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Autor: Dawson, Christopher

Buch: Gestaltungskräfte der Weltgeschichte

Titel: Gestaltungskräfte der Weltgeschichte

Stichwort: Augustinus, Gottesstaat: Kirche = 1000jähriges Reich der Apokalypse (Kritik v. Harnack) ; Newman; dynamische Kraft d. Gesellschaft: Wille; Korruption d. Willens -> soziales Übel; Gnade -> Widerherstellung des Willens -> soziales Gut; Kirche - Staat

Kurzinhalt: Der heilige Augustinus trennt das sittliche Leben niemals von dem sozialen. Die dynamische Kraft des einzelnen ebenso wie die der Gesellschaft liegt im Willen, und der Gegenstand ihres Willens bestimmt den sittlichen Charakter ihres Lebens.


Textausschnitt: 359a Der verstorbene Dr. Figgis hat in seinen ausgezeichneten Vorträgen über die politischen Aspekte des Gottesstaates des heiligen Augustinus auf diese Predigt Newmans hingewiesen, da sie zeige, wie weitgehend die spätere abendländische Tradition die vom heiligen Augustinus begründete politische Denkweise über die Kirche beibehalten hat. Aber auch hier stellt Newmans Lehre im Grunde nicht die Anschauungen seiner eigenen Zeit und auch nicht die des Mittelalters dar, sondern eine bewußte Erneuerung der patristischen augustinischen Lehre. Wir haben gesehen, wie das Frühchristentum und besonders die frühe abendländische Tradition einen intensiven sozialen Realismus in ihrer Eschatologie und ihrer Auffassung der Kirche und des Gottesreiches an den Tag legten. Der heilige Augustinus löste sich endgültig von der chiliastischen Tradition los und wendete sich einer völlig geistigen Eschatologie zu. Aber in seiner Einstellung gegenüber der Kirche hielt er an dem traditionellen sozialen Realismus fest. Ja, er verstärkte ihn noch dadurch, daß er die Kirche mit dem Tausendjährigen Reich der Apokalypse identifizierte: Ecclesia et nunc est regnum Christi regnumque caelorum1. Daher ist es die Kirche, in der die Weissagungen über das Himmelreich ihre Erfüllung finden und selbst jene, die sich scheinbar auf das Jüngste Gericht beziehen, lassen sich im Grunde auf "jene Ankunft des Erlösers anwenden, die sich in der gesamten gegenwärtigen Zeit in Seiner Kirche, das heißt, in Seinen Gliedern, da ja alles Sein Leib ist, allmählich vollzieht2."

"O beata ecclesia", schreibt er, "quodam tempore audisti, quodam tempore vidisti... Omnia enim quae modo complentur antea prophetata sunt. Erige oculos ergo, et diffunde per mundum: vide jam hereditatem usque ad terminos orbis terrae. Vide jam impleri quod dictum est: Adorabunt eum omnes reges terrae, omnes gentes servient illi3."

360a Das Senfkorn ist gewachsen, bis es größer wurde als alle Gewächse, und die Großen dieser Erde haben in seinen Zweigen gewohnt. Das Joch Christi ruht auf dem Nacken der Könige und wir haben gesehen, daß das Oberhaupt des größten Reiches, das die Welt gekannt hat, seine Krone ablegte und vor dem Grab des Fischers kniete4. (Fs)

360b Daher begründet Augustinus seine Forderung, die weltliche Macht gegen die Donatisten einzusetzen, nicht auf dem Recht des Staates, in religiöse Fragen einzugreifen, sondern auf dem Recht der Kirche, sich der Mächte dieser Welt zu bedienen, die Gott Seiner Weissagung zufolge Christus unterstellt hat. "Alle Könige der Erde werden Ihn anbeten und alle Völker werden Ihm dienen" - "et ideo hac Ecclesiae potestate utimur, quam ei Dominus et promisit et dedit5."

360c Für manche, besonders für Reuter und Harnack, schien diese Lobpreisung der sichtbaren Kirche völlig unvereinbar mit der augustinischen Gnadenlehre. Es ist auch schwierig, die Theologie des heiligen Augustinus zu verstehen, wenn wir sie vom Standpunkt der Prinzipien der Reformation aus betrachten. Aber wenn wir die modernen Entwicklungen beiseite lassen und seine Lehre von der Gnade und der Kirche von einem rein augustinischen Standpunkt aus betrachten, ist ihre Einheitlichkeit und Folgerichtigkeit offenkundig. (Fs)

