Autor: Dawson, Christopher Buch: Gestaltungskräfte der Weltgeschichte Titel: Gestaltungskräfte der Weltgeschichte Stichwort: Geschichte: Gegensatz: Liberalismus - Katholizismus; Herausforderung weltlicher Geschichtsauffassung; Liberalismus, Kommunismus - "reaktionäre" Kirche; Wahrscheinlichkeit: offener Konflikt; wahrer Fortschritt
Kurzinhalt: So wie der christliche Glaube an Christus der Glaube an eine reale geschichtliche Persönlichkeit ist ... Für den Liberalen wie für den Kommunisten ist die katholische Tradition "reaktionär", nicht nur, weil sie zufällig mit der früheren politischen ...
Textausschnitt: 316a Daher entsteht der Gegensatz zwischen Liberalismus und Katholizismus nicht, wie die populäre Vereinfachung es behauptet, aus den "reaktionären Tendenzen" des Katholizismus, sondern aus der Notwendigkeit, die absoluten christlichen Werte in der theologischen wie in der geschichtlichen Sphäre sicherzustellen. Denn wenn das Christentum die Religion der Menschwerdung ist, und wenn die christliche Geschichtsdeutung von der Weiterführung und Verbreiterung der Menschwerdung im Leben der Kirche abhängt, so unterscheidet sich der Katholizismus dadurch von den anderen Formen des Christentums, daß er dieses Prinzip der Menschwerdung in einem volleren, konkreteren und organischeren Sinn auffaßt. So wie der christliche Glaube an Christus der Glaube an eine reale geschichtliche Persönlichkeit ist und nicht an ein abstraktes Ideal, so ist der katholische Glaube an die Kirche der Glaube an eine reale geschichtliche Gesellschaft, nicht an eine unsichtbare Gemeinschaft der Heiligen oder an eine geistige Verbindung der Christen, die in eine Anzahl religiöser Gruppen und Sekten gespalten sind. Diese geschichtliche Gesellschaft ist nicht nur die Hüterin der heiligen Schriften und eine Lehrerin christlicher Moral. Sie ist die Trägerin einer lebendigen Tradition, die Gegenwart und Vergangenheit über alle begrenzten Gemeinschaften der Rasse, des Volkes und des Staates hinweg zusammenfaßt. Daher genügt es nicht, wenn der Katholik an das in den heiligen Schriften enthaltene göttliche Wort glaubt, es genügt auch nicht, wenn er sich zu dem historischen Glauben bekennt, wie er in den Dogmen enthalten ist und durch die katholische Theologie ausgelegt wird; er muß dem lebendigen Organismus der göttlichen Gemeinschaft als Zelle angehören und mit der historischen Wirklichkeit der sakralen Tradition eine Verbindung eingehen. So kann bei dem, der den Katholizismus als intellektuelles System auffaßt, der Eindruck entstehen, daß dieser die Vorschriften viel stärker betont und viel verstandesmäßiger ist als der Protestantismus, der die persönliche und ethisch-gefühlsmäßige Seite der Religion so stark betont; aber der Soziologe, der ihn in seiner geschichtlichen Wirklichkeit erforscht, wird sehr bald die unvergleichliche Bedeutung der Tradition für den Katholizismus erkennen; denn sie macht den einzelnen zu einem Mitglied einer historischen Gesellschaft und einer geistigen Zivilisation und beeinflußt sein Leben bewußt und unbewußt auf tausenderlei Weise. (Fs) (notabene)
317a Die Erkenntnis, daß diese Tradition das Werkzeug von Gottes Geist in der Welt und die lebendige Zeugin des übernatürlichen göttlichen Handelns an der Menschheit ist, steht im Mittelpunkt der katholischen Auffassung und Deutung der Geschichte. Aber eine so ungeheure Forderung bedeutet eine Herausforderung der gesamten weltlichen Geschichtsauffassung, die dazu neigt, der Glaube der modernen Welt zu werden. Trotz der Unterschiede und Widersprüche zwischen dem Fortschrittsidealismus des Liberalismus und dem katastrophenhaften Materialismus des Kommunismus stimmen beide darin überein, daß sie auf der Immanenz und Autonomie der menschlichen Zivilisation und auf der weltlichen Gemeinschaft als der höchsten sozialen Wirklichkeit bestehen. Für den Liberalen wie für den Kommunisten ist die katholische Tradition "reaktionär", nicht nur, weil sie zufällig mit der früheren politischen und sozialen Ordnung verknüpft war, sondern weil sie die göttlichen Werte des Gottesglaubens, der Liebe und des ewigen Lebens höher stellt als die menschlichen Werte der politischen Freiheit, der sozialen Ordnung, des wirtschaftlichen Wohlstandes und der wissenschaftlichen Wahrheit und weil sie das menschliche Leben und die Geschichte auf ein übernatürliches und über die Geschichte hinausragendes Ziel hin orientiert. Da die moderne Gesellschaft in allem nach ideologischer Gleichförmigkeit strebt, in der kein Platz ist für die privaten Welten der alten bürgerlichen Kultur, wird sich die Unvereinbarkeit zwischen weltlichem Geist und Katholizismus wahrscheinlich in offenem Konflikt und gewaltsamer Verfolgung ausdrücken. (Fs) (notabene)
Kommentar (23.07.10): Vgl. den letzten Satz mit den Einsicht Bellocs in The Great Heresis.
