Autor: Dawson, Christopher Buch: Gestaltungskräfte der Weltgeschichte Titel: Gestaltungskräfte der Weltgeschichte Stichwort: Geschichte - christliche Offenbarung; Wurzeln: Vertrag Jahwehs (Berith); geschichtliche Erfüllung, Propheten; Strafgericht - das neue Jerusalem; Daniel: Vision der Weltgeschichte (Weltreiche); chr. Apokalypse (Babylon) - Evangelien; Newman
Kurzinhalt: Die christliche Geschichtsdeutung ist vom christlichen Glauben nicht zu trennen... Sie ist ein integrierender Bestandteil der christlichen Offenbarung, ja, diese Offenbarung ist vorwiegend eine geschichtliche, so daß ihre metaphysischesten Dogmen ...
Textausschnitt: 2 GESCHICHTE UND CHRISTLICHE OFFENBARUNG
280a Die christliche Geschichtsdeutung ist vom christlichen Glauben nicht zu trennen. Sie ist keine philosophische Theorie, die durch die verstandesmäßigen Bestrebungen christlicher Gelehrter erdacht wurde. Sie ist ein integrierender Bestandteil der christlichen Offenbarung, ja, diese Offenbarung ist vorwiegend eine geschichtliche, so daß ihre metaphysischesten Dogmen auf historischen Tatsachen beruhen und einen Teil jener großen Gnadenordnung bilden, die dem gesamten irdischen Lebensprozeß der Menschheit sein Ziel und seinen Sinn verleiht. In dieser Hinsicht stimmen Katholizismus und Kommunismus trotz ihrer völlig entgegengesetzten Deutung der Geschichte überein. Denn auch der Kommunismus ist ein geschichtlicher Glaube und die materialistische Deutung der Geschichte ist für den Kommunismus ebenso grundlegend wie die geistige Deutung der Geschichte für das Christentum. Die wirtschaftlichen Doktrinen des Marxismus sind fast noch mehr auf der Geschichte aufgebaut als die theologischen Lehrsätze des Katholizismus, und ein Sozialismus, der sich zum Kommunismus und Materialismus ohne Marx' Geschichtstheorie bekennt, hat ebensowenig das Recht, sich Marxismus zu nennen wie eine Religion, welche die ethischen und theologischen Lehren des Christentums anerkennt, die geschichtlichen Elemente des Glaubens aber ablehnt, das Recht hat, sich katholisch zu nennen. (Fs)
281a Trotz dieser Parallelen ist ein wirklicher Vergleich zwischen einer Lehre, die von einem individuellen Denker als Teil seines Wirtschaftssystems bewußt konstruiert wurde, und einer Lehre, die älter ist als die Geschichte und sich in organischem Zusammenhang mit der größten religiösen Überlieferung der Welt entwickelt hat, nicht möglich. (Fs)
281b Denn wenn wir die Wurzeln der katholischen Geschichtsdeutung finden wollen, müssen wir weiter zurückgehen als die Kirchenväter, weiter als das Neue Testament und sogar weiter als die jüdischen Propheten, ja, bis zum Fundament der jüdischen Religion selbst. Sie wurzelt in dem feierlichen Berith oder Vertrag, durch den an einem bestimmten Punkt in Zeit und Raum Israel ein theophorisches Volk, das Volk Jahwes wurde. Für den rationalistischen Kritiker kann diese merkwürdige, feierliche Handlung, die sich vor mehr als dreitausendvierhundert Jahren in der arabischen Wüste zugetragen hat, nichts anderes sein als ein etwas ungewöhnliches Beispiel einer primitiven Auffassung der Solidarität zwischen dem Stammesgott und seinen Anbetern. Für den Christen aber ist sie der erste Akt jener Vermählung zwischen Gott und den Menschen, die sich in der Menschwerdung vollenden und in der Schaffung einer neuen Menschheit ihre Frucht tragen sollte. Aber selbst die Kritiker geben den einmaligen Charakter der Beziehungen zwischen dem jüdischen Volk und seinem Gott zu. Bei den anderen semitischen Völkern ist diese Beziehung eine natürliche und besteht aus der Verwandtschaft des Volkes mit seinem Gott. Nur beim jüdischen Volk ist sie die einer Adoption, die ihren Ursprung in einer besonderen Reihe geschichtlicher Ereignisse hatte. (Fs)
