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Autor: Dawson, Christopher

Buch: Gestaltungskräfte der Weltgeschichte

Titel: Gestaltungskräfte der Weltgeschichte

Stichwort: Augustinus; Gottesstaat: spirituelle Einheit des ganzen Weltalls und das Endziel der Schöpfung; Gst. - kosmos noetos; Au. - Origenes; Maß d. Zeit in der Seele (Beispiel: Lied); Mensch als Schöpfer d. Geschichte, Newman

Kurzinhalt: Augustinus sagt: "Christus ist der gerade Weg, auf dem der Geist dem kreisförmigen Irrgarten des heidnischen Denkens entflieht1." Aber obwohl der Glaube und die religiöse Erfahrung diese Veränderung erkannt hatten, fehlte ihr noch die philosophische ...

Textausschnitt: 351b Dieser philosophische Universalismus ist nicht auf Augustinus' Auffassung von der Ordnung der Dinge beschränkt; er beeinflußte auch seine Eschatologie und seine Lehre von der Kirche. Vor allem aber bestimmte er seine Behandlung des zentralen Themas seines großen Werkes - des "Gottesstaates" - und entfremdete ihn völlig dem religiösen Liberalismus der alten apokalyptischen Tradition. Für Augustinus ist der Gottesstaat nicht das konkrete Tausendjährige Reich der älteren Apologeten, noch ist er die sichtbare historische Kirche. Er ist eine übernatürliche und zeitlose Wirklichkeit, eine Gesellschaft, "deren Herrscherin die Wahrheit, deren Gesetz die Liebe und deren Dauer die Ewigkeit ist"1. Er ist älter als die Welt, da seine ersten und echtesten Bürger die Engel sind. Er ist so groß wie die Menschheit, da "Christus in allen aufeinanderfolgenden Zeitaltern derselbe Sohn Gottes ist, gleich ewig wie der Vater und die unwandelbare Weisheit, durch die jede vernünftige Seele - rationalis anima - selig wird". Infolgedessen wurde "jeder, der seit Anbeginn der Menschheit an Ihn glaubte und Ihn auf irgendeine Weise kannte und in frommer und gerechter Weise nach Seinen Geboten lebte, zweifellos durch Ihn gerettet, wann immer und wo immer er auch gelebt haben mag"2. (Fs) (notabene)

352a Daher ist der Gottesstaat ebenso umfassend wie die geistige Schöpfung, soweit er nicht durch die Sünde entheiligt wurde. Er ist im Grunde nichts Geringeres als die von der göttlichen Vorsehung geplante spirituelle Einheit des ganzen Weltalls und das Endziel der Schöpfung. (Fs) (notabene)
352b Diese Gedanken sind vollständig unvereinbar mit dem alten chiliastischen Glauben, der im Abendland noch sehr stark war und zu dem auch Augustinus sich früher bekannt hatte. Sie führten ihn dazu, daß er Tyconius' Deutung der entscheidenden Stelle in der Apokalypse zustimmte, wonach die irdische Herrschaft Christi nichts anderes ist als das Leben der Streitenden Kirche - eine Erklärung, die von da an im Abendland allgemeine Gültigkeit erlangte. Ja, er ging sogar noch weiter als Tyconius und die große Mehrheit der älteren Schriftsteller, indem er alle Versuche aufgab, den Zeitpunkt des Eintreffens der Weissagung in bezug auf die Zukunft chronologisch genau zu bestimmen und die herrschende Annahme von dem unmittelbar bevorstehenden Ende der Welt ablehnte3. (Fs)

352c So beeinflußte Augustinus die christliche Eschatologie des Abendlandes ebenso entscheidend wie Origenes sie fast zweihundert Jahre früher im Osten beeinflußt hatte. Bis zu einem gewissen Grad verlief ihr Einfluß nach der gleichen Richtung. Für Augustinus wie für Origenes nahm das Ideal des Gottesreiches eine metaphysische Form an und wurde mit der letzten, zeitlosen Wirklichkeit des geistigen Seins identisch. Der augustinische Gottesstaat hat eine gewisse Ähnlichkeit mit dem neuplatonischen Begriff der geistigen Welt kósmos noEtós: ja, die christlichen Platoniker späterer Zeiten, die in gleichem Maße Jünger Augustinus' und Plotins waren, verquickten bewußt beide Ideen miteinander. So schreibt John Norris of Bemerton von seiner "Idealen Welt": "Du bist jenes glorreiche Jerusalem, dessen Fundamente auf den heiligen Hügeln stehen, den ewigen Bergen, ja den ewigen Wesenheiten und unwandelbaren Ideen der Dinge... Hier sind ta onta, die Dinge, die sind und die wahrhaftig und vor allem sind - quae vere summeque sunt -, wie der heilige Austin sagt, und zwar, weil sie notwendig und unveränderlich sind und weder nicht sein noch anders sein können. Hier leben, blühen und leuchten jene strahlenden und unvergänglichen Wirklichkeiten, von denen die Dinge dieser Welt nur das Abbild, das Spiegelbild, der Schatten und das Echo sind4."