360d Der heilige Augustinus trennt das sittliche Leben niemals von dem sozialen. Die dynamische Kraft des einzelnen ebenso wie die der Gesellschaft liegt im Willen, und der Gegenstand ihres Willens bestimmt den sittlichen Charakter ihres Lebens. So wie die Korruption des Willens durch die Erbsünde bei Adam in der Vererbung durch das Fleisch zu einem sozialen Übel wird, das die gefesselte Menschheit in der gemeinsamen Sklaverei der Sinnlichkeit eint, so ist auch die Wiederherstellung des Willens durch die Gnade in Christus ein soziales Gut, das durch das Eingreifen des Heiligen Geistes in sakramentaler Form gespendet wird und die erneuerte Menschheit in einer freien geistigen Gemeinschaft unter dem Gesetz der Liebe eint. Die Gnade Christi findet sich nur in der "Gesellschaft Christi". "Woher", schreibt er, "würde der Gottesstaat seinen Ausgang nehmen, seinen Fortgang erfahren und seinen verdienten Abgang erleben, wenn das Leben der Heiligen kein gemeinschaftliches wäre6?" So ist die Kirche tatsächlich die im Kommen begriffene neue Menschheit, und ihre irdische Geschichte ist die der Erbauung des Gottesstaates, der seine Vollendung in der Ewigkeit findet. "Adhuc aedificatur templum Dei7." Infolgedessen ist die irdische Kirche trotz aller ihrer Unvollkommenheiten doch die vollkommenste Gesellschaft, die es auf Erden geben kann. Ja, sie ist die einzige echte Gesellschaft, weil sie die einzige ist, die einem spirituellen Willen entspringt. Die irdischen Reiche streben nach den irdischen Gütern. Die Kirche, und nur sie allein, strebt nach geistigen Gütern und nach einem Frieden, der ewig ist. (Fs)

Kommentar (28.07.10): Zum Ende des Absatzes oben: Was ist, wenn Priester und Pfarren ganz offensichtlich nicht mehr nach geistigen Gütern streben?

361a Es mag scheinen, als gäbe es in einer solchen Lehre nur wenig Platz für die Forderungen des Staates. Ja, man kann nicht leugnen, daß der Staat im Denken des heiligen Augustinus eine sehr untergeordnete Stellung einnimmt. In seiner schlimmsten Form ist er eine feindliche Macht, die Verkörperung der Ungerechtigkeit und der Selbstsucht. In seiner besten ist er eine völlig rechtmäßige und notwendige Gesellschaft, aber eine, die auf zeitliche und Teilziele beschränkt ist und die sich daher der größeren und universaleren Gesellschaft unterordnen muß, in der auch seine eigenen Mitglieder ihre wahre Staatsbürgerschaft finden. Im Grunde steht der Staat so ziemlich in demselben Verhältnis zur Kirche, in der eine Wohltätigkeitsgesellschaft oder eine Innung zum Staat steht. Er übt eine nützliche Tätigkeit aus und hat ein Anrecht auf die Treue seiner Mitglieder, aber er kann nie den Anspruch erheben, der größeren Gesellschaft gleichgestellt zu werden oder als ihr Vertreter zu fungieren8. (Fs)

362a Auf Grund dieser Anschauungen wurde der heilige Augustinus häufig als Schöpfer des mittelalterlichen theokratischen Ideals und sogar (von Reuter) als "Begründer des Katholizismus" angesehen9. In Wirklichkeit verdanken wir ihm mehr als jedem anderen das charakteristische abendländische Ideal der Kirche als einer dynamischen sozialen Macht im Gegensatz zu der statischen und metaphysischen Auffassung, die das byzantinische Christentum von ihr hatte. Aber daraus folgt nicht notwendig, daß der Einfluß des heiligen Augustinus dazu neigte, die sittliche Autorität des Staates zu schwächen und dem sozialen Alltagsleben seine geistige Bedeutung zu rauben. Wenn wir die Dinge nicht von dem engen Gesichtspunkt der rechtlichen Beziehungen zwischen Kirche und Staat betrachten, sondern wie der heilige Augustinus selbst es getan hat, vom Standpunkt der relativen Bedeutung des geistigen und des materiellen Elementes im Leben, so werden wir erkennen, daß seine Lehre eigentlich für die sittliche Freiheit und Verantwortung eintritt. Im Römischen Reich ebenso wie in den heiligen Monarchien des östlichen Typus wird der Staat zu einer übermenschlichen Macht erhoben, der gegenüber der einzelne keine Rechte und der Wille des einzelnen keine Macht hat. Im Osten erwies sich sogar das Christentum als machtlos, diese Tradition umzustoßen, und im Byzantinischen Reich wie in Rußland erhielt das alte orientalische Ideal eines allmächtigen heiligen Staates und eines passiven Volkes neuerlich die Sanktion der Kirche. Im Westen aber brach der heilige Augustinus entscheidend mit dieser Tradition, indem er dem Staat den Nimbus seiner Göttlichkeit nahm und das Prinzip der sozialen Ordnung im Willen des Menschen suchte. Dadurch ermöglichte die augustinische Lehre trotz all ihrer Jenseitigkeit zum erstenmal das Ideal einer auf der freien Persönlichkeit und einem gemeinsamen Streben nach sozialen Zielen beruhenden sozialen Ordnung. Mehr als uns bewußt ist verdanken daher die abendländischen Ideale der Freiheit, des Fortschritts und der sozialen Gerechtigkeit dem tiefschürfenden Geist des afrikanischen Denkers, dem der weltliche Fortschritt und das wechselnde Schicksal des irdischen Staates gleichgültig waren, weil er "eine Stadt suchte, deren Fundamente von Gott erbaut und geschaffen sind". (Fs) (notabene)

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