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Autor: Dawson, Christopher

Buch: Gestaltungskräfte der Weltgeschichte

Titel: Gestaltungskräfte der Weltgeschichte

Stichwort: Gottesreich; modernes Geschichtsbewusstsein: Christentum, Humanismus; Geschichte: Tatsachen - Traditionen; Romantik; Nietzsche (endlose Wiederkehr) - Augustinus; Sinn d. G. - Relativität - Religion - Inkarnation

Kurzinhalt: So bleibt im christlichen Glauben kein Platz für den Relativismus einer bloß historischen Philosophie. Denn hier findet in einem bestimmten Augenblick von Zeit und Raum ein Ereignis von absolutem Wert und von einer unvergleichlichen Bedeutung für ...

Textausschnitt: 4 DAS GOTTESREICH UND DIE GESCHICHTE

300b Die Entstehung eines Sinnes für die Geschichte, einer Erkenntnis der wesentlichen Merkmale der verschiedenen Zeitalter und Kulturen ist verhältnismäßig jungen Datums; ja, er hat vor dem 19. Jahrhundert eigentlich kaum bestanden. Er ist vor allem ein Produkt der Romantik, die den Menschen zuerst lehrte, die Vielfalt des menschlichen Lebens zu achten und die Kultur nicht als abstraktes Ideal, sondern als das lebende Ergebnis einer organischen gesellschaftlichen Tradition anzusehen. Gewiß ist, wie Nietzsche gezeigt hat, die Erwerbung dieses sechsten Sinnes kein reiner Gewinn, denn wir verlieren dadurch jene hohe Selbstgenügsamkeit und Reife in der die großen Zeitalter der Kultur gipfeln - den "Augenblick glatten Meeres und halkyonischer Selbstgenügsamkeit, das Goldene und Kalte, welches alle Dinge zeigen, die sich vollendet haben". Sie wurde nur möglich durch die "demokratische Vermengung der Stände und Rassen", die für die moderne europäische Zivilisation charakteristisch ist. "Die Vergangenheit von jeder Form und Lebensweise von Kulturen, die früher hart nebeneinander, übereinander lagen, strömt dank jener Mischung in unsere modernen Seelen ein" und "wir haben geheime Zugänge zum Labyrinth der unvollendeten Kulturen und zu jeder Halbbarbarei, die nur dagewesen ist1."

301a Trotzdem kann man unmöglich glauben, daß die viel größere Weite und Tiefe des Bewußtseins, die der Sinn für die Geschichte dem Menschen verliehen hat, etwas Wertloses ist, wie Nietzsche uns einreden will. Es ist, als sei der Mensch aus der Wüste, den Wäldern und den fruchtbaren Ebenen endlich auf die freien Hänge der Berge hinaufgestiegen, von denen er zurückschauen und den Verlauf seines Weges und die volle Weite seines Herrscherreiches überblicken kann. Für den Christen zumindest sollten diese Erweiterung seines Blickes und diese fernen Horizonte nicht Zweifel und Ernüchterung zur Folge haben, sondern einen stärkeren Glauben an die göttliche Macht, die ihn geleitet hat und eine größere Sehnsucht nach dem himmlischen Reich, das am Ende der Reise liegt. (Fs)

301b Im Grunde ist es vor allem das Christentum, das dem Menschen die Erkenntnis einer Einheit und eines Sinnes der Geschichte verliehen hat, ohne die das Schauspiel des endlosen Wandels sinnlos und bedrückend wird. (Fs)

"Die vernünftige Seele", schreibt Mark Aurel, "umwandelt den ganzen Kosmos und das Leere um ihn und seine Gestalt, und sie schreitet in die Unendlichkeit der Ewigkeit und umfaßt und umdenkt die periodische Wiedergeburt des Alls und erwägt, daß die nach uns Kommenden nichts Neues erleben werden, und die früheren Geschlechter auch nicht mehr gesehen haben; daß vielmehr in gewissem Sinne der Mann von vierzig Jahren, wenn er nur einen Funken Verstand hat, alles Vergangene und alles Künftige gesehen hat, weil es im Grunde ganz gleicher Art ist2". (Fs)

