siehe Band VII, S.425-426). Aber wenn er darüber hinausgeht und die wesentliche Identität aller bestehenden Formen der höheren Religionen beweisen will, vereinfacht er das Bild in übermäßiger Weise und erliegt der Versuchung, den Beweis seiner Theorien zu erzwingen, um ihn mit seiner Idee in Einklang zu bringen. (Fs)

385a Denn wenn es schon bei seiner ursprünglichen These von der philosophischen Gleichwertigkeit der Kulturen Schwierigkeiten gab, so sind die Einwände gegen die theologische Gleichwertigkeit der höheren Religionen noch schwerwiegender. Bei dem Studium der Kulturen befaßt sich der Historiker mit einem Gebiet, das zeitlichen und räumlichen Beschränkungen unterworfen ist und nach historischen Kriterien beurteilt werden kann. Aber bei den Weltreligionen befindet er sich in einer Welt, die von Natur aus über die Sphäre der Geschichte hinausgeht und dem empirischen Studium nicht zugänglich ist. Wenn überhaupt, dann müssen diese Religionen theologisch untersucht werden, und wenn wir die Weltreligionen vom theologischen Standpunkt aus überblicken, sehen wir, daß sie weder identisch sind noch konvergieren, sondern daß sie zumindest zwei einander ausschließende und widersprechende Lösungen der religiösen Frage darstellen. (Fs)

385b Einerseits passen die Religionen des Fernen Ostens - der Hinduismus und der Mahayana Buddhismus - ganz gut in Toynbees Ideal einer religiösen Synkretisierung. Aber das ist deshalb, weil sie die Bedeutung der Geschichte leugnen und eine Traumwelt kosmologischer und mythologischer Phantasiebilder schaffen, in der Äonen und Weltalle in schwindelerregender Verwirrung aufeinanderfolgen und in der die Einheit Gottes und die historische Persönlichkeit Buddhas in einer Wolke mythologischer Gestalten von Buddhas und Bodhisattvas, Göttern und Saktis, Halbgöttern und Geistern verlorengehen. Dagegen haben die drei höheren Religionen des Abendlandes - das Judentum, das Christentum und der Islam - einen ganz anderen Weg eingeschlagen. Sogar ihre Existenz ist an die historische Wirklichkeit ihrer Gründer und an die Schaffung eines einmaligen Verhältnisses zwischen dem Einen Gott und Seinem Volk gebunden. (Fs)

386a So würde jede Synkretisierung zwischen Religionen dieser beiden Typen unfehlbar zur Absetzung der monotheistischen Religionen und zu ihrem Aufgehen in den patheistischen oder polytheistischen führen. Ein solcher Vorgang ist wohl denkbar, aber wir haben keinen geschichtlichen Grund, ihn für wünschenswert oder richtig zu halten. Bis jetzt ist der Hauptstrom der Geschichte nach der entgegengesetzten Richtung verlaufen und die exklusiven monotheistischen Religionen haben das Gebiet ihres Einflusses ständig auf Kosten der anpassungsfähigeren erweitert. Zwar gehören Toynbees sekundäre höhere Religionen größtenteils dem synkretisierten Typus an, aber mit Ausnahme der Sikhreligion ist es ihnen nicht gelungen, sich durchzusetzen, und ihr Erfolg war mehr militärisch und politisch als rein religiös. (Fs)

386b Daher scheint das Prinzip der theologischen Gleichwertigkeit der höheren Religionen durch das Studium der Geschichte ebensowenig gerechtfertigt wie die philosophische Gleichwertigkeit der Kulturen. In bezug auf diese ist Toynbee jetzt dazu gelangt, die qualitative Differenzierung der Kulturen nach dem Grad ihrer Unterwerfung unter höhere geistige Ziele anzuerkennen, und trotz seiner Skepsis in bezug auf die geistige Daseinsberechtigung der abendländischen Zivilisation gibt er die überraschende Tatsache zu, daß sie die einzige noch bestehende Vertreterin dieser Gattung ist, die sich nicht in einem Zustand der Auflösung befindet. Obwohl es keineswegs sicher ist, daß unsere Kultur stark oder klug genug ist, um eine friedliche Weltordnung zu schaffen, kann man sich nur schwer vorstellen, daß ihre Leistungen jemals vollständig verschwinden könnten, es sei denn durch die Vernichtung der Zivilisation als solcher. (Fs)

386c Ebenso wie die abendländische Kultur das wirksame Werkzeug für die Einheit der Welt auf materiellem, technischem und wirtschaftlichem Gebiet war, so hat das Christentum fast zweitausend Jahre lang für die geistige Einheit der Menschheit im Reich Gottes gearbeitet. Auch wenn das Christentum versagt, haben wir keinen Grund, anzunehmen, daß eine östliche Synkretisierung, wie der Mahayana Buddhismus oder eine christliche Gnosis an seine Stelle treten werden. Seine einzige wirksame Nebenbuhlerin ist eine weltliche Gegenreligion wie der Kommunismus, die die Vernichtung aller höheren Religionen bedeuten würde. (Fs) (notabene)

387a Das politische Erwachen Asiens und das Wiederaufleben des östlichen Nationalismus war von einer verständlichen Reaktion gegen die Missionstätigkeit des Abendlandes begleitet, aber sie entstand nicht durch irgendein bemerkenswertes Aufleben der höheren Religionen des Fernen Ostens, geschweige denn des Mahayana Buddhismus. Es ist eine politische Erscheinung, die von der Reaktion gegen den abendländischen Imperialismus und Kolonisationsgeist nicht zu trennen ist. Auf der Ebene der höheren Kultur sind abendländische Ideen in den letzten zwanzig bis dreißig Jahren weit rascher vorgedrungen als je zuvor. Und obwohl dies keinerlei Ausbreitung der abendländischen Religionen bedeutet, so bedeutet es den fortschreitenden Verfall der alten religiösen Kulturen des Ostens, wie Nirad Chaudhuri es sehr eindrucksvoll in seinem Buch "The Autobiography of an Unknown Indian" (1951) dargelegt hat, das jeder Historiker, der sich für diese Fragen interessiert, von unschätzbarem Wert finden wird. (Fs)

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