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Autor: Dawson, Christopher

Buch: Gestaltungskräfte der Weltgeschichte

Titel: Gestaltungskräfte der Weltgeschichte

Stichwort: Augustinus, Gottesstaat; Geschichte: menschliche Natur, Theologie d. Schöpfung u. Gnade; Synthese: Altertum (Gesellschaftslehre) - Christentum (G., Zeit); griechischer Geist: keine G.philosophie (Thukydides: Nemesis, Tyche); Newman; sozialer Dualismus

Kurzinhalt: Der Christ hingegen hatte keine Gesellschaftslehre oder politische Philosophie, aber er besaß eine Geschichtstheorie. Für seine Weltanschauung war die Zeit von ausschlaggebender Bedeutung... Außerdem war die Geschichte nicht nur ein Festhalten ...

Textausschnitt: 2 DER HEILIGE AUGUSTINUS UND DER GOTTESSTAAT

328a Der "Gottesstaat" des heiligen Augustinus war, wie alle seine Bücher, eine Gelegenheitsschrift, die er in einer rein polemischen Absicht und zur Befriedigung eines speziellen Bedürfnisses schrieb. Aber in den vierzehn Jahren, in denen er daran arbeitete - 412 bis 426 - wurde sie aus einer Streitschrift zu einer großen Synthese der gesamten Geschichte der Menschheit und ihrer Bestimmung in Zeit und Ewigkeit. Es ist das eine große Werk des christlichen Altertums, das sich nach seiner eigenen Angabe mit dem Verhältnis des Staates und der menschlichen Gesellschaft im allgemeinen zu den christlichen Grundsätzen befaßt; infolgedessen hat es einen nicht zu ermessenden Einfluß auf die Entwicklung des europäischen Denkens ausgeübt. Für Orosius wie für Karl den Großen, für Gregor I. und Gregor VII., den heiligen Thomas von Aquin und Bossuet blieb es der klassische Ausdruck des christlichen politischen Denkens und der christlichen Einstellung zu der Geschichte. Auch in der modernen Zeit hat es seine Bedeutung nicht verloren. Es ist die einzige Schrift der Kirchenväter, über die der weltliche Historiker niemals gänzlich hinweggeht und die im ganzen 19. Jahrhundert allgemein als Beweis für die Berechtigung galt, den heiligen Augustinus als den Begründer der Geschichtsphilosophie anzusehen. (Fs)

328b In jüngster Zeit hat es jedoch, besonders in Deutschland, eine Strömung gegeben, die diese Berechtigung bestreitet und die Methode des heiligen Augustinus als völlig antihistorisch bezeichnet, weil sie die Geschichte nach einem streng theologischen System auslegt und die gesamte menschliche Entwicklung als etwas betrachtet, das durch zeitlose und unwandelbare übernatürliche Prinzipien vorherbestimmt ist1. Gewiß ist der "Gottesstaat" keine philosophische Geschichtstheorie im Sinne einer rationalen Ableitung aus geschichtlichen Tatsachen. Der heilige Augustinus entdeckt nichts Neues durch die Geschichte; er sieht nur die Auswirkung universaler Prinzipien in ihr. Aber wir können mit Recht bezweifeln, ob Hegel oder irgendein anderer Philosoph des 19. Jahrhunderts etwas anderes getan hat. Sie leiteten ihre Theorien nicht aus der Geschichte ab, sondern legten ihre philosophischen Anschauungen in die Geschichte hinein. (Fs)

329a Was uns der heilige Augustinus gibt, ist eine Synthese der Weltgeschichte im Licht christlicher Prinzipien. Seine Geschichtstheorie ist streng aus seiner Lehre von der menschlichen Natur abgeleitet, die sich ihrerseits zwangsläufig aus seiner Theologie der Schöpfung und der Gnade ergibt. Sie ist keine rationale Lehre, die mit dem geoffenbarten Dogma beginnt und endet; aber sie ist rational in der strengen Logik ihrer Entwicklung und enthält eine absolute rationale und philosophische Lehre über das Wesen der Gesellschaft und des Gesetzes und über das Verhältnis des sozialen Lebens zu der Ethik. (Fs) (notabene)