353a Dieser platonische Idealismus machte tiefen Eindruck auf den Geist des heiligen Augustinus. Trotzdem ging er in dieser Richtung nie so weit wie Origenes. Denn sein Platonismus ließ sein Gefühl für die Wirklichkeit und die Bedeutung des gegeschichtlichen Prozesses unberührt. Für Origenes hingegen hatte der zeitliche Prozeß keinen Abschluß. Es gab eine unendliche Aufeinanderfolge von Welten, in denen die unsterbliche Seele ihren nie endenden Lauf verfolgte. Da "die Seele unsterblich und ewig ist, kann sie in den zahlreichen und endlos langen Zeiten der unmeßbaren und verschiedenen Welten vom höchsten Guten zum tiefsten Bösen herabsinken oder vom tiefsten Bösen wieder zum höchsten Guten emporgehoben werden"5. Das entspricht nicht ganz der klassischen griechischen Lehre, da Origenes, wie ich an anderer Stelle gezeigt habe6, die Lehre von der Wiederkehr aller Dinge ausdrücklich als unvereinbar mit dem Glauben an einen freien Willen ablehnt. Es erinnert viel mehr an die hinduistische Lehre des Samsara - der unendlichen Kette von Existenzen, die das Ergebnis der eigenen Handlungen der Seele sind. Aber obwohl diese Lehre die Freiheit des Willens zuläßt, wirkt sie noch zerstörender auf die organische Einheit der Menschheit und die Bedeutung ihrer sozialen Bestimmung als die rein griechische. Daher lehnte der heilige Augustinus sie ebenso entschieden ab wie die Lehre von der zyklischen Wiederkehr. Er gibt zu, daß die Idee einer ständigen Wiederkehr eine natürliche Folge des Glaubens an die Ewigkeit der Welt ist; aber wenn wir an eine Schöpfung glauben, wie auch Origenes es tut, besteht weiter keine Notwendigkeit für die Lehre des "Kreislaufs der Seelen" oder für den Glauben, daß innerhalb der Zeit nichts Neues oder Endgültiges geschehen kann. Die Menschheit hat einen absoluten Anfang gehabt und geht einem absoluten Endziel zu. Es kann keine Wiederkehr geben. Was in der Zeit begonnen wurde, wird in der Ewigkeit vollendet werden7. Daher ist die Zeit kein ständig rotierendes Bild der Ewigkeit; sie ist ein Prozeß, der sich in einer bestimmten und unabänderlichen Richtung bewegt. (Fs)

354a Diese Erkenntnis der Einmaligkeit und Unabänderlichkeit des irdischen Prozesses - diese "Explosion der ständigen Zyklen" - ist eine der größten Leistungen des augustinischen Geistes. Diese veränderte Einstellung liegt zwar im Christentum selbst; denn die ganze christliche Offenbarung beruht auf irdischen Ereignissen, die trotzdem absolute Bedeutung und ewigen Wert besitzen. Wie der heilige Augustinus sagt: "Christus ist der gerade Weg, auf dem der Geist dem kreisförmigen Irrgarten des heidnischen Denkens entflieht8." Aber obwohl der Glaube und die religiöse Erfahrung diese Veränderung erkannt hatten, fehlte ihr noch die philosophische Analyse und Definition. Diese erhielt sie durch den heiligen Augustinus, der nicht nur der Begründer der christlichen Geschichtsphilosophie war, sondern tatsächlich der erste, der den Wert der Zeit erkannte9. (Fs) (notabene)

