Autor: Dawson, Christopher Buch: Gestaltungskräfte der Weltgeschichte Titel: Gestaltungskräfte der Weltgeschichte Stichwort: Katholische Geschichtsdeutung: Vereinigung des Universalismus mit einem Sinn für das Einmalige; rationale Historiker; Verborgener Sinn d. Geschichte; Stein des Anstoßes (Mysterium d. G.); Rom - Märtyrer
Kurzinhalt: ... der katholische Historiker ist der Erbe einer universalen Tradition... falsche Universalität der rationalen Historiker... Der wahre Sinn der Geschichte ist gänzlich verschieden von dem, an den die menschlichen Akteure in dem Drama glauben oder...
Textausschnitt: 286c So unterscheidet sich die katholische Geschichtsdeutung von allen anderen durch ihre Vereinigung des Universalismus mit einem Sinn für das Einmalige und Unumstößliche des Geschichtsprozesses. Ihre Ablehnung des Chiliasmus macht sie ebenso frei von einer kurzen Sicht und dem engen Fanatismus des Sektengeistes wie von dem Prinzipiellen und Einseitigen des nationalen Historikers, der der politischen Einheit angehört, über die er schreibt. Aber der katholische Historiker ist der Erbe einer universalen Tradition. Orosius schreibt:
"Überall ist meine Heimat; überall ist mein Gesetz und meine Religion. Die Breite des Ostens, die Fülle des Nordens, die Weite des Südens und die Inseln des Westens sind die große und sichere Heimat, deren Bürger ich bin. Denn ich wende mich als Römer an Christen und als Christ an Römer."
287a Andererseits vermeidet die katholische Geschichtsdeutung aber auch die falsche Universalität der rationalen Historiker, die auf der fundamentalen Identität der menschlichen Natur in allen Lagen beharren und wie Hume glauben, das Ziel der Geschichte bestehe nur darin, durch die Schilderung von Menschen in den verschiedensten Lebensumständen und Situationen die gleichbleibenden und universalen Gesetze der menschlichen Natur aufzufinden. "Die gleichen Motive führen immer zu den gleichen Handlungen; die gleichen Ereignisse entstehen immer aus den gleichen Ursachen1."
287b Aber die katholische Geschichtsdeutung hält an dem prophetischen und apokalyptischen Sinn des Mysteriums und des göttlichen Gerichtes fest. Hinter dem verstandesmäßigen Kreislauf der politischen und wirtschaftlichen Ursachen und Wirkungen sind geheime spirituelle Kräfte am Werk, die den Ereignissen eine völlig neue Bedeutung verleihen. Der wahre Sinn der Geschichte ist gänzlich verschieden von dem, an den die menschlichen Akteure in dem Drama glauben oder den sie herbeiführen wollen. So wäre zum Beispiel einem zeitgenössischen "Geschichtsforscher" die Entstehung der großen Reiche im Nahen Osten zwischen dem 8. und 6. Jahrhundert v. Chr. als die einzige historische Wirklichkeit erschienen. Er hätte sich niemals vorstellen können, daß man sich zweitausend Jahre später an dieses große Schauspiel der Weltgeschichte nur insoferne erinnern würde, als es die geistigen Schicksale eines der kleinsten und am wenigsten zivilisierten Vasallenstaaten beeinflußte. Und welcher zeitgenössische Beobachter hätte sich vorstellen können, daß die Hinrichtung eines unbekannten jüdischen Religionsführers im 1. Jahrhundert des Römischen Reiches das Leben und Denken von Millionen beeinflussen würde, die niemals die Namen der großen Staatsmänner und Heerführer der damaligen Zeit gehört hatten. (Fs)
