Autor: Dawson, Christopher Buch: Gestaltungskräfte der Weltgeschichte Titel: Gestaltungskräfte der Weltgeschichte Stichwort: Augustinus, Gottesstaat (XV bis XVIII); Zusammenfassung der Weltgeschichte (Erbsünde; Christentum bringt gute Staatsbürger hervor); Au.: Definition: Staat (auf gemeinsamen Willen beruhend); Newman in den Bahnen Augustins
Kurzinhalt: Daher führt die Betrachtung der Geschichte den heiligen Augustinus dahin, den politischen Idealismus der Philosophen abzulehnen und Ciceros Behauptung anzuzweifeln, daß der Staat vorwiegend auf Gerechtigkeit beruhe.
Textausschnitt: 346b Im späteren Teil des "Gottesstaates" - in den Büchern XV bis XVIII - gibt der heilige Augustinus eine kurze Zusammenfassung der Weltgeschichte von diesem Gesichtspunkt aus. Einerseits verfolgt er die Geschichte der irdischen Stadt - des geheimnisvollen Babylon - im Lauf der Zeiten und findet ihre vollständigste Verkörperung in dem Reich der Assyrer und im Römischen Weltreich, "von denen alle anderen Reiche nur Ergänzungen sind". Andererseits verfolgt er die Entwicklung der himmlischen Stadt von ihren Anfängen bei den Patriarchen über die Geschichte Israels und die heilige Stadt des ersten Jerusalem bis zu ihrer letzten Verkörperung auf Erden in Gestalt der katholischen Kirche. (Fs) (notabene)
346c Die straffe Vereinfachung der Geschichte, die eine solche Skizze erfordert, unterstreicht naturgemäß die kompromißlose Schärfe der Denkweise des heiligen Augustinus. Auf den ersten Anblick scheint er, ebenso wie Tertullian und Commodian, den Staat und jede weltliche Zivilisation abzulehnen, da sie auf dem menschlichen Stolz und dem menschlichen Egoismus aufgebaut sind, und die einzig positiv zu wertende Gesellschaft in der Kirche und dem Reich der Heiligen zu sehen. In gewissem Sinn ergibt sich dieser Schluß aus der Lehre des heiligen Augustinus vom Menschen. Die Menschheit wurde an ihrer Wurzel verdorben. Sie ist Abfall geworden - massa damnata. Die Erlösung besteht darin, daß dem alten Stamm eine neue Menschheit aufgepfropft und auf den Trümmern der alten Welt eine neue erbaut wird. Daher sieht er in dem sozialen Leben der unerlösten Menschheit eine Flut ansteckender und erblicher Übel, gegen die die Macht des einzelnen ohne Hilfe vergeblich ankämpfen wird. "Doch ach", ruft er, "du Strom der menschlichen Gewohnheit! Wer stellte sich dir entgegen? Wie lange wirst du nicht versiegen? Wie lange noch treibst du die Söhne der Eva hinaus auf das große, fürchterliche Meer, das jene, die das Schiff bestiegen haben, kaum überqueren1?"
347a Diese Auffassung von der menschlichen Natur und der sozialen Last des Bösen findet ihre weitere Bekräftigung in dem Schauspiel der Weltgeschichte. Für Augustinus beruht sie wie für den heiligen Cyprian2 auf der Ungerechtigkeit; sie gedeiht durch Blutvergießen und Unterdrückung. Er teilte nicht den patriotischen Optimismus von Männern wie Eusebius oder Prudentius, denn er erkannte vielleicht klarer als alle anderen Schriftsteller des Altertums, um welchen Preis die Segnungen der Einheit des Imperiums erkauft worden waren. "Die herrschende Stadt", schreibt er, "bemüht sich stets, allen Überwundenen ihre Sprache aufzuerlegen, um eine größere Gesellschaft und eine größere Zahl an Dolmetschern auf beiden Seiten zu schaffen. Das mag richtig sein, aber wie viele Menschenleben hat es gekostet. Und angenommen, es ist geschehen, so ist das Schlimmste noch nicht vorüber, denn ... die Ausdehnung des Reiches erzeugte noch schlimmere Kriege ... Deshalb muß derjenige, der all dieses äußerste Leid und Blutvergießen nur mit Mitleid betrachten kann, zugeben, daß es ein Elend ist. Wer sie aber ohne ein Gefühl des Leides oder ein Nachdenken darüber ertragen kann, ist noch weit elender, weil er glaubt, das Glück eines Gottes zu empfinden, während er das natürliche Empfinden eines Menschen eingebüßt hat3."