301c Dieses Abstreiten einer Bedeutung der Geschichte ist unter den Philosophen und Religionslehrern aller Zeiten von Indien bis Griechenland und von China bis Nordeuropa mehr Regel als Ausnahme. Selbst Nietzsche, der in der Tradition der modernen Geschichtsbewegung aufwuchs und der selbst ein so feines und tiefes historisches Gefühl besaß, konnte der erschreckenden Vorstellung von der Wiederkehr aller Dinge nicht entfliehen, obwohl sein eigenes evolutionäres Evangelium vom Übermenschen sie aufzuheben schien. "Siehe", schrieb er, "diesen Augenblick. Zwei Wege kommen hier zusammen: die ging noch Niemand zu Ende ... Von diesem Torwege Augenblick läuft eine lange ewige Gasse rückwärts; hinter uns liegt eine Ewigkeit. Muß nicht, was laufen kann von diesen Dingen, schon einmal diese Gasse gelaufen sein? Muß nicht, was geschehen kann von allen Dingen, schon einmal geschehen, getan, vorübergelaufen sein? Und wenn alles schon dagewesen ist, was hältst du Zwerg von diesem Augenblick? Muß auch dieser Torweg nicht schon dagewesen sein? Und sind nicht solchermaßen fest alle Dinge verknotet, daß dieser Augenblick alle kommenden Dinge nach sich zieht ? Also - sich selber noch? Denn was laufen kann von allen Dingen - auch in dieser langen Gasse hinaus - muß es einmal noch laufen! - Und diese langsame Spinne, die im Mondscheine kriecht, und dieser Mondschein selber, und ich und du im Torwege, zusammen flüsternd, von ewigen Dingen flüsternd - müssen wir nicht alle schon dagewesen sein? Und wiederkommen und in jener anderen Gasse laufen, hinaus, vor uns, in dieser langen, schaurigen Gasse - müssen wir nicht ewig wiederkommen?3"

302a Wie der heilige Augustinus sagte, nur durch Christus, den Geraden Weg, werden wir von dem Alptraum dieser ewigen Kreisläufe befreit, die in allen Ländern und Zeiten eine seltsame Faszination auf den menschlichen Geist auszuüben scheinen4. (Fs)

302b Trotzdem erzeugt das Christentum den Geschichtssinn nicht selbst. Es liefert nur den metaphysischen und theologischen Rahmen für die Geschichte, und ein Versuch, aus den Angaben der geoffenbarten Wahrheit allein eine Geschichtstheorie zu schaffen, ergibt keine Geschichte, sondern eine Theodizee wie den "Gottesstaat" des heiligen Augustinus oder die "Praeparatio Evangelica" des Eusebius. Das moderne Geschichtsbewußtsein ist die Frucht christlicher Tradition und christlicher Kultur, aber nicht dieser allein. Es verdankt auch dem Humanismus sehr viel, der den europäischen Geist lehrte, die Leistungen der alten Kultur zu untersuchen und die menschliche Natur um ihrer selbst willen hochzuhalten. Es war der Kontakt und Konflikt zwischen diesen beiden Traditionen und Idealen, dem Christentum und dem Humanismus, der antiken und der mittelalterlichen Kultur, der in der Romantik Ausdruck fand und in dem der moderne Geschichtssinn zuerst zum vollen Bewußtsein gelangte. Denn damals und dadurch begriff der menschliche Geist erst, daß eine Kultur eine organische Einheit ist, die ihre eigenen sozialen Traditionen und ihre eigenen geistigen Ideale besitzt, und daß wir die Vergangenheit nicht verstehen können, wenn wir sie nach den Maßstäben und Werturteilen unserer eigenen Zeit und Kultur messen, sondern erst dann, wenn wir die geschichtlichen Tatsachen in ein Verhältnis zu der sozialen Tradition bringen, der sie angehören, und wenn wir die geistigen Überzeugungen und die ethischen und verstandesmäßigen Werte jener Tradition als Schlüssel zu ihrer Deutung benützen. (Fs)

303a Daher besteht das Wesen der Geschichte nicht aus Tatsachen, sondern aus Traditionen. Die Tatsache als solche ist nicht historisch. Sie wird erst historisch, wenn wir sie in Beziehung zu einer sozialen Tradition bringen, so daß wir sie als Teil eines organischen Ganzen betrachten. Ein Bewohner eines anderen Planeten, der Augenzeuge der Schlacht von Hastings gewesen wäre, hätte eine viel größere Tatsachenkenntnis gehabt als jeder moderne Historiker, aber diese Kenntnis wäre nicht historisch, weil ihm jede Tradition fehlen würde, zu der er sie in Beziehung bringen könnte. Aber das Kind, das sagt: "Wilhelm der Eroberer, 1066", hat aus seinem winzigen Wissenskörnchen schon eine historische Tatsache gemacht, weil es dieses in Beziehung zu einer nationalen Überlieferung gebracht und in die Zeitenfolge der christlichen Kultur eingereiht hat. (Fs) (notabene)

