Autor: Dawson, Christopher Buch: Gestaltungskräfte der Weltgeschichte Titel: Gestaltungskräfte der Weltgeschichte Stichwort: Toynbee; gleichwertgie Zivilisationen, Religionen als qualitatives Prinzip;
Kurzinhalt: ... daß die zyklischen Bewegungen, durch welche die Zivilisationen entstehen und untergehen, nicht die gesamte Geschichte bilden. Sie sind einem höheren Prinzip geistiger Universalität untergeordnet, das durch die Weltreligionen dargestellt wird.
Textausschnitt: 377c Hätte Toynbee ein vergleichendes Studium der gegenwärtigen Zivilisationen des Ostens und Westens und ihrer Vorläufer unternommen, so hätte er damit etwas sehr Wertvolles geleistet. Er hat aber weit mehr getan. Er hat sich an ein Studium aller jemals bestehenden Zivilisationen gewagt, um die Gesetze aufzufinden, die ihren Aufstieg und Untergang bestimmen, und die Zukunftsaussichten der Zivilisation festzustellen. Genau dasselbe hat Oswald Spengler vor mehr als dreißig Jahren versucht und trotz des ausgesprochenen Unterschiedes im Wesen und in der Weltanschauung der beiden zeigt Toynbees Theorie in ihrer ursprünglichen Form eine beträchtliche Ähnlichkeit mit Spenglers Kulturmorphologie. Beide stimmen darin überein, daß sie eine einheitliche Zivilisation leugnen, und beide betrachten die Zivilisationen als autonome Einheiten, die sich scharf voneinander und von der Welt der primitiven Gesellschaften unterscheiden, aus denen sie vermutlich hervorgegangen sind. Aber Toynbee, der seine einundzwanzig Zivilisationen als Einheiten derselben Art ansieht, die philosophisch gleichwertig sind und nebeneinander bestehen, geht nicht so weit wie Spengler, der seine Kulturen als Organismen im vollen biologischen Sinn ansieht, so daß "die Geschichte einer Kultur der Geschichte eines menschlichen Wesens oder eines Tiers, eines Baumes oder einer Blume völlig gleicht". (Fs)
378a Man kann sich der unerbittlichen Logik, mit der Spengler seine Theorie aufgestellt hat, und dem Temperament und der Beredsamkeit, mit denen er sie vorbrachte, nicht entziehen. Trotzdem wird das ganze, ungemein geistvolle Gebäude durch einen offenkundigen Trugschluß umgestoßen. (Fs)
378b Wenn Kulturen vollkommene und autonome Mikrokosmen sind, die ihre eigene, einmalige und nicht mitteilbare Kunst, Religion, Philosophie und Wissenschaft besitzen, wie kann der Historiker dann jemals aus seiner eigenen Kultur heraustreten und den gesamten Prozeß von außen betrachten? So widerlegt Spenglers Geschichtsphilosophie sich selbst. Er zeigt, daß der einzelne niemals und unter keinen Umständen die Grenzen der Kultur überschreiten kann, der er angehört, und gleichzeitig bricht er sein eigenes Gesetz durch einen übermenschlichen Versuch, alle Kulturen der Welt von außen zu betrachten und das universale Gesetz aufzufinden, das ihren Aufstieg und Untergang und die gesamte Evolution ihrer Lebenszyklen bestimmt. (Fs) (notabene)
379a Toynbee erkennt die Sinnlosigkeit dieses philosophischen Gewaltstreiches, und obwohl er auf andere Weise dasselbe tut, versucht er doch niemals, die allen Kulturen gemeinsamen Elemente abzustreiten oder die Tatsache, daß Wissenschaft und Ethik die Grenzen der einzelnen Kultur überschreiten, zu leugnen. In diesem Fall ist es aber schwer einzusehen, wie man die einundzwanzig Kulturen als irgendwie gleichwertig betrachten kann, da sie offensichtlich nicht alle auf der gleichen Höhe wissenschaftlicher Errungenschaft oder ethischer Entwicklung stehen. Angenommen, jede Kultur ist ein faßliches Studiengebiet und verdient, um ihrer selbst willen als Gesamtheit und nicht bloß wegen ihrer Beiträge zu einer anderen Kultur untersucht zu werden, so werden dadurch nicht alle Kulturen philosophisch gleichwertig, genau so wenig wie die Tatsache, daß wir Staaten als autonome politische Einheiten studieren, bedeuten muß, daß sie einander in ihrem politischen Wert und ihrer sozialen Entwicklung gleichwertig sind. (Fs) (notabene)