347b Ebenso werden die gepriesenen Segnungen des römischen Rechtes nur durch eine Unzahl ungerechter Handlungen gegen Einzelmenschen, durch die Folter unschuldiger Zeugen und die Verurteilung Schuldloser erkauft. Der Richter würde es für unrecht halten, die Pflichten seines Amtes zu vernachlässigen, "aber er hält es niemals für unrecht, unschuldige Zeugen zu foltern und sie, wenn er sie zu ihren eigenen Anklägern gemacht hat, als schuldig zum Tode zu verurteilen"4. (Fs)
348a Daher führt die Betrachtung der Geschichte den heiligen Augustinus dahin, den politischen Idealismus der Philosophen abzulehnen und Ciceros Behauptung anzuzweifeln, daß der Staat vorwiegend auf Gerechtigkeit beruhe. Wäre dies der Fall, erklärt er, dann wäre Rom kein Staat, und nachdem man in keinem irdischen Reich wahre Gerechtigkeit findet, wird der einzig wahre Staat der Gottesstaat sein5. Um daher dieser letzten Folgerung zu entgehen, scheidet er alle sittlichen Elemente aus seiner Definition des Staates aus und definiert ihn an der früher erwähnten Stelle als etwas auf einem gemeinsamen Willen Beruhendes, ob nun das Ziel dieses Willens gut oder schlecht sei6. (Fs)
348b Der drastische Realismus dieser Definition hat mehrere moderne Schriftsteller abgestoßen, die sich mit Augustinus befaßten. Ja, ein so hervorragender Gelehrter auf dem Gebiet des politischen Denkens wie A. J. Carlyle gibt nur ungern zu, daß der heilige Augustinus wirklich meinte, was er sagte7 und zitiert die berühmte Stelle aus dem Buch IV, Kapitel 4: "Was sind schließlich Reiche ohne Gerechtigkeit anderes als große Räuberbanden ?"8, um zu zeigen, daß die Gerechtigkeit für jeden echten Staat lebensnotwendig ist. Ihre wirkliche Tendenz scheint aber das genaue Gegenteil davon zu sein. Augustinus stellt fest, daß es keinen Unterschied zwischen dem Eroberer und dem Räuber gibt, mit Ausnahme des Umfangs ihrer Handlungen. Denn er fährt fort: "Sind denn Räuberbanden etwas anderes als kleine Staaten ?" Und er billigt die Antwort des Piraten an Alexander: "Ich mit meinem kleinen Schiff werde ein Räuber genannt, aber dich mit der großen Flotte nennen sie den siegreichen Feldherrn."
348c In Wirklichkeit enthalten die Anschauungen des heiligen Augustinus nichts Unlogisches oder moralisch Unwürdiges. Sie ergeben sich folgerichtig aus seiner Lehre über die Erbsünde; ja, sie sind in der gesamten christlichen sozialen Tradition enthalten und werden oft in der späteren christlichen Literatur ausgedrückt. Die berühmte Stelle in dem Brief Papst Gregors VII. an Hermann von Metz, die von vielen modernen Schriftstellern als Beweis seines Glaubens an den teuflischen Ursprung des Staates angesehen wird, ist ganz einfach eine Feststellung desselben Standpunktes, während Newman, der in dieser Beziehung wie in so vielen anderen ein treuer Anhänger der patristischen Tradition ist, dasselbe Prinzip in den schärfsten Worten bekräftigt: "Irdische Reiche", sagt er, "sind nicht auf der Gerechtigkeit, sondern auf der Ungerechtigkeit aufgebaut. Sie entstehen durch das Schwert, durch Piratengeist, Grausamkeit, Meineid, List und Betrug. Mit Ausnahme des Königreiches Christi hat es niemals ein Reich gegeben, das nicht in Sünde empfangen, geboren, genährt und aufgezogen wurde. Es hat auch keinen Staat gegeben, der nicht an Handlungen und Maximen gebunden war, deren Befolgung sein Verbrechen und deren Aufgabe sein Verderben ist. Welche Monarchie begann nicht durch Invasion oder Usurpation? Welche Revolution entstand ohne Eigennutz, Gewalt oder Heuchelei? Welche Volksregierung wird nicht von allen Strömungen hin und her getrieben, als hätte sie kein Gewissen und kein Verantwortungsgefühl? Welche Oligarchie ist nicht egoistisch und skrupellos? Wo gibt es militärische Stärke ohne Freude am Krieg? Wo gibt es Handel ohne eine Vorliebe für schmutzige Geschäfte, welche die Wurzel alles Übels sind9?" (Fs)
349a Aber aus dieser Verurteilung der herrschenden Ungerechtigkeit in der menschlichen Gesellschaft folgt nicht, daß Newman oder Augustinus damit sagen wollten, der Staat gehöre einer Sphäre an, in der es keine Moral gibt, und die Menschen dürften in ihren sozialen Beziehungen einem anderen Gesetz gehorchen als dem, das für ihr Einzelleben gilt. Im Gegenteil, Augustinus betont häufig, daß gerade das Christentum gute Staatsbürger hervorbringt und daß das einzige Heilmittel für die Übel der Gesellschaft dieselbe Kraft ist, die auch die moralische Schwäche der Einzelseele heilt. "Hierin liegt auch der Schutz des Wohles und Ansehens einer staatlichen Gemeinschaft; denn kein Staat ist vollkommen begründet und in seinem Fortbestand gewahrt, wenn nicht durch das Fundament und Band des Glaubens und einer festgefügten Einheit, in der das höchste und wahrste Gut, nämlich Gott, von allen geliebt wird und die Menschen einander aufrichtig in Ihm lieben, weil sie einander um Seinetwillen lieben10."
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