303b Wo immer eine Gesellschaft irgendeine Überlieferung besitzt - mag diese Gesellschaft auch noch so klein und unbedeutend sein -.besteht die Möglichkeit, daß daraus Geschichte entsteht. Zwar gelingt es vielen Gesellschaften nicht, diese Möglichkeiten zu verwirklichen oder sie verwirklichen sie nur in einer unwissenschaftlicher Form oder in Gestalt einer Sage; aber andererseits fehlt dieses Element der Sage in keiner Tradition einer Gesellschaft völlig, und selbst die Gesellschaft mit der höchsten Kultur hat ihre nationale Sage oder ihren Mythos, deren unbewußter Apologet der Historiker häufig ist. Zweifellos besteht das Ideal des modernen Historikers darin, über die Tradition seiner eigenen Gesellschaft hinauszuwachsen und in der Geschichte etwas Einheitliches und Universales zu sehen, aber eine solche universale Geschichte gibt es nicht. Es gibt noch keine Geschichte der Menschheit, weil die Menschheit keine gegliederte Gesellschaft mit einer gemeinsamen Tradition oder einem gemeinsamen sozialen Bewußtsein ist. Alle bisherigen Versuche, eine Weltgeschichte zu schreiben, waren letztlich Versuche, eine Tradition in den Begriffen einer anderen zu deuten und Versuche, die geistige Hegemonie einer herrschenden Kultur dadurch auszudehnen, daß man ihr alle Ereignisse anderer Kulturen unterordnete, die in das Gesichtsfeld des Beobachters fielen. Je mehr ein Historiker weiß und je gewissenhafter er ist, desto mehr ist er sich der Relativität seines Wissens bewußt und desto bereitwilliger wird er die Kultur, die er untersucht, als etwas behandeln, das seinen Zweck in sich selbst trägt, als eine autonome Welt, die ihren eigenen Gesetzen folgt und den Normen und Idealen einer anderen nichts verdankt. Denn die Geschichte befaßt sich mehr mit Zivilisationen und Kulturen als mit der Kultur an sich, mit der Entwicklung bestimmter Gesellschaften und nicht mit dem Fortschritt der Menschheit. (Fs) (notabene)

304a Wenn wir uns infolgedessen auf die Geschichte allein verlassen, können wir niemals hoffen, über die Sphäre des Relativen hinauszugelangen; nur in der Religion und in der Metaphysik finden wir Wahrheiten, die auf absolute und ewige Gültigkeit Anspruch erheben können. Aber, wie schon erwähnt, die nicht-christliche und vorchristliche Philosophie neigt dazu, das Problem der Geschichte durch eine radikale Leugnung ihrer Bedeutung zu lösen. (Fs)
305a Die Welt des wahren Seins, die geistige Heimat des Menschen, ist die Welt, die keine Veränderung kennt. Die Welt der Zeit und des Wandels ist die äußere Welt, der der Mensch entfliehen muß, wenn er gerettet werden will. Denn alle Werke der Menschen und der Aufstieg und Untergang der weltlichen Reiche sind nur die Ergebnisse der Unwissenheit und der Begierde - mala vitae cupido -, und selbst die Herren der Welt müssen schließlich die Eitelkeit ihres Strebens erkennen, wie der große Shogun Hideyoshi, der auf seinem Totenbette schrieb:

"Ach, wie das Gras welke ich dahin,
Wie der Tau schwinde ich,
Selbst Osaka, die Burg,
Ist nur ein Traum innerhalb eines Traumes."

305b Aber selbst die Religion, die die Bedeutung der Geschichte leugnet, ist ein Teil der Geschichte und kann nur insoferne fortbestehen, als sie sich in einer sozialen Tradition verkörpert und auf diese Weise "Geschichte macht". Dem geistigen Erlebnis, aus dem eine Religion ihren ursprünglichen Impuls erhält, wie die Meditation Buddhas unter dem Baume Bo oder die Vision Mohammeds in der Höhle des Berges Hira, kann jede historische oder soziale Beziehung scheinbar so völlig fehlen wie irgendeinem menschlichen Erlebnis. Aber sowie der Lehrer zu den Menschen herabsteigt und seine Jünger anfangen, seine Lehre in die Tat umzusetzen, entsteht eine Tradition, die zu anderen sozialen Traditionen in Beziehung tritt und diese in sich aufnimmt oder von ihnen aufgenommen wird, bis sich scheinbar sogar ihr Wesen durch diese Chemie der Geschichte verändert. So sehen wir, wie der Buddhismus sich von Indien nach Zentralasien und China, von China nach Korea und Japan und von dort nach Ceylon und Siam verbreitet. Wir sehen, wie er in verschiedenen Kulturen verschiedene Formen annimmt und diese Kulturen dabei verändert; aber die Religion als solche bleibt unberührt von den historischen Veränderungen und richtet weiterhin den weltabgekehrten Blick auf die Betrachtung des Nirwana. (Fs)