379b So wurde ich bei der Lektüre von Toynbees ersten Bänden immer wieder durch die Schwierigkeit verwirrt, den ethischen Absolutismus seines Urteils mit dem kulturellen Relativismus seiner Theorie zu vereinbaren. Aber diese Schwierigkeit wurde jetzt durch die Veröffentlichung seiner letzten vier Bände aus der Welt geschafft. Denn in dem ersten dieser neuen Bände stellt er dort, wo er sich mit dem Thema universaler Staaten und Kirchen befaßt, das neue Prinzip auf, das eine grundlegende Änderung seiner früheren Anschauungen bedeutet und das seine "Study of History" aus einer relativistischen Phänomenologie gleichwertiger Kulturen in der Art Spenglers zu einer einheitlichen Geschichtsphilosophie macht, die sich mit jener der idealistischen Philosophen des 19. Jahrhunderts vergleichen läßt. (Fs)
379c Dieser Wandel, der sich schon im fünften Band ankündigt, bedeutet die Aufgabe seiner ursprünglichen Theorie einer philosophischen Gleichwertigkeit der Zivilisationen und die Einführung eines qualitativen Prinzips, das sich in den höheren Religionen verkörpert; diese höheren Religionen werden als Vertreter einer höheren Art von Gesellschaften angesehen, die in demselben Verhältnis zu den Zivilisationen stehen wie diese zu den primitiven Gesellschaften. Damit hört Toynbees Geschichtstheorie auf, zyklisch zu sein wie die Spenglers und wird eine progressive Reihe von vier Weltstufen, die von den primitiven Gesellschaften über die primären und sekundären Zivilisationen zu den höheren Religionen aufsteigen, in denen die Geschichte ihr Endziel erreicht. Nach seinen eigenen Worten kommt das Studium der Geschichte zu "einem Punkt, wo die Zivilisationen ihrerseits, wie die Kleinstaaten der modernen abendländischen Welt zu Beginn unserer Untersuchung, nicht sehr deutlich faßbare Studiengebiete für uns sind und ihre historische Bedeutung verloren haben, außer insofern sie dem Fortschritt der Religion dienen" (siehe Band VII, S. 449). (Fs)
300a Das ist eine revolutionäre Veränderung, und um ihre volle Bedeutung zu erkennen, müssen wir das komplizierte Verzeichnis der Zivilisationen und Religionen studieren, die in der Tabelle 7 des siebenten Bandes in fortlaufender Reihenfolge angeordnet sind und zeigen, wie Toynbees neue Theorie sein ursprüngliches System von einundzwanzig unabhängigen und gleichwertigen Kulturzyklen umwandelt. Sie enthält sechs Stufen:
1. Die primitiven Gesellschaften, deren Anzahl Legion ist;
2. die primitiven Zivilisationen, die jetzt durch die neuentdeckten Zivilisationen des Industales und Nordchinas von fünf auf sieben angewachsen sind;
3. die acht sekundären Zivilisationen, die durch ihre "dominierenden Minderheiten" oder durch die "äußeren Proletariate" aus den primitiven Zivilisationen entstanden sind; es sind die hellenische, syrische, hettitische, babylonische, indische und klassisch-chinesische Zivilisation in der Alten Welt, und die Zivilisationen von Yukatan und Mexiko in der Neuen;
4. die höheren Religionen, deren es scheinbar zwölf gibt, vom Christentum und dem Islam bis zum Isis-Osiris-Kult;
5. die acht tertiären Zivilisationen, zu denen unsere eigene und zwei andere christliche Zivilisationen - die russische und die östlich-orthodoxe -, zwei moslemische - die iranische und die arabische -, zwei fernöstliche und die indische gehören;
6. schließlich die sekundären höheren Religionen, die sich aus den tertiären Zivilisationen entwickeln und zu denen ungefähr ein Dutzend jüngere orientalische Bewegungen, wie die Religion der Sikhs, der Brahmo Samadsch, der Bahaiismus und andere mehr, gehören. (Fs)
381a Diese Einteilung der Zivilisationen und Religionen ist ungemein kompliziert und erfordert ein ziemlich eingehendes Studium, um sie im einzelnen zu verstehen. Aber eines zumindest ist klar: sie bedeutet, daß die zyklischen Bewegungen, durch welche die Zivilisationen entstehen und untergehen, nicht die gesamte Geschichte bilden. Sie sind einem höheren Prinzip geistiger Universalität untergeordnet, das durch die Weltreligionen dargestellt wird. So erhält die Geschichte von neuem den Charakter eines Fortschrittes und Zweckes und wird ein geistiger Evolutionsprozeß, wie Hegel und die anderen idealistischen Geschichtsphilosophen des 19. Jahrhunderts sie aufgefaßt haben. (Fs)