318a Zweifellos ist die Aussicht auf einen solchen Konflikt für das moderne bürgerliche Denken höchst widerwärtig, selbst wenn es ein christliches Denken ist. Der liberale Optimismus, der für die angelsächsische Denkweise der letzten fünfzig Jahre charakteristisch war, hat die Menschen dazu geführt zu glauben, daß die Tage der Verfolgung vorüber sind und daß alle Menschen, die guten Willens sind, übereinkommen werden, ihre Meinungsverschiedenheiten zu begraben und sich zu einigen, um die allgemein verurteilten Übel wie Laster, Armut und Unwissenheit zu bekämpfen. Aber vom Gesichtspunkt der christlichen Geschichtsdeutung aus gesehen besteht kein Anlaß zu solchen Erwartungen. Christus ist nicht gekommen, um den Frieden zu bringen, sondern das Schwert, und das Reich Gottes kommt nicht durch die Ausschaltung von Konflikten, sondern durch einen wachsenden Gegensatz und eine zunehmende Spannung zwischen der Kirche und der Welt. Der Konflikt zwischen den zwei Städten ist so alt wie die Menschheit und muß sich bis zum Ende der Zeiten fortsetzen. Wenn die Kirche auch Zeiten des Wohlergehens erleben kann und ihre Feinde scheitern und die Mächte der Welt sich ihrer Herrschaft beugen können, so ist das doch kein Kriterium für den Erfolg. Sie siegt nicht durch Mehrheiten, sondern durch Märtyrer, und ihr Sieg ist das Kreuz. (Fs) (notabene)
318b So sind die christliche Lebensanschauung und die christliche Geschichtsdeutung, verglichen mit dem Optimismus des Liberalismus, tief tragisch. Der wahre Fortschritt der Geschichte ist ein Geheimnis, das sich im Scheitern und Leiden erfüllt und das erst am Ende der Zeiten offenbar werden wird. Der Sieg, der die Welt überwindet, ist nicht der Erfolg, sondern der Glaube, und nur das Auge des Glaubens erkennt den wahren Wert der Geschichte. (Fs) (notabene)
319a Wenn der Christ die Geschichte von diesem Standpunkt aus betrachtet, wird er weder siegessicher im Erfolg noch niedergeschlagen im Mißerfolg sein. "Wenn ihr von Kriegen und Kriegsgerüchten hört, so laßt euch nicht erschrecken, denn das Ende ist damit noch nicht da." Niemand weiß, wohin Europa steuert. Die Zukunft liegt nicht in unserer Hand, denn die Welt wird von Mächten regiert, die sie nicht kennt, und die Menschen, die scheinbar die Geschichte machen, sind in Wahrheit ihre Geschöpfe. Aber der Anteil der Kirche ist ein anderer. Sie war Gast und Verbannte, Herrin und Märtyrerin der Völker und Kulturen und hat sie alle überlebt. In jedem Zeitalter und jedem Volk ist es ihre Aufgabe, das Werk der göttlichen Erneuerung und Wiedergeburt fortzuführen, weiches das wahre Ziel der Geschichte ist. (Fs)
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