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Autor: Dawson, Christopher

Buch: Gestaltungskräfte der Weltgeschichte

Titel: Gestaltungskräfte der Weltgeschichte

Stichwort: Christentum - Beziehung heiliger Traditionen; Untergang d. römisches Reiches - Kirche (messianisches Reich); mittelalterliche Geschichtsdeutung; christlicher Reichsgedanke; Dante - Thomas: Konkordanz von Natur und Gnade

Kurzinhalt: So richtet sich der Blick von Dantes Geschichtsdeutung einerseits zurück auf die mittelalterliche Tradition des Heiligen Römischen Reiches und auf das augustinische Ideal des Gottesstaates, andererseits nach vor auf den Humanismus der Renaissance und ...

Textausschnitt: 307c Das Hauptproblem, mit dem wir uns daher befassen müssen, ist das der Beziehungen zwischen dieser heiligen Tradition und den zahlreichen anderen Traditionen, aus denen sich die menschliche Geschichte zusammensetzt. Denn das Christentum ist, wie die anderen Weltreligionen, in den Strom der geschichtlichen Veränderungen eingetreten und ist von einem Volk auf das andere, von der Zivilisation auf die Barbarei und von der Barbarei auf die Zivilisation übergegangen. Menschen verschiedener Zeitalter mit verschiedenem historischem Hintergrund und verschiedenen nationalen oder rassenmäßigen Überlieferungen gehören der allumfassenden Tradition der christlichen Kirche an. Es gibt hellenistische Christen und byzantinische Christen, römische und syrische, mittelalterliche und Renaissancechristen, Spanier des 17. und Engländer des 19. Jahrhunderts, die ihm angehören. Sind diese Unterschiede der Kultur und der Abstammung zufällige und ephemäre Einzelheiten, die bedeutungslos für die christliche Lebensanschauung und die christliche Deutung der Geschichte sind? Oder sind sie auch von geistiger Bedeutung als Elemente im Plan Gottes und als Formen, durch die sich die Absicht der göttlichen Vorsehung in der Geschichte offenbart? (Fs)

308a Nach der frühchristlichen Auffassung zumindest scheint es, als wäre die gesamte Bedeutung der Geschichte völlig in jener heiligen Tradition enthalten. Der Schlüssel zu der Geschichte - dem Mysterium der Zeiten - lag in der Tradition des auserwählten Volkes und der heiligen Gemeinschaft, und außerhalb dieser Tradition gibt es unter den Heiden und in den Reichen der Menschen endlose Kämpfe und Wirrnisse, eine Aufeinanderfolge von Imperien, die durch Krieg und Gewalt entstanden sind und in Blut und Zerstörung untergehen. Das Reich Gottes ist nicht das Werk von Menschenhand und geht nicht auf Grund eines natürlichen Fortschrittsgesetzes aus dem Lauf der Geschichte hervor. Es bricht gewaltsam in die Geschichte ein und macht das Werk der Menschen zunichte wie der ohne menschliche Hilfe aus dem Berg gebrochene Stein, der das Mal der vier Weltmächte zu Staub zerschmettert. (Fs) (notabene)

308b Einer der charakteristischesten Züge der christlichen Tradition ist ihr geschichtlicher Dualismus: im Alten Testament der Gegensatz zwischen dem auserwählten Volk und den Heiden, im Neuen Testament der Gegensatz zwischen der Kirche und der Welt, in der augustinischen Theodizee der Gegensatz zwischen den beiden Städten Jerusalem und Babylon - der Gemeinschaft der Liebe und der Gemeinschaft des Eigennutzes. Trotzdem ist dieser Dualismus kein vollständiger. Selbst das Alte Testament anerkennt trotz seinem Beharren auf dem einmaligen Vorrecht Israels als dem alleinigen Träger der göttlichen Verheißung die Hand Gottes in der Geschichte der Heiden. Sogar die Mächte, die dem Gottesvolk am feindseligsten gesinnt scheinen, sind das Werkzeug, durch das Gott Seine Absicht verwirklicht. Das zeigt sich in höchst auffallender Weise in der Weissagung Isaias' über Cyrus; denn hier wird ein heidnischer Herrscher mit dem messianischen Titel als der von Gott zur Ausführung Seines Willens und zur Befreiung Seines Volkes Auserwählte und Gesalbte bezeichnet. Zwar steht hier und an anderen Stellen Gottes Handeln in der Geschichte immer in unmittelbarer Beziehung zu dem Gottesvolk. Gottes Umgang mit Seinem Volk ist aber auch von tiefer Bedeutung für die Zukunft der Heiden. Am Ende der Zeiten wird die Heilige Stadt die Stätte aller Völker sein; die Heiden werden ihr ihre Reichtümer darbringen und von ihr wird das Gesetz der Gerechtigkeit und der Gnade an alle Völker der Erde ergehen. (Fs)

