Datenbank/Lektüre


Autor: Dawson, Christopher

Buch: Gestaltungskräfte der Weltgeschichte

Titel: Gestaltungskräfte der Weltgeschichte

Stichwort: Christentum; sozialer Idealismus, humanitärer Idealismus des Hellenismus - Antwort des Kreuzes; Newman; christliche Kultur (Verdienst, Merkmal); Erfolg - Scheitern; Sieg der Kirche - zweifache Folgen; Aufgabe d. Kirche; rein weltliche Kultur


Kurzinhalt: Scheinbarer Erfolg bedeutet oft inneres Scheitern und der Weg des Scheiterns und des Leidens ist die königliche Straße des christlichen Fortschrittes. Wann immer die Kirche die Welt politisch beherrschte und wo immer sie auf weltlichem Gebiet einen...

Textausschnitt: 289b Die christliche Lösung ist eine grundlegend andere als die des sozialen Idealismus, und zwar nicht nur deshalb, weil die Welt im 1. Jahrhundert n. Chr. noch nicht reif für den Idealismus war. Im Gegenteil, sie mußte der Rivalität des sozialen Chiliasmus der Juden standhalten, der durch seine größere Religiosität vehementer war als der soziale Chiliasmus des modernen Sozialismus, und andererseits dem humanitären Idealismus des Hellenismus entgegentreten, der sogar rationaler und humanitärer war als jeder moderne Idealismus. Das Christentum lehnte beide Alternativen ab; es bot den Menschen die Antwort des Kreuzes - den Juden ein Ärgernis und den Griechen eine Torheit, genauso wie es heute dem sozialen Reformer ein Ärgernis und dem rationalistischen Idealisten eine Torheit ist. Im Leben Christi stieß die Macht der Welt - "der Wildbach menschlicher Gewohnheit" - endlich auf eine andere Macht, die sie weder besiegen noch ignorieren konnte. Die unbesiegbare Macht stieß auf das unbewegliche Hindernis. Die Folge war die Tragödie des Kreuzes, eine Tragödie, die zunächst den Sieg des Bösen und des Fleisches zu verkünden schien, die aber in Wirklichkeit der Wendepunkt in der Geschichte der Menschheit und der Ausgangspunkt einer neuen Ordnung war. (Fs) (notabene)

290a Diese neue Ordnung war zwar an sich nicht die neue Welt, auf die das Christentum gehofft hatte. Die Christenheit ist nicht das Christentum. Sie ist nicht der Gottesstaat und das Reich Gottes. Die Menschheit bleibt so ziemlich, wie sie immer war. Newman schreibt darüber:
"Der heutige Zustand der großen Städte unterscheidet sich nicht wesentlich von dem früheren, zumindest nicht so sehr, daß er beweisen würde, die Hauptarbeit des Christentums habe dem Antlitz der Gesellschaft gegolten oder dem, was man als 'die Welt' bezeichnet. Ebenso sind die höchste wie die niedrigste Klasse des Gemeinwesens nicht so sehr verschieden von dem, was sie ohne die Kenntnis des Evangeliums wären, daß man sagen könnte, das Christentum habe bei der Welt, nämlich der Welt der verschiedenen Klassen und Stände, Erfolg gehabt1."

290b Im Grunde hat keine Zeit das Recht, sich christlich im absoluten Sinne des Wortes zu nennen; alle stehen unter derselben Verwerfung. Das einzige Verdienst einer verhältnismäßig christlichen Zeit oder Kultur - und das ist kein geringfügiges - ist die Erkenntnis ihrer geistigen Unzulänglichkeit und die Aufgeschlossenheit für Gott und die Welt. Die völlig unchristliche Zeit oder Kultur hingegen verschließt sich vor Gott und rühmt sich ihres wachsenden Fortschrittes zur Vollkommenheit. Zweifellos ist ein echter Gärungsstoff geistigen Fortschrittes in der Menschheit vorhanden und das Leben der künftigen Welt regt sich schon im Schoß der alten. Aber der Fortschritt der neuen Welt geht unsichtbar vor sich und wird erst am Ende der Zeiten in seiner Fülle offenbar werden. Scheinbarer Erfolg bedeutet oft inneres Scheitern und der Weg des Scheiterns und des Leidens ist die königliche Straße des christlichen Fortschrittes. Wann immer die Kirche die Welt politisch beherrschte und wo immer sie auf weltlichem Gebiet einen Sieg erringt, hat sie ihn mit einem doppelten Maß weltlichen und geistigen Mißgeschickes bezahlen müssen. So folgte auf den Sieg des orthodoxen Christentums in Byzanz zunächst der Verlust des Ostens an den Islam und dann das Schisma mit dem Westen. Auf den mittelalterlichen Versuch, eine christliche Theokratie zu errichten, folgten die Reformation und die Vernichtung der religiösen Einheit Westeuropas, und auf den Versuch der Puritaner und der Monarchien der Gegenreformation, die Gesellschaft zwangsweise zur Rechtgläubigkeit und Frömmigkeit zurückzuführen, folgten die Ungläubigkeit und der Antiklerikalismus des 18. Jahrhunderts und die Verweltlichung der europäischen Kultur. (Fs) (notabene)

291a Die Christen müssen sich daran erinnern, daß es nicht Sache der Kirche ist, es dem Staat gleichzutun, ein Reich zu errichten gleich den anderen Reichen der Menschen, wenn auch ein besseres, oder eine Herrschaft irdischen Friedens und irdischer Gerechtigkeit zu begründen. Die Kirche ist dazu da, um das Licht der Welt zu sein und wenn sie ihre Aufgabe erfüllt, wird die Welt verwandelt werden, trotz aller Hindernisse, die ihr die irdischen Mächte in den Weg legen. Eine rein weltliche Kultur kann nur im Dunkel bestehen. Sie ist ein Kerker, in den sich der menschliche Geist einschließt, wenn er aus der größeren Welt der Wirklichkeit ausgesperrt ist. Aber sowie das Licht erscheint, wird der ganze kunstvolle Apparat, der für das Leben im Dunkel geschaffen wurde, zwecklos. Der Wiedergewinn der spirituellen Sicht gibt dem Menschen seine geistige Freiheit wieder. Daher liegt die Freiheit der Kirche in dem Glauben der Kirche und die Freiheit des Menschen in dem Wissen um Gott. (Fs)

____________________________

Home Sitemap Lonergan/Literatur Grundkurs/Philosophie Artikel/Texte Datenbank/Lektüre Links/Aktuell/Galerie Impressum/Kontakt