288a Dieses Geheimnisvolle und Unvorhergesehene in der Geschichte ist für den Rationalisten der große Stein des Anstoßes. Er sucht immer nach klar umrissenen Gesetzen und kausalen Aufeinanderfolgen, aus denen sich die Geschichte automatisch ableiten läßt. Aber die Geschichte duldet solche künstliche Konstruktionen nicht. Sie ist gleichzeitig aristokratisch und revolutionär. Sie läßt zu, daß die gesamte Weltlage plötzlich durch einzelne Menschen wie Mohammed oder Alexander den Großen verwandelt wird. Zweifellos war die Lage in beiden Fällen für eine Veränderung reif, aber sie wäre ohne das Dazwischentreten dieser Männer nicht gerade in dieser Form eingetreten. Hätte Alexander seinen Blick nach Westen und nicht auf Persien gerichtet, so wäre die Geschichte anders verlaufen. Dann hätte es kein Römisches Reich und infolgedessen auch kein Europa, oder ein anderes Europa und eine andere Zivilisation gegeben. (Fs) (notabene)
288b Andererseits aber findet die katholische Deutung keine Schwierigkeit darin, das Willkürliche und Unvorhergesehene der geschichtlichen Veränderung anzuerkennen, da sie in allem die Zeichen einer göttlichen Absicht und göttlichen Auserwählung sieht. Der Wille Gottes erwählt einen Stamm barbarischer Semiten und macht ihn zum Werkzeug seines Vorhabens mit der Menschheit. Ebensowenig wird die göttliche Wahl durch menschliche Verdienste oder durch die innere Logik der Ereignisse beeinflußt. "Viele Witwen lebten in Israel in den Tagen des Elias, aber zu keiner wurde Elias gesendet außer zu einer Frau in Sarepta im Lande Sidon, die eine Witwe war. Und es gab viele Aussätzige in Israel zur Zeit des Propheten Elias, aber keiner von ihnen wurde geheilt außer Naaman, der Syrer." Das Gebäude der Welt scheint wohlverschlossen und bewacht, seine Herren haben keine Rivalen mehr zu fürchten. Aber plötzlich weht der Wind des Geistes und alles ist anders geworden. Keine Zeit war je imstande, die Zukunft vorauszusehen. Das Zeitalter des Augustus hätte den Sieg des Christentums nicht vorhersagen können, so wenig wie das byzantinische Zeitalter die Entstehung des Islams. Selbst in unserer Zeit hätte der beste politische Beobachter zwanzig Jahre vor der Machtergreifung Hitlers niemals die Möglichkeit einer Aufhebung des Parlamentarismus in Mitteleuropa durch die Entstehung des Faschismus geahnt. Aber während der geschichtliche Rationalismus dies alles als eine Schmach und einen Vorwurf empfindet, bietet es dem Katholiken, der im Angesicht von Mysterien lebt und weiß, daß "der Weg der Menschen nicht in seiner Hand liegt", keinerlei Schwierigkeiten. (Fs) (notabene)
289a Dem gebildeten Durchschnittsmenschen des Jahres 33 n. Chr., der die Welt beobachtete, mußte die Hinrichtung des Sejanus viel wichtiger erscheinen als die Kreuzigung Christi, und die Versuche des Staates, die Wirtschaftskrise durch eine Politik freier Kredite an die Produzenten zu lösen, viel aussichtsreicher als das Treiben der unbekannten Gruppe jüdischer Fanatiker im oberen Saal eines Hauses in Jerusalem. Trotzdem gibt es heute keinen Zweifel mehr, welches Ereignis das wichtigere war und welches das Geschick der Menschen am meisten verändert hat. Die ganze römische Welt mit ihrer Macht und ihrem Reichtum, ihrer Kultur und ihrer Korruption versank in Schutt und Asche -- die Flut kam und vernichtete alle --, aber die andere Welt, die Welt der Apostel und Märtyrer, das Erbe der Armen, überlebte den Sturz der Kultur des Altertums und wurde zum Fundament einer neuen Ordnung. Das Christentum rief buchstäblich eine neue Welt ins Leben und stellte damit das Gleichgewicht zu der alten wieder her. Es versuchte nicht, die Welt im Sinne der sozialen Idealisten zu reformieren. Es gründete keine Bewegung zur Abschaffung der Sklaverei oder zugunsten eines Friedensschlusses mit den Parthern, noch unterstützte es die Forderungen der Juden nach nationaler Selbstbestimmung oder die Propaganda der Stoiker für einen idealen Weltstaat. Es beließ Cäsar auf seinem Thron und Pilatus und Gallio auf ihren Richterstühlen und beschritt seinen eigenen Weg in die neue Welt. (Fs)
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