309a Im Neuen Testament findet sich eine noch weitergehende Anerkennung eines begrenzten, aber realen Wertes der sozialen Ordnung und sozialen Tradition, die außerhalb der Gnade liegen. Selbst der heidnische Staat dient Gott, insoferne er der Hüter der Ordnung und der Verwalter des Rechtes ist. Und in der höheren Sphäre der Gnade bedeutete die Aufgabe der volksmäßigen Beschränkungen und die Erschließung des Gottesreiches für die Heiden, zumindest theoretisch, die Heiligung jedes Volkes und jeder gesellschaftlichen Tradition, soferne sie nicht durch die Sünde entheiligt waren. So sehen wir, daß die Kirche die griechische Philosophie und Wissenschaft und das römische Recht und die römische Staatskunst in sich aufnimmt, bis die ganze zivilisierte Welt christlich geworden ist. Das Entscheidende dabei war jedoch nicht die Annahme des Christentums durch das Römische Reich und die Verbindung zwischen Kirche und Staat, sondern die allmähliche Durchdringung der Kultur mit christlichen Werten, bis die christliche Tradition das gesamte Leben des abendländischen Menschen in seiner geschichtlichen Vielfalt umfaßte und keine menschliche Tätigkeit und gesellschaftliche Tradition ausgeschlossen blieb. (Fs)

309b Mit diesem Zustrom der Völker und der Aufrichtung des Gottesreiches unter den Heiden schien die christliche Deutung der Weissagung erfüllt. Von der Zeit des heiligen Augustinus an verlor der christliche Chiliasmus seine Geltung und das messianische Reich wurde mit dem Sieg der Kirche identifiziert - "ecclesia et nunc est regnum Christi regnumque coelorum". Den Menschen jener Zeit, die den Untergang des Römischen Reiches und den Verfall der Zivilisation erlebt hatten, schien es, als sei alles erfüllt bis auf die Letzten Dinge. Daher wurde die christliche Geschichtsdeutung vorwiegend retrospektiv, und die Gegenwart und Zukunft, mit der sich der Mensch befaßte, bezog sich nicht auf die Geschichte, sondern auf das Ende der Geschichte, das nahe bevorzustehen schien. (Fs)