282a So wie der Vertrag Jahwes einen geschichtlichen Ursprung hatte, so fand er auch eine geschichtliche Erfüllung. Nur insoferne Israel seine theophorische Mission erfüllte, konnte es seine theophorischen Vorrechte genießen. Israels Mißgeschicke waren Jahwes Strafgerichte und jede historisch bedeutsame Krise war eine Mahnung an Israel, Jahwes Gebote wieder zu befolgen und auf diese Weise die Gültigkeit des Vertrages zu erneuern. In den Schriften der Propheten sehen wir, wie die aufeinanderfolgenden Krisen in der jüdischen Geschichte Anlaß zu neuen Offenbarungen über die göttliche Berufung Israels und über Gottes Plan in der Geschichte wurden. Die Sicht der Propheten beschränkte sich nicht mehr auf die Königreiche Israel und Juda, sie dehnte sich auf die benachbarten Völkerschaften und Reiche aus, die sie aufzehrten. Selbst die feindlichen Reiche waren Jahwes Werkzeug und hatten ihre Aufgabe bei der Durchführung seines Planes. Assyrien war die Rute seines Zornes, die zerbrochen und weggeworfen wurde, als seine Aufgabe erfüllt war. Jahwes Strafgericht war somit nicht mehr auf Israels Missetaten beschränkt, es war ein universales Gericht über das Unrecht, vor allem über die Hoffart der Menschen. (Fs)
"Denn Gerichtstag wird halten der Heerscharen Herr über alles Stolze und Hohe und alles Erhabene, daß es erniedrigt werde. (Fs)
Über alle Zedern des Libanon, die ragenden, stolzen, und über alle Eichen von Basan. Über alle hohen Berge und über alle ragenden Hügel. Über jeden hohen Turm und jede befestigte Mauer. Über alle Tharsisschiffe und über jedes kostbare Fahrzeug. Gebeugt wird der Hochmut der Menschen, erniedrigt die Hoffart der Männer. Nur der Herr ist erhaben an jenem Tag1."
282b Aber diese Ankündigung des göttlichen Zornes durchzieht immer mehr eine Verkündigung der Hoffnung für Israel. Das neue Jerusalem wird kein Reich sein wie die Reiche der Heiden, ~sondern ein ewiges und universales, das auf einem neuen geistigen Vertrag begründet ist. Israel war ausersehen, in einem weiteren Sinn ein theophorisches Volk zu werden, als da es Jahwes Gebote auf dem Sinai empfing. Es sollte das Werkzeug der göttlichen Offenbarung an die Menschheit werden. (Fs)
283a Diese jüdische Deutung der Geschichte findet ihren konsequentesten Ausdruck in dem Buch Daniel, das ein Vorbild für die späteren apokalyptischen Schriften wurde. Es besteht nicht mehr aus unzusammenhängenden Prophetien und Verkündigungen besonderer Strafgerichte, sondern es ist eine zusammenfassende Vision der Weltgeschichte in Gestalt der aufeinanderfolgenden Reiche, die die "Letzten Dinge" bilden. (Fs) (notabene)
283b Jedem Reich ist seine Zeit zugemessen, und wenn der Spruch des Wächters ergangen ist, sind die Tage seiner Herrschaft gezählt und sein Ende ist da. Gleichzeitig tritt der jenseitige Charakter der messianischen Hoffnung deutlicher hervor. Das Reich Gottes gehört nicht der Reihe der Weltreiche an; es ist etwas, das von außen kommt und an ihre Stelle tritt. Es ist der ohne menschliche Hilfe aus dem Fels gebrochene Stein, der das vierfache Bild der Weltherrschaft zermalmt und der wächst, bis er die ganze Welt einnimmt. Es ist das allumfassende Reich des Menschensohnes, das die Reiche der vier Tiere zerstören und ewig dauern wird. (Fs) (notabene)
