Autor: Dawson, Christopher Buch: Gestaltungskräfte der Weltgeschichte Titel: Gestaltungskräfte der Weltgeschichte Stichwort: Rationalität der Geschichte - Metapher: Lagune, Wolke; Widerspruch: menschliche Ziele - geschichtliche Ergebnisse (Beispiele: sozialer Idealismus; Krieg in der Vendee)
Kurzinhalt: Es gibt sozusagen zwei Ebenen der Vernunftmäßigkeit, und die Geschichte gehört keiner der beiden an... Heute sind Menschenfreundlichkeit und sittlicher Idealismus so sehr zu einem Teil unserer Tradition geworden, daß die Christen unbewußt und ...
Textausschnitt: 3 CHRISTENTUM UND GESCHICHTLICHER WIDERSPRUCH
292b Ist die Geschichte ein vernunftgemäßer Prozeß oder ist sie vorwiegend unberechenbar und sinnlos? Der Christ scheint mir verpflichtet zu glauben, daß die Geschichte einen geistigen Zweck hat, daß sie den Plänen der Vorsehung unterworfen ist und daß der Wille Gottes auf irgendeine Weise geschieht. Aber das ist etwas ganz anderes als die Behauptung, daß die Geschichte im üblichen Sinn vernunftgemäß ist. Es gibt sozusagen zwei Ebenen der Vernunftmäßigkeit, und die Geschichte gehört keiner der beiden an. Es gibt die Sphäre des völlig rationalistischen menschlichen Handelns, jene Art der Vernunftmäßigkeit, die wir in einem Bilanzblatt oder in den Plänen und Spezialangaben eines Architekten oder Ingenieurs finden. Und es gibt die höhere Sphäre der Vernunftmäßigkeit, die der menschliche Verstand zwar erreichen, die er aber nicht schaffen kann - die hohen Wirklichkeiten der Philosophie und der abstrakten Wahrheit. (Fs)
292c Aber zwischen diesen beiden Reichen gibt es eine große Zwischenregion, in der wir leben, das Zwischengebiet des Lebens und der Geschichte, und diese Welt ist Kräften unterworfen, die niedriger sind als die Vernunft. Es gibt Naturkräfte im strengen Sinn, und es gibt höhere Kräfte des Guten und Bösen, die wir nicht messen können. Das menschliche Leben ist vorwiegend ein Kampf gegen unbekannte Mächte - nicht nur solche aus Fleisch und Blut, die selbst irrational genug sind, sondern gegen Fürstentümer und Mächte, gegen die "Weltbeherrscher dieser Finsternis", um die seltsamen und beunruhigenden Worte des heiligen Paulus zu gebrauchen - Mächte, die mehr als vernunftgemäß sind und die sich niedrigerer und unterhalb der Vernunft liegender Dinge bedienen, um die Welt des Menschen zu erobern und zu beherrschen. (Fs)
293a Wären wir freilich reine Geister, so wäre der ganze Prozeß der Geschichte und des menschlichen Lebens vielleicht verständlich und durchsichtig für uns. Wir glichen einem Menschen, der sich bei ruhigem Wetter auf einer klaren, tropischen Lagune befindet und in das Wasser hinabblickt, wo er die niedrigen Lebewesen in ihrer unendlichen Vielfalt sehen und die Mächte des Bösen, die wie Haifische stumm und kraftvoll durch das klare Wasser schießen, wahrnehmen kann, der aber auch aufzublicken und den geordneten Lauf der Sterne zu betrachten vermag. (Fs)
293b Aber das ist dem Menschen nicht gegeben. Der Mitspieler in der Geschichte gleicht dem Kapitän, der nur die Wolken über sich und die Wellen unter sich sieht und der von Wind und Strömung hin- und her getrieben wird. Er muß seiner Karte und seinem Kompaß vertrauen und auch sie können ihn nicht vor der blinden Gewalt der Elemente retten. Wenn er einen Fehler begeht oder wenn seine Karte ihn im Stich läßt, kommt er in einem sinnlosen Wirbel dunkler Fluten um und mit ihm die Mannschaft, die keine anderen Verpflichtungen hat, als dem Befehl zu gehorchen und ihren Offizieren zu vertrauen. (Fs)
293c Der Theologe und der Philosoph streben zwar nach dem geistlichen Leben, aber sie erreichen es nur zum Teil und nur augenblicksweise; in ihrem sonstigen Leben und außerhalb ihrer Wissenschaft gehören sie der Welt der übrigen Menschen an. Der Politiker und der Mann der Tat aber gleichen dem Seemann, und der Staat gleicht dem Schiff, das durch den Fehler eines einzigen kentern kann, ganz gleich, ob es sich um eine Demokratie oder eine Diktatur handelt, ebenso wie es ganz gleich ist, ob der Besitzer des Schiffes die Mannschaft anheuert oder ob der Kapitän von den Offizieren und die Offiziere von der Mannschaft ausgewählt werden. (Fs) (notabene)
293d Es scheint zum Wesen der Geschichte zu gehören, daß Einzelmenschen und scheinbare zufällige Begebenheiten eine unberechenbare Wirkung auf die Schicksale der ganzen Gesellschaft ausüben. So schreibt Burke: Es ist oft unmöglich, irgendeinen Zusammenhang zwischen der scheinbaren Größe einer moralischen oder sonstigen Ursache und ihrer sichtbaren Wirkung zu erkennen. Wir sind daher gezwungen, ihre Wirkung dem Zufall oder - ehrfurchtsvoller und vielleicht vernunftgemäßer - dem gelegentlichen Eingreifen und der unwiderstehlichen Hand des großen Lenkers der Geschicke zu überlassen. Der Tod eines Menschen in einem verhängnisvollen Augenblick, sein Überdruß, sein Rücktritt, seine Erniedrigung haben unabsehbares Unglück über ein ganzes Volk gebracht. Ein Soldat, ein Kind, ein Mädchen vor der Tür einer Schenke haben das Gesicht der Zukunft und fast das der Natur verändert1. (Fs)