310a Aber im Lauf der Zeiten und mit der Entstehung neuer Völker und neuer Kulturformen traten der christlichen Vernunft neue Probleme gegenüber. Die augustinische Theologie mit ihrer intensiven Erkenntnis von der ererbten Last des Bösen, welche die Menschheit niederdrückt, und ihrer Auffassung von der göttlichen Gnade als einer übernatürlichen Macht, die die menschliche Natur erneuert und den Lauf der Geschichte verändert, beherrschte auch weiterhin die mittelalterliche Denkweise, und die mittelalterliche Geschichtsdeutung beruht weiter auf dem augustinischen Bild der zwei Städte. Aber während der heilige Augustinus diesen Gegensatz in erster Linie als einen Konflikt zwischen der christlichen Kirche und der heidnischen Welt hinstellt, sah ihn das Mittelalter vor allem als einen Kampf zwischen den Mächten des Guten und des Bösen innerhalb der christlichen Gesellschaft. Die Reform der Kirche, die Wiederherstellung der sittlichen Ordnung und die Schaffung einer sozialen Gerechtigkeit waren die großen Fragen, die das Christentum des Mittelalters vom 10. Jahrhundert an beschäftigten. Die gesamte Reformbewegung von Otto von Cluny bis zu dem heiligen Bernhard und Otto von Freising war bewußt auf einer Geschichtsdeutung aufgebaut, die das augustinische Konzept der zwei Städte auf die zeitgenössische Krise zwischen Kirche und Staat, oder vielmehr zwischen den religiösen und den weltlichen Mächten anwendete, die einander innerhalb der christlichen Gemeinschaft bekämpften. Diese neo-augustinische Geschichtsauffassung findet ihren unmittelbaren Ausdruck in den Schriften Odo von Clunys im 10., Bonizo von Sutris im 11. und Otto von Freisings im 12. Jahrhundert; aber sie war auch die einiger der fähigsten Anhänger der Reichsidee, wie es der Verfasser der Abhandlung "De Unitate ecclesiae conservanda" war. Denn das mittelalterliche Reich und das mittelalterliche Königtum wurden von ihren Anhängern nicht als eine weltliche Institution in unserem Sinne angesehen. Sie waren die Führer des christlichen Volkes und die Verteidiger des christlichen Glaubens; ihnen war - mehr als dem Papsttum und den Priestern - die Lenkung der Christenheit als einer geschichtlichen "zeitlichen" Ordnung von Gott übertragen worden. (Fs)

311a Diese Tradition eines christlichen Reichsgedankens wurde durch den Sieg des Papsttums über das Reich nicht berührt. Ja, sie fand ihren großartigsten Ausdruck im 14. Jahrhundert in Dantes Theorie von der Mission, die dem Römischen Reich von der Vorsehung übertragen worden war, als der Gesellschaft, in der die Menschheit ihre Einheit verwirklichen und den universalen Frieden erringen würde, und von der besonderen Berufung des messianischen Fürsten, jenes geheimnisvollen Dux, der Italiens Retter und der Reformator der Kirche sein würde. Hier haben wir zum erstenmal eine christliche Geschichtsdeutung, die über die sakrale jüdisch-christliche Tradition hinausgeht und den unabhängigen Wert und die Bedeutung der weltlichen Kultur anerkennt. Es gibt zwei unabhängige, aber parallele Ordnungen: die Ordnung der Gnade in ihrer Verkörperung durch die Kirche und die natürliche Ordnung, in der die Menschheit ihr rationales Ziel durch die Vermittlung des Römischen Reiches erreicht, das von der Natur zum universalen Reich bestimmt und von Gott dazu auserwählt war. (Fs) (notabene)

311b So richtet sich der Blick von Dantes Geschichtsdeutung einerseits zurück auf die mittelalterliche Tradition des Heiligen Römischen Reiches und auf das augustinische Ideal des Gottesstaates, andererseits nach vor auf den Humanismus der Renaissance und auf das moderne, liberale Ideal der geschichtlichen Aufgabe eines bestimmten Volkes und Staates. Diese Idee einer vorherbestimmten Übereinstimmung zwischen der weltlichen Tradition der menschlichen Kultur, die sich im Römischen Reich verkörpert, und der religiösen Tradition der übernatürlichen Wahrheit, die sich in der katholischen Kirche verkörpert, findet ihre philosophische Grundlage in der thomistischen Lehre von der Konkordanz von Natur und Gnade. Hätte der Thomismus sie zur Grundlage der Geschichtsdeutung gemacht, so hätte sie sich mit dem zunehmenden historischen Wissen zu einer echten katholischen Geschichtsphilosophie entwickeln können, in der die verschiedenen nationalen Traditionen - ähnlich wie in Rom - je nach ihrer eigenen Aufgabe und ihren natürlichen Fähigkeiten zum Aufbau einer christlichen Zivilisation beitrugen. Tatsächlich aber verhinderte Dantes Festhalten an dem im Niedergang begriffenen gibellinischen Reichsdenken, daß seine Philosophie einen weitergehenden Einfluß auf das katholische Denken ausübte. Sie blieb ein eindrucksvoller, aber übersteigerter Beweis des Universalismus mittelalterlichen Denkens und der verlorengegangenen geistigen Einheit der mittelalterlichen Kultur. (Fs) (notabene)

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