283c Das ist die von der christlichen Kirche übernommene Glaubenstradition. Ja, man kann sagen, daß es gerade dieses prophetische und apokalyptische Element im Judentum ist, an das sich das Christentum wendete. Für den modernen Protestanten liegt das Wesen des Evangeliums in seiner Sittenlehre, seiner Lehre von der Bruderschaft der Menschen und der Vaterschaft Gottes. Aber für die Christen der ersten Zeiten war es buchstäblich die Frohe Botschaft vom Reich Gottes. Es war die Ankündigung eines kosmischen Umsturzes, der Anfang einer neuen Weltordnung, die Ordnung der Fülle der Zeiten, in der alle Dinge in Christus wiederhergestellt würden. (Fs) (notabene)
283d Um die sich daraus ergebende Haltung gegenüber der Geschichte zu verstehen, müssen wir uns mit der Geheimen Offenbarung befassen, die gleichzeitig der Höhepunkt der jüdischen apokalyptischen Tradition und die erste christliche Deutung der Geschichte ist. Sie enthält einen geschichtlichen Dualismus größter Schärfe, der den Gegensatz zwischen dem Reich Gottes und den Reichen der Menschen, den wir schon bei den Propheten und im Buch Daniel finden, noch stärker betont. Die Gottesstadt wird nicht auf Erden durch die Predigt des Evangeliums und die Bestrebungen der Heiligen erbaut. Sie senkt sich aus dem Himmel von Gott herab wie eine für den Bräutigam geschmückte Braut. Aber ehe sie kommt, muß sich das Mysterium des Leidens auf Erden erfüllen und die Früchte der Macht und des Stolzes der Menschen müssen eingesammelt werden. Das ist der Sinn des Gerichtes über Babylon. Dieses erscheint in der Apokalypse nicht als eine siegreiche Kriegsmacht wie bei den früheren Propheten, sondern als die Verkörperung des äußeren Glanzes und Prunkes, als die große Hure, deren Zauber alle Völker der Erde umgarnt, als der Weltmarkt, dessen Handel die Kaufleute und Schiffseigentümer bereichert. (Fs) (notabene)
284a Auf den ersten Blick hin mag es scheinen, als bestehe nur wenig Gemeinsames zwischen dieser ganzen düsteren und apokalyptischen Bilderwelt und der Lehre der Evangelien. Trotzdem liegen beiden die gleichen fundamentalen Begriffe zugrunde. Der Dualismus zwischen dem Himmelreich und der Welt in den Evangelien und den Apostelbriefen ist nicht weniger schroff als der zwischen den beiden apokalyptischen Städten. Das gilt besonders für das Johannesevangelium mit seiner Betonung, daß die Feindschaft der Welt für die Kinder des Himmelreiches ein unvermeidlicher Zustand ist. "Ich bitte nicht für die Welt, sondern für sie, die Du mir gegeben hast." Und weiter: "Es kommt der Fürst dieser Welt und an mir hat er keinen Anteil2."
284b Der übernatürliche und katastrophenhafte Charakter der Ankunft des Himmelreiches wird überdies bei den Synoptikern nicht weniger betont als in der Apokalypse. Dort finden wir in den Worten, die man die "Apokalypse Christi" nennen könnte, dieselben Ankündigungen kommender Schrecken und dasselbe Bild einer Krise der Welt, die mehr durch das Reifen der Früchte des Bösen als durch die fortschreitenden Kräfte des Guten ausgelöst wird. "Wie es zuging in den Tagen Noahs, so wird es auch gehen in den Tagen des Menschensohnes. Sie aßen und tranken, freiten und wurden gefreit bis zu dem Tage, da Noah in die Arche ging und die Flut kam und alle vernichtete3."