381b Diese Anschauung kommt dem Geschichtsbild des Durchschnittsmenschen viel näher als Spenglers relativistische Theorie. Denn wenn wir auch den vollen Optimismus der Fortschrittslehre des 19. Jahrhunderts verloren haben, so fällt es uns doch schwer, den Glauben an die Einheit der Geschichte und an die Existenz irgendeines gemeinsamen Maßstabes aufzugeben, nach dem die Leistungen und Mängel der verschiedenen Zivilisationen beurteilt werden können. Das gleiche gilt, wie ich glaube, für die Historiker; denn wenn sie auch Lord Actons großartige Vorstellung einer Weltgeschichte nicht mehr besitzen - die etwas anderes ist als die zusammengefaßte Geschichte aller Staaten und die den Verstand aufklärt und die Seele erhellt -, so glauben sie trotzdem an die Einheit der Geschichte und lehnen einen völligen Relativismus wie den Spenglers fast einhellig ab. (Fs)
381c Trotzdem glaube ich, daß weder der Durchschnittsmensch noch der Berufshistoriker Toynbees Geschichtsphilosophie in ihrer abschließenden Form gelten lassen werden. Sie ist zu dunkel und zu gelehrt für den einen und zu spekulativ und ideologisch für den anderen. Wenige Historiker werden bereit sein, das Schema seiner Einteilung anzuerkennen, durch das er zu seiner Gesamtzahl von einundzwanzig Zivilisationen kommt. Es scheint ein willkürliches Vorgehen, aus den drei oder vier aufeinanderfolgenden Stufen der chinesischen Kultur drei verschiedene Zivilisationen zu machen, und das gleiche gilt für seine drei christlichen Zivilisationen - die abendländische, die östlich-orthodoxe und die russisch-orthodoxe. Wenn alle diese als getrennte Zivilisationen angeführt werden, warum sollen dann die Zivilisation Koreas mit der Japans identisch erklärt oder die sehr ausgeprägte Kultur Tibets oder die Burmas und Siams in dem Verzeichnis nicht getrennt angeführt werden? Man hätte gedacht, daß Rußland und Europa oder das moslemische Persien und das moslemische Syrien näher miteinander verwandt wären als Tibet oder Burma mit Indien. (Fs)
382a Vor allem aber wird der Historiker voraussichtlich gegen Toynbees Auffassung Einspruch erheben, daß die tertiären Zivilisationen durch die höheren Religionen abgelöst werden. Nach dieser Theorie hat die Zivilisation ihren Zweck in ihrer sekundären Phase durch die Hervorbringung der höheren Religionen erfüllt. Damit hat sie, wie Toynbee sagt, ihren Auftrag erschöpft, und eine neue und höhere Form der Gesellschaft, die der Weltkirchen, tritt an ihre Stelle. Die tertiären Zivilisationen haben daher keine historische Funktion; sie sind überflüssige Wiederholungen einer früheren Phase der Geschichte und für den Historiker nicht von wesentlichem Wert. Laut Toynbee(siehe Band VII, S. 448) besteht der Prozeß der Geschichte aus vier Phasen und nicht mehr: Erstens den primitiven Gesellschaften, zweitens den primitiven Zivilisationen, drittens den sekundären Zivilisationen und viertens den höheren Religionen. (Fs)
382b Ich kann mir nicht vorstellen, daß irgendeine Anschauung soviel Widerspruch von seiten des durchschnittlichen Historikers hervorrufen wird wie diese. Denn diese tertiären Zivilisationen bilden das Hauptgebiet der modernen geschichtswissenschaftlichen Forschung. Wenn sie, wie Toynbee sagt, für sein Studium "vollständig unwesentlich geworden sind" (siehe Band VII, S. 449), so genügt das, um seine Geschichtstheorie in den Augen der Historiker zu verurteilen. (Fs)
382d Es ist sicher schwer zu glauben, daß diese jüngstvergangenen und gegenwärtigen Zivilisationen weniger historische Bedeutung haben sollen als die hettitische oder die Zivilisation Yukatans. Auch ist Toynbee in dieser Hinsicht nicht ganz konsequent, denn ein sehr großer Teil seines Geschichtsstudiums ist diesen tertiären Zivilisationen, insbesondere den beiden islamischen und den drei christlichen, gewidmet; und obwohl vieles von dem, was er über die moderne abendländische Zivilisation sagt, absprechend und kritisch ist, so ist es nicht ganz richtig. Es bleibt noch immer genug auf der positiven Seite übrig, um ihren Anspruch auf historische Bedeutung zu rechtfertigen. (Fs)
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