305c Zunächst mag es scheinen, als sei auch das Christentum gegen seinen Willen vom Strom der Zeit aufgenommen worden, während es seine Aufmerksamkeit auf die ewigen Wahrheiten und seine Hoffnungen auf das ewige Leben gerichtet hielt. Man kann leicht im Christentum Beispiele von Weltflucht und Abkehr vom Leben finden, die nicht weniger extrem sind als die des indischen Sunnyasi; die Anachoreten, den heiligen Simeon auf seiner Säule, Thomas a Kempis in seiner Zelle und die unzähligen Christen aller Zeiten und Länder, die dieses Leben als ein Exil im Tal der Tränen betrachtet und ihr ganzes Leben auf den Tod und die Unsterblichkeit eingestellt haben. Im Grunde beruht die derzeitige Kritik am Christentum auf dieser Einstellung, und der Spott der Kommunisten über den "Lohn im Himmel" ist nur eine grobe und böswillige Formulierung einer Haltung, die immer ein wesentliches Element des christlichen Glaubens gewesen ist und die nirgends stärker hervortritt als im Evangelium selber. (Fs)

306a Trotzdem bildet sie nur eine Seite der christlichen Lebensanschauung. Denn das Christentum hat immer ein organisches Verhältnis zu der Geschichte gehabt, das es von den großen Religionen und Philosophien des Ostens unterscheidet. Das Christentum kann niemals die Geschichte ignorieren, weil die christliche Offenbarung ihrem Wesen nach historisch ist und die Glaubenswahrheiten unzertrennlich mit historischen Ereignissen verknüpft sind. Die heiligen Schriften unserer Religion sind nicht Zusammenstellungen metaphysischer Lehren wie der Vedanta, sie sind eine heilige Geschichte, die Offenbarung von Gottes Umgang mit der Menschheit von der Erschaffung des Menschen bis zur Gründung der Kirche. Diese gesamte Geschichte findet ihren Mittelpunkt im Leben einer geschichtlichen Persönlichkeit, die nicht nur ein Sittenlehrer oder selbst ein inspirierter Heilsträger der göttlichen Wahrheit ist, sondern der menschgewordene Gott, der Erlöser und Erneuerer der Menschheit, durch den und in dem die Menschheit ein neues Leben und ein neues Prinzip der Einheit erhält. (Fs) (notabene)

306b So bleibt im christlichen Glauben kein Platz für den Relativismus einer bloß historischen Philosophie. Denn hier findet in einem bestimmten Augenblick von Zeit und Raum ein Ereignis von absolutem Wert und von einer unvergleichlichen Bedeutung für alle Zeiten und Völker statt. Inmitten der Verschiedenheit und Zusammenhanglosigkeit der menschlichen Zivilisationen und Traditionen erscheint Einer, der für alle Menschen und alle Zeiten derselbe ist, in dem alle Völker und Traditionen ihren gemeinsamen Mittelpunkt finden. (Fs) (notabene)

307a Andererseits bedeutet die Menschwerdung kein Leugnen der Bedeutung der Geschichte, wie es die gnostische und die manichäische Irrlehre behaupten. Sie ist selber in gewissem Sinn die Frucht der Geschichte, da sie der Höhepunkt einer bestimmten Tradition und der Ausgangspunkt einer anderen ist. Die Berufung auf die Überlieferung ist eines der charakteristischesten Merkmale des Evangeliums. Das Neue Testament beginnt mit dem "Stammbaum Jesu Christi, des Sohnes Davids, des Sohnes Abrahams", und die erste Predigt der Apostel beginnt mit der Berufung auf eine Tradition, die auf das Ur der Chaldäer und die ältesten Ursprünge des jüdischen Volkes zurückgeht. (Fs)

307b So besaß die christliche Kirche ihre eigene Geschichte, die eine Fortsetzung der Geschichte des auserwählten Volkes war, und diese Geschichte hatte ihre eigene, autonome, vom Strom der weltlichen Geschichte unabhängige Entwicklung. Wir haben das Zeitalter der Apostel, das Zeitalter der Märtyrer und das Zeitalter der Kirchenväter, die alle auf denselben Grundlagen beruhen und ihren Teil zu der Erbauung des Gottesstaates beitragen. (Fs)

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