285a Daraus folgt jedoch nicht, daß die Gläubigen machtlos sind, den Lauf der Ereignisse zu beeinflussen. Ihr Widerstand bricht die Macht der Welt. Die Gebete der Heiligen und das Blut der Märtyrer zwingen Gott sozusagen zum Eingreifen und beschleunigen das Kommen des Himmelreiches. Wenn sogar der ungerechte Richter die drängenden Bitten der Witwe anhört, wird Gott dann nicht noch viel mehr seine Auserwählten rächen, die Tag und Nacht zu Ihm rufen?
285b Das sind die Grundlagen der christlichen Geschichtsauffassung in der Form, in der die katholische Tradition sie in sich aufgenommen hat. Bei oberflächlicher Betrachtung scheint sie zwar eine Lehre vom Ende der Geschichte zu sein, die keinen Platz für eine Weiterentwicklung übrigläßt. Wie Newman schreibt, scheint die Geschichte ihre Richtung mit dem Kommen Christi verändert zu haben; sie verläuft nicht mehr in einer Geraden nach vorne, sondern sozusagen ständig an der Grenze der Ewigkeit. "Den Juden war diese Welt verliehen worden; sie betraten den Weinberg am Morgen. Sie hatten Zeit und konnten mit der Zukunft rechnen... Aber bei uns liegen die Dinge anders. Himmel und Erde sind immer im Begriff unterzugehen, Christus ist immer im Kommen; die Christen erheben ständig suchend ihr Haupt und deshalb ist es Abend ... Trotzdem ist der Abend lang und der Tag war kurz. Auch wenn dieses letzte Zeitalter immer im "Vergehen ist, so war es doch länger als die vorhergegangenen und die Christen hatten mehr Zeit für umfangreichere Arbeit, als wenn sie am Morgen angeworben worden wären4."
285c Das war das große Problem, das sich der Kirche des Altertums stellte, und von der Art seiner Lösung hängt die katholische Geschichtsdeutung ab. Die Chiliasten lösten es durch eine wörtliche Auslegung der apokalyptischen Überlieferung; die Gnostiker und die Jünger des Origenes lösten es auf eine andere Weise, indem sie die Geschichte zugunsten der Metaphysik ausschieden und die Apokalyptik durch die Theosophie ersetzten. (Fs)
286a Aber die katholische Lösung, die ihren klassischen Ausdruck in den Schriften des heiligen Augustinus fand, behielt die jüdische Auffassung von der Bedeutung und Einmaligkeit der Geschichte bei; sie lehnte die wörtliche Auslegung und den Materialismus der extremen Chiliasten ab und bejahte die geistige Auslegung der griechischen Theologen. Der Konflikt zwischen der Kirche und dem Römischen Reich war nicht der letzte Akt in dem großen Drama der Welt, er war nur ein Kapitel in einer langen Geschichte, in der sich der Gegensatz und die Spannung zwischen den beiden durch die Kirche und die Welt vertretenen Prinzipien in immer neuen Formen wiederholen sollte. (Fs)
286b Die Geschichte war nicht bloß ein unverständliches Chaos unzusammenhängender Ereignisse. Sie hatte in der Menschwerdung einen Mittelpunkt gefunden, der ihr Sinn und Ordnung verlieh. Von diesem Mittelpunkt aus betrachtet wurde die Geschichte der Menschheit eine organische Einheit. Die Ewigkeit war in die Zeit eingetreten und von da an hatte das Einzelne und Zeitliche eine ewige Bedeutung erlangt. Der Kreis der Zeit war durchbrochen worden und eine Leiter hatte sich vom Himmel auf die Erde herabgesenkt, auf der die Menschheit dem "Rad des Leidens" entfliehen kann, das seinen Schatten auf das griechische und indische Denken geworfen hatte, und auf der sie neugeboren in eine neue Welt eingehen kann. (Fs)
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