329b Darin liegt ihre Neuheit. Denn sie verbindet zwei getrennte geistige Traditionen, die sich bis dahin als unvereinbar erwiesen hatten, zu einem zusammenhängenden System. Die griechische Welt besaß eine Gesellschaftslehre und eine politische Philosophie, aber sie war nie zu einer Geschichtsphilosophie gelangt. Der griechische Geist neigte mehr zu einer kosmologischen als zu einer historischen Betrachtungsweise. Nach der griechischen Auffassung hatte die Zeit nur wenig Bedeutung oder Wert. Sie war die bloße "Ziffer der Bewegung", ein unverständliches Element, das infolge der Unbeständigkeit und Wandelbarkeit der sinnlichen Dinge in die Wirklichkeit Eingang fand. Daher konnte sie keinen endgültigen oder geistigen Sinn haben. Sie ist nur insoferne verständlich, als sie regelmäßig ist, das heißt, nach einer wiederkehrenden Gleichheit strebt. Dieses Element der Wiederkehr entsteht durch den Einfluß der Himmelskörper, jener ewigen und göttlichen Existenzen, deren Bewegungen diese niedrigere Welt alles verdankt, was sie an Ordnung und Faßlichkeit besitzt. (Fs) (notabene)

329c Daher ist die Geschichte, insoferne sie aus einmaligen und einzelnen Ereignissen besteht, der Wissenschaft und Philosophie nicht würdig. Der Wert der Geschichte liegt nur in jenem Aspekt ihres Wesens, der unabhängig von der Zeit ist, in dem idealen Charakter des Helden, der idealen Weisheit des Gelehrten und der idealen Ordnung des guten Gemeinwesens. Die einzige geistige Bedeutung der Geschichte liegt in den Beispielen, die sie von der sittlichen Tugend und politischen Weisheit oder von deren Gegenteil gibt. Wie die griechische Kunst schuf auch die griechische Geschichte eine Reihe klassischer Typen, die das spätere Altertum als dauernden Besitz übernahm. Gewiß hatte Griechenland seine Geschichtsphilosophen, wie Thukydides und vor allem Polybius, aber auch für sie ist die Macht, welche die Geschichte beherrscht, die einer äußeren Notwendigkeit - Nemesis oder Tyche -, die die eigentliche Bedeutung der menschlichen Angelegenheiten eher verringert als vergrößert. (Fs)

330a Der Christ hingegen hatte keine Gesellschaftslehre oder politische Philosophie, aber er besaß eine Geschichtstheorie. Für seine Weltanschauung war die Zeit von ausschlaggebender Bedeutung. Der für das griechische Denken und für den modernen Rationalisten so anstößige Gedanke, daß Gott in die Geschichte eingreift und daß ein kleines, unkultiviertes semitisches Volk das Werkzeug eines unabhängigen göttlichen Zweckes wurde, war für ihn Mittelpunkt und Grundlage seines Glaubens. Zum Unterschied von den Theogonien und Mythologien, die die charakteristische Ausdrucksform der griechischen und orientalischen Religion waren, baute das Christentum seine Lehre von Anfang an auf einer heiligen Geschichte auf2. (Fs) (notabene)