355a Seinen scharfen und tiefschürfenden Geist lockte es besonders, das Mysterium der Zeit zu betrachten, das so wesentlich mit dem Mysterium des geschaffenen Wesens verknüpft ist. Er empfand die Tragik der Veränderlichkeit ungemein stark - omnis quippe iste ordo pulcherrima rerum valde bonarum modis suis peractis transiturus est; et mane quippe in eis factum est et vespera10 -, aber er fühlte, daß eben diese Möglichkeit der betrachtenden Handlung zeigte, daß der Geist gewissermaßen über den Prozeß, den er betrachtete, hinauswuchs. Infolgedessen konnte er sich nicht mit der naiven Objektivität der griechischen Wissenschaft zufriedengeben, die die Zeit mit der Bewegung der Himmelskörper identifizierte11. Wenn die Bewegung von Körpern das einzige Maß der Zeit ist, wie können wir dann von Vergangenheit und Zukunft sprechen? Eine Bewegung, die eben vorübergegangen ist, hat aufgehört zu sein. Es bleibt nur die Gegenwart des flüchtigen Augenblicks, ein sich bewegender Punkt im Nichts. Daher, schließt er, findet man das Maß der Zeit nicht in den Dingen, sondern in der Seele; die Zeit ist die geistige Ausdehnung - distentio animae. (Fs) (notabene)

355b So ist die Vergangenheit die Erinnerung der Seele, die Zukunft ihre Erwartung und die Gegenwart ihre Aufmerksamkeit. Die Zukunft, die nicht ist, kann nicht lang sein; was wir unter einer langen Zukunft verstehen, ist eine lange Erwartung der Zukunft, und eine lange Vergangenheit ist eine lange Erinnerung an die Vergangenheit. "In dir, o Geist, messe ich die Zeiten... Den Eindruck, den die vorübergehenden Dinge auf dich machen und der, wenn sie vorübergegangen sind, bleibt: den messe ich als gegenwärtigen, und nicht die Dinge, die vorübergingen und ihn entstehen ließen. Ihn messe ich, wenn ich die Zeiten messe. Also sind die Zeiten entweder dieser Eindruck, oder ich messe die Zeiten nicht12."
356a Schließlich vergleicht er den Prozeß der Zeit mit dem Vortrag eines Liedes, das jemand auswendig weiß. Ehe der Vortrag beginnt, besteht er nur in der Erwartung; ist er vorbei, besteht er nur in der Erinnerung; aber während seines Verlaufes besteht er, wie die Zeit, in drei Dimensionen: "Das Leben dieser Tätigkeit spaltet sich in die Erinnerung an das, was ich vorgetragen, und in die Erwartung dessen, was ich vortragen werde; gegenwärtig ist nur meine Aufmerksamkeit, mit deren Hilfe, was zukünftig war, übertragen wird, auf daß es vergangen wird. In dem Maße, wie sich diese Tätigkeit abspielt, wird die Erwartung verkürzt, die Erinnerung verlängert, bis endlich die ganze Erwartung aufgezehrt ist, sobald die ganze Tätigkeit abgeschlossen in die Erinnerung übergegangen ist." Und was für dieses Lied gilt, das gilt ebenso für jede seiner Zeilen und Silben und für die längere Handlung, deren Teil es ist; es gilt für das ganze Leben der Menschen, das aus einer Reihe solcher Handlungen besteht und für die ganze Welt des Menschen, die die Summe der einzelnen Leben ist13. (Fs) (notabene)

356b Diese neue Theorie über die Zeit, die Augustinus begründete, ermöglichte auch eine neue Auffassung der Geschichte. Wenn der Mensch nicht der Sklave und das Geschöpf der Zeit ist, sondern ihr Herr und Schöpfer, dann wird auch die Geschichte ein schöpferischer Vorgang. Sie wiederholt sich nicht sinnlos, sie wird mit der zunehmenden Erfahrung des Menschen zu einer organischen Einheit. Die Vergangenheit stirbt nicht, sie wird in die Menschheit aufgenommen. Infolgedessen ist ein Fortschritt möglich, da das Leben der Gesellschaft und der Menschheit ebensosehr Kontinuität und Fähigkeit zu geistigem Wachstum besitzt wie das Leben des einzelnen. (Fs) (notabene)

