Autor: Dawson, Christopher Buch: Gestaltungskräfte der Weltgeschichte Titel: Gestaltungskräfte der Weltgeschichte Stichwort: Christentum, historische Religion; zwei entgegengesetzte Prinzipien; Jesus Christus - Geschichte Kurzinhalt: So bedeutete die Erfüllung der Hoffnung Israels letzten Endes seine Verwerfung und die Schaffung einer neuen Gemeinschaft, die später die Staatsreligion des Römischen Reiches werden sollte, das der Feind des Juden wie des Christen gewesen war.
Textausschnitt: 296b Das Christentum ist, weit mehr als jede andere Religion, eine historische Religion und ist unauflöslich mit dem lebendigen Prozeß der Geschichte verbunden. Es lehrt, daß es einen göttlichen Fortschritt in der Geschichte gibt, der durch die Kirche im Reich Gottes verwirklicht wird. Gleichzeitig aber anerkennt es den wesentlichen Dualismus in der Geschichte, das Nebeneinander zweier entgegengesetzter Prinzipien, die beide in der Geschichte wirksam sind und konkreten Ausdruck finden. Wir können daher nicht erwarten, daß sich die christlichen Grundsätze in der Praxis auf so einfache Weise auswirken werden wie ein politisches System. Die christliche Ordnung ist eine übernatürliche; sie hat ihre eigenen Prinzipien und ihre eigenen Gesetze, die anders sind wie die der sichtbaren Welt und die diesen oft zu widersprechen scheinen. Ihre Siege können aus scheinbaren Niederlagen bestehen und ihre Niederlagen aus äußeren Erfolgen. (Fs)
296c Das alles wird uns nur ein einziges Mal klar und vollständig vor Augen geführt, nämlich im Leben Christi, dem Vorbild christlichen Lebens und christlichen Handelns. Das Leben Christi ist tief historisch, es ist der Gipfelpunkt jahrtausendealter lebendiger geschichtlicher Tradition. Es ist die Erfüllung eines geschichtlichen Zieles, für das Priester und Propheten, ja sogar Politiker gekämpft haben, und in dem sich die Hoffnung eines Volkes und einer Nation verkörperte. Trotzdem war es vom weltlichen Standpunkt, dem Standpunkt eines damaligen weltlichen Historikers aus gesehen, nicht nur unbedeutend, sondern geradezu nicht erkennbar. Hier war ein galiläischer Bauer, der dreißig Jahre lang ein so verborgenes Leben geführt hatte, daß selbst die Jünger, die an seine Mission glaubten, nichts darüber wußten. Dann kam eine kurze Zeit des öffentlichen Wirkens, das keinerlei historische Leistung zur Folge hatte, sondern rasch und unaufhaltsam seinem katastrophenhaften Ende zutrieb, einem Ende, das sein Träger vorausgesehen und bewußt auf sich genommen hatte. (Fs) (notabene)
297a Und aus dem Kern dieser Katastrophe entstand etwas völlig Neues, dessen Erfolg sogar eine Enttäuschung für jene Menschen und jenes Volk war, die ihre Hoffnungen darauf gesetzt hatten. Denn nach Pfingsten, nach der Ausgießung des Heiligen Geistes und der Geburt der jungen Kirche geschah etwas, das so unerwartet und so unerklärlich war wie die Menschwerdung selbst: die Bekehrung eines Juden aus Cilicien, der sich von seiner Tradition und seinem Volk abwendete, so daß er scheinbar ein Verräter an seinem Volk und seiner Religion wurde. So bedeutete die Erfüllung der Hoffnung Israels letzten Endes seine Verwerfung und die Schaffung einer neuen Gemeinschaft, die später die Staatsreligion des Römischen Reiches werden sollte, das der Feind des Juden wie des Christen gewesen war. (Fs) (notabene)
297b Wenn man das alles ohne Glauben, vom rationalistischen Standpunkt aus betrachtet, wird es nicht verständlicher. Im Gegenteil, es wird sogar noch unerklärlicher - credo quia incredibile. (Fs)
297c Nun ist das Leben Christi das Leben des Christen und das Leben der Kirche. Es ist töricht, wenn ein Christ, der ein schwaches, menschliches Werkzeug dieser weltumwandelnden Kraft ist, erwartet, ein ruhiges Leben führen zu können. Ein Christ ist für das Böse, das die Welt beherrschen will und in einem begrenzten, aber sehr realen Sinn der Fürst dieser Welt ist, wie der heilige Johannes sagt, dasselbe wie ein rotes Tuch für einen Stier. Und nicht nur der einzelne, auch die Kirche als historische Gemeinschaft folgt diesem Vorbild und findet ihren Erfolg und Mißerfolg nicht dort, wo der Politiker sie findet, sondern wo Christus sie fand. (Fs) (notabene)
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