330b Außerdem war die Geschichte nicht nur ein Festhalten vergangener Ereignisse; sie wurde als Offenbarung eines göttlichen Planes angesehen, der alle Zeitalter und Völker umfaßte. Die Wandlungen der weltlichen Geschichte, der Aufstieg und Untergang der Reiche und Völker waren, wie schon die jüdischen Propheten gelehrt hatten, dazu da, um Gottes endgültiger Absicht in bezug auf die Errettung Israels und die Errichtung Seines Reiches zu dienen. So lehrt das Neue Testament, daß die gesamte jüdische Ordnung nur eine Stufe im göttlichen Heilsplan war und daß die Schranke zwischen Juden und Heiden jetzt fallen mußte, damit die Menschheit zu einer organischen geistigen Einheit verbunden werden konnte3. Das Erscheinen Christi ist der Wendepunkt in der Geschichte. Es bedeutet "die Fülle der Zeiten"4, die Großjährigkeit der Menschen und die Erfüllung des göttlichen Planes. Von nun an war die Menschheit in eine neue Phase eingetreten. Das Alte war zu Ende und alles war neu geworden. (Fs) (notabene)

331a Daher lag in der bestehenden Ordnung der Dinge für den Christen nichts Endgültiges. Die Reiche der Welt wurden gerichtet und ihr letztes Schicksal war besiegelt. Das Gebäude war der Vernichtung preisgegeben und die Mine, die es zerstören sollte, war gelegt, wenn man auch den genauen Zeitpunkt der Explosion nicht kannte. Der Christ mußte den Blick auf die Zukunft richten, wie ein Diener, der auf die Rückkehr seines Herrn wartet. Er mußte sich von der bestehenden Ordnung lösen und sich auf die Ankunft des Gottesreiches vorbereiten. (Fs)

331b Das mag vom modernen Standpunkt so aussehen, als würde damit der Sinn der Geschichte ebenso aufgehoben wie durch die griechische Anschauung von der Bedeutungslosigkeit der Zeit. Wie Newman schreibt: "Nachdem der Christus gekommen war, mußten nur noch seine Heiligen in die Scheuer gesammelt werden. Kein höherer Priester, keine wahrere Lehre konnte mehr kommen. Das Licht und Leben der Menschen war erschienen, hatte gelitten und war auferstanden, und es blieb nichts mehr zu tun. Die Erde hatte ihr feierlichstes Ereignis erlebt und ihr erhabenstes Schauspiel gesehen und deshalb war die Endzeit da. Und wenn auch zwischen der ersten und zweiten Ankunft Christi Zeit verstreichen mag, so wird dies (wie ich es ausdrücken möchte) im Plan des Evangeliums nicht anerkannt; es ist sozusagen etwas Zufälliges. Wenn Christus sagt, Er werde bald kommen, so ist dieses 'Bald' keine zeitliche Bestimmung, sondern eine Bezeichnung für die natürliche Ordnung. Dieser jetzige Zustand, 'die gegenwärtige Bedrängnis', wie der heilige Paulus ihn nennt, ist immer dem Jenseits nahe und geht in dieses über5."

332a Andererseits war das Reich, auf das der Christ hoffte, wenn es auch ein geistiges und ewiges war, kein abstraktes Nirwana. Es war ein wirkliches Reich, das die Krönung und der Höhepunkt der Geschichte und die Vollendung des Schicksals der Menschheit sein sollte. Es wurde sogar oft in weltlicher und irdischer Form aufgefaßt, denn die meisten älteren Kirchenväter deuteten die Apokalypse im wörtlichen Sinn und glaubten, daß Christus mit Seinen Aposteln vor dem Jüngsten Gericht tausend Jahre lang auf Erden herrschen würde6. (Fs)

332b Diese Erwartung war so stark und so lebendig, daß das Neue Jerusalem schon über der Erde zu schweben schien, bereit, sich darauf herabzulassen. Tertullian erzählt, daß die Soldaten des Severus vierzig Tage lang seine Mauern im Morgenlicht am Horizont schimmern gesehen hatten, während sie durch Palästina marschierten. Eine solche Denkweise konnte leicht, wie bei Tertullian, zum visionären Fanatismus des Montanismus führen. Aber selbst in seinen Exzessen war er für die Rechtgläubigkeit weniger gefährlich als die spiritistische Theosophie der Gnostiker, die die gesamte geschichtliche Grundlage des Christentums auflöste; infolgedessen wurde sie von Apologeten wie Justinus Martyr und Irenäus als ein Bollwerk der konkreten Wirklichkeit der christlichen Hoffnung verteidigt. (Fs)