294a Das war immer der Fall, aber wir erkennen es am deutlichsten in der Frage einer sittlich veredelnden Politik oder bei der Erkenntnis sozialer Ideale in der Praxis. Hier sehen wir am deutlichsten und tragischesten den Widerspruch zwischen den menschlichen Zielen und den geschichtlichen Ergebnissen, und wie das Schicksal das höchste soziale Streben nutzlos oder schädlich macht. Nehmen wir zwei Beispiele aus der neueren Zeit, die mit der Französischen Revolution verbunden sind. Zunächst das Scheitern des sozialen Idealismus. Die große Revolution vor hundertfünfzig Jahren war ein bewußter Versuch, die politischen Verhältnisse auf eine ethische Grundlage zu stellen und eine neue, auf sittlichen Prinzipien beruhende Ordnung zu schaffen, die ohne Rücksicht auf die wirtschaftliche oder soziale Stellung des einzelnen dessen Rechte schützen sollte. Unter der Lenkung von Männern, die rückhaltlos an diese Ideale glaubten, hatte sie trotzdem die vollständigste Abschaffung und Verweigerung dieser Rechte zur Folge. Sie führte zu der Leugnung der Gewissensfreiheit und des Rechtes der freien Meinungsäußerung, zum Terror und zum wahllosen Justizmord, bis alle aufrechten Männer ohne Rücksicht auf ihre Grundsätze umgebracht oder verbannt waren und die Gesellschaft dankbar und erleichtert zu der absoluten Diktatur eines skrupellosen militärischen Despoten zurückkehrte. Denn Bonaparte erschien seinen Zeitgenossen als ein Engel des Lichtes im Vergleich zu den Idealisten und sozialen Reformern, die, anstatt ein Utopia zu schaffen, die Erde zur Hölle gemacht hatten. (Fs)
295a Nehmen wir als zweites Beispiel eines von der entgegengesetzten Seite, den Krieg in der Vendee, der die Frage des gerechten Krieges und des seinem Gewissen folgenden Kriegsgegners aufwarf. Der Widerstand der Bauern der Vendee gegen die Regierung der Revolution war in jeder Hinsicht gerechtfertigt, da sie die in der Verfassung verbrieften Rechte der Meinungsfreiheit und der religiösen Freiheit offenkundig verletzt hatte und diese Verfassung ausdrücklich das Recht des Bürgers anerkannte, der Regierung in solchen Fällen Widerstand zu leisten. Überdies war der eigentliche Anlaß zu dem Aufstand die Verweigerung des Kriegsdienstes zur Verteidigung der Revolution, den die Bauern der Vendee in Befolgung ihres Gewissens glatt ablehnten. Daher war der Krieg in der Vendee ein gerechter Krieg, wenn es jemals einen solchen gegeben hat, und gleichzeitig das Beispiel eines spontanen Widerstandes des Volkes gegen den zwangsweisen Waffendienst in einem, seiner Meinung nach, ungerechten Krieg. (Fs)
295b Aber was war die Folge? Statt daß zwölftausend Mann Kriegsdienst leisteten, von denen nur ein Bruchteil getötet oder verwundet worden wäre, wurde die ganze Bevölkerung in den verzweifeltsten Kampf getrieben, den je ein Volk erlebt hat, ein Kampf, der nach den ziffernmäßigen Angaben eine Viertelmillion Menschenleben kostete, der praktisch jede Stadt, jedes Dorf und jeden Bauernhof verwüstete und der weitgehend, wenn auch nur indirekt, zu den Greueln der Schreckensherrschaft im übrigen Frankreich beitrug. So rief ihr Wunsch, einem Krieg fernzubleiben und ihre Entschlossenheit, ihre begründeten Rechte zu verteidigen, Ungerechtigkeit und Grausamkeiten jeder Art hervor. (Fs)
295c Das sind zwei extreme Beispiele, aber wir finden überall in der Geschichte zahlreiche Beweise der gleichen amoralischen und irrationalen Tendenz, die Idealisten und Menschenfreunde zur Verzweiflung trieben. Heute sind Menschenfreundlichkeit und sittlicher Idealismus so sehr zu einem Teil unserer Tradition geworden, daß die Christen unbewußt und oft sogar bewußt denselben Standpunkt einnehmen und versucht sind zu verzweifeln, weil sich die christlichen Ideale in der Praxis nicht durchsetzen. (Fs) (notabene)
296a Tatsächlich aber hat das Christentum diese Postulate niemals anerkannt und der Christ sollte der letzte sein, der angesichts eines Scheiterns des Rechtes und eines scheinbaren Sieges des Bösen die Hoffnung aufgibt. Denn das alles gehört zu der christlichen Lebensauffassung und die christliche Disziplin ist ausdrücklich dazu da, um uns darauf vorzubereiten, einer solchen Situation ins Auge zu sehen. (Fs)
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