356c Man kann die Frage stellen, wie weit der heilige Augustinus dies alles erfaßte. Viele moderne Schriftsteller leugnen, daß er die Möglichkeit des Fortschrittes erkannte oder daß er einen echten Sinn für die Geschichte besaß. Sie erklären, wie ich schon erwähnt habe, daß der "Gottesstaat" die Menschheit in zwei statische, ewige Ordnungen geteilt sieht, deren Schicksal von Anfang an vorherbestimmt ist. Aber diese Kritik beruht, glaube ich, auf einer falschen Auffassung der Einstellung des heiligen Augustinus zu der Geschichte. Augustinus hat sich zwar nicht mit dem Problem eines weltlichen Fortschrittes befaßt, aber seiner Meinung nach war die weltliche Geschichte vorwiegend nicht-fortschrittlich. Sie war das Schauspiel einer Menschheit, die ihrem eigenen Schwanz nachjagt. Die eigentliche Geschichte der Menschheit findet sich in dem Vorgang der Erleuchtung und Errettung, durch den die menschliche Natur erlöst wird und ihre geistige Freiheit wiedererhält. Er faßte diesen Vorgang auch nicht in einer abstrakten oder unhistorischen Weise auf. Denn er betont ständig die organische Einheit der Geschichte der Menschheit, die gleich dem Leben eines Einzelmenschen eine regelrechte Folge von Zeiten durchmacht14, und zeigt, wie die "Epochen der Welt auf wunderbare Weise durch die allmähliche Entwicklung des göttlichen Planes miteinander verknüpft sind15. "Denn Gott, der ebenso der unwandelbare Lenker wie der unwandelbare Schöpfer der wandelbaren Dinge ist, ordnet alle Ereignisse in Seiner Weisheit, bis die Schönheit des vollendeten Laufes der Zeit, dessen Teile die jedem Zeitalter angepaßten Ordnungen sind, wie die erhabene Melodie eines unendlich weisen Meisters des Gesanges vollendet sein wird16." (Fs) (notabene)

357a Es ist richtig, daß der heilige Augustinus, wie wir schon gesehen haben, im "Gottesstaat" immer den ewigen und übernatürlichen Charakter der himmlischen Stadt im Gegensatz zu der Veränderlichkeit und dem Bösen des irdischen Lebens betont. Man kann den "Gottesstaat" nicht mit der Kirche identifizieren, wie manche Schriftsteller es getan haben, da in der himmlischen Stadt kein Platz für das Böse oder Unvollkommene ist und es keine Vermischung der Sünder mit den Heiligen gibt. Andererseits ist es ein noch größerer Fehler, die beiden Begriffe vollkommen zu trennen und zu schließen, der heilige Augustinus habe der hierarchischen Kirche keinen absoluten und übernatürlichen Wert zuerkannt. Gewiß ist die Kirche nicht der ewige Gottesstaat, aber sie ist sein Organ und seine Vertreterin auf Erden. Sie ist der Punkt, an dem die übernatürliche geistige Ordnung sich in die Welt der Sinne einschaltet, die einzige Brücke, über die das Geschöpf von der Zeit zur Ewigkeit gelangen kann. Der Standpunkt des heiligen Augustinus ist in Wirklichkeit genau der gleiche, den Newman so oft äußert, wenn auch ihre Terminologie einigermaßen verschieden ist. Wie Augustinus betont auch Newman den geistigen und ewigen Charakter des Gottesstaates und betrachtet die sichtbare Kirche als seine irdische Verkörperung, "die unsichtbare Welt, durch die Gottes heimliche Macht und Sein Erbarmen in diese Welt eingreifen; und die Kirche, die man sieht, ist eben jener Teil von ihr, durch den sie eingreift. Sie gleicht den Inseln im Meer, die in Wirklichkeit nur die Gipfel der ewigen Hügel sind - hoch, groß, weit in die Tiefe ragend und von einer Wasserflut bedeckt17." (Fs) (notabene)

358a Weder beim heiligen Augustinus noch bei Newman führt diese Betonung des übernatürlichen und geistigen Charakters des Gottesstaates zu irgendeiner Herabwürdigung der hierarchischen Kirche. Newman nennt die Kirche eine staatliche Macht, "kein bloßes Glaubensbekenntnis oder eine Philosophie, sondern ein Gegenreich. Sie besetzte Land, sie erhob den Anspruch, über jene zu herrschen, über die bis dahin Regierungen dieser Welt unumstritten geherrscht hatten, und nur in dem Maß, als die Dinge diesem Reich einverleibt und dienstbar gemacht werden, als Könige und Fürsten, Edelleute und Staatenlenker, Kaufleute und Schriftsteller, der Handwerker, der Handelsmann und der Arbeiter sich vor der Kirche Christi demütigen und sich in den Worten des Propheten Isaias 'vor ihr mit dem Gesicht zur Erde niederwerfen und den Staub zu ihren Füßen küssen', wird die Welt lebendig und geistig, ein angemessener Gegenstand der Liebe und eine Ruhestätte für die Christen18."

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