332c Überdies glaubten alle Christen, ob sie nun Chiliasten waren oder nicht, in der Kirche schon ein Unterpfand und eine Vorstufe des künftigen Gottesreiches zu besitzen. Sie waren nicht, wie andere religiöse Körperschaften der damaligen Zeit, eine durch einen gemeinsamen Glauben und einen gemeinsamen Gottesdienst verbundene Gruppe von Einzelmenschen, sie waren ein wirkliches Volk. Die ganze Fülle der im Alten Testament enthaltenen geschichtlichen Assoziationen und des sozialen Empfindens war von ihren nationalen und volksmäßigen Einschränkungen losgelöst und auf die neue, internationale geistige Gemeinschaft übertragen worden. Dadurch erhielt die Kirche zahlreiche Merkmale einer politischen Gesellschaft; das heißt, die Christen besaßen eine eigene, echte soziale Tradition und eine Art Patriotismus, der sich von dem für den weltlichen Staat, in dem sie lebten, unterschied. (Fs)

333a Dieser soziale Dualismus ist einer der auffallendsten Züge des frühen Christentums. Ja, er ist für das Christentum überhaupt charakteristisch, denn die Idee der zwei Gesellschaften und der doppelten Staatsbürgerschaft findet sich sonst nirgends in der gleichen Form. Sie drang tief in das Denken des heiligen Augustinus ein und wurde zum Grundthema des "Gottesstaates". Tatsächlich ist die Idee der zwei Städte des heiligen Augustinus nichts Neues, sondern ein unmittelbar von der Tradition übernommenes Erbe. In seiner frühchristlichen Form war dieser Dualismus jedoch viel einfacher und konkreter als später. Das mittelalterliche Problem des Nebeneinanderbestehens der zwei Gesellschaften und der zwei Autoritäten innerhalb der Christenheit entstand erst zu einer späteren Zeit. Statt dessen bestand der schroffe Gegensatz zwischen den beiden entgegengesetzten Ordnungen - dem Reich Gottes und dem Reich dieser Welt, der gegenwärtigen und der kommenden Zeit. Das Imperium war die Gesellschaft der Vergangenheit, und die Kirche war die Gesellschaft der Zukunft; und obwohl sie aufeinandertrafen und sich äußerlich vermischten, gab es keinen geistigen Kontakt zwischen ihnen. Zwar anerkannte der Christ, wie wir gesehen haben, die Mächte dieser Welt als von Gott eingesetzt und beobachtete einen strikten, wenn auch passiven Gehorsam gegen sie. Aber diese Treue zum Staat war eine rein äußerliche. Sie bedeutete einfach, daß die Kirche, wie der heilige Augustinus sagt, während ihrer Vermischung mit Babylon die äußere Ordnung des irdischen Staates anerkennen mußte, was sich zu ihrer beider Vorteil auswirkte - "utamur et nos sua pace"7. (Fs) (notabene)

334a Daher konnte es kein Band der geistigen Gemeinschaft oder gemeinsamen Staatsbürgerschaft zwischen den Mitgliedern der beiden Gesellschaften geben. Der Christ empfand sich in seinen Beziehungen zum Staat und zu der weltlichen Gesellschaft als Fremdling - peregrinus -; seine wahre Staatszugehörigkeit war die zu dem Reich Gottes. Tertullian schreibt: "Eure Staatszugehörigkeit, eure obrigkeitlichen Würden und sogar der Name eurer Kurie ist die Kirche Christi... Wir werden sogar vom Wohnen in diesem Babylon der Apokalypse abberufen, um wieviel mehr noch von einer Teilnahme an seinem Pomp ... Denn ihr seid ein Fremdling in dieser Welt und ein Bürger des himmlischen Jerusalem8."

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