Autor: Dawson, Christopher Buch: Gestaltungskräfte der Weltgeschichte Titel: Gestaltungskräfte der Weltgeschichte Stichwort: Renaissance: neue Geschichtsauffassung (Tacitus, Livius); Altertum, Mittelalter, Neuzeit; Staat: Widerspruch: Wille zur Macht, Selbstzweck - Träger der Kultur; Macchiavelli, Hobbes; Fortschritt: säkularisierte Form der christlichen Auffassung
Kurzinhalt: Diese neue Haltung gegenüber der Geschichte war einer der Hauptfaktoren bei der Säkularisierung der europäischen Kultur, da die Idealisierung des antiken Staates und besonders der Römischen Republik die Einstellung der Menschen gegenüber dem ... Textausschnitt: 274b Diese Idealisierung der Antike, die sich schon bei Dante findet, wird bei Petrarca und seinen Zeitgenossen noch größer, bis sie zum charakteristischen Merkmal der Kultur der Renaissance wird. Sie beeinflußte alle Seiten des abendländischen Denkens: die Literatur, die Wissenschaft und die Philosophie. Vor allem aber veränderte sie die Geschichtsauffassung des Abendlandes und führte eine neue Geschichtsschreibung ein. Die religiöse Einstellung zur Geschichte, die in dieser die Aufzeichnung von Gottes Umgang mit den Menschen und die Erfüllung des göttlichen Planes im Leben der Kirche sah, wurde aufgegeben oder den Kirchenhistorikern überlassen und eine neue, weltliche Geschichte nach dem Vorbild von Livius und Tacitus und eine neue Art der Geschichtsbiographie, die von Plutarch beeinflußt war, entstanden. (Fs) (notabene)
275a So ging die Einheitlichkeit der mittelalterlichen Geschichtsschreibung verloren. An ihre Stelle trat allmählich ein neues Geschichtsschema, das später die Form einer Dreiteilung in Altertum, Mittelalter und Neuzeit annahm und das trotz seines willkürlichen und unwissenschaftlichen Charakters das Geschichtsstudium bis in die moderne Zeit beherrscht hat und unsere Einstellung zu der Vergangenheit noch heute beeinflußt. (Fs) (notabene)
275b Diese neue Haltung gegenüber der Geschichte war einer der Hauptfaktoren bei der Säkularisierung der europäischen Kultur, da die Idealisierung des antiken Staates und besonders der Römischen Republik die Einstellung der Menschen gegenüber dem zeitgenössischen Staat beeinflußte. Der italienische Stadtstaat und die westeuropäischen Staaten wurden nicht mehr als organische Teile der christlichen Gemeinschaft angesehen, sondern als Dinge mit eigenem Zweck, die keine höhere Berechtigung anerkannten als den Willen zur Macht. Im Mittelalter hatte es den Staat als autonomes und autarkes Machtgebäude nicht gegeben - es gab nicht einmal einen Namen dafür. Aber vom 15. Jahrhundert an wird die Geschichte Europas immer mehr die Geschichte einer beschränkten Anzahl souveräner Staaten als unabhängige Machtzentren und ihrer nie endenden Rivalitäten und Konflikte. Der eigentliche Charakter dieser Entwicklung war durch das religiöse Ansehen verschleiert, das die Person des Herrschers noch immer umgab und das zur Zeit der Reformation durch die Verbindung der Kirche mit dem Staat und durch ihre Unterordnung unter die Oberhoheit des Monarchen sogar noch wuchs. (Fs) (notabene)
275c So wohnt der sozialen Entwicklung der Kultur ein Widerspruch inne. Soferne der Staat das Ergebnis und die Verkörperung des Willens zur Macht war, war er ein Leviathan, ein Monstrum von niedriger Moral, das dem Gesetz des Dschungels folgte. Gleichzeitig war er aber auch der Träger der kulturellen Werte, die aus der christlichen Vergangenheit stammten, so daß er für seine Bürger noch immer ein christlicher Staat war und ihnen als der Vertreter Gottes auf Erden erschien. (Fs) (notabene)
276a Derselbe Widerspruch findet sich in der europäischen Geschichtsauffassung. Die Realisten wie Macchiavelli und Hobbes versuchten, die Geschichte nach moralfreien Begriffen als einen unverhüllten Ausdruck des Willens zur Macht zu deuten, der sich auf wissenschaftliche, quasi biologische Weise untersuchen ließ. Aber damit nahmen sie dem Geschichtsprozeß die ethischen Werte, die noch immer ihre subjektive Gültigkeit bewahrten und verletzten das Moralgefühl und die sittlichen Begriffe ihrer Zeitgenossen. Die Idealisten hingegen übersahen oder bagatellisierten die moralische Schwäche des Staates und idealisierten ihn als Werkzeug der göttlichen Vorsehung oder jener unpersönlichen Macht, welche die Menschheit allmählich zur Vollkommenheit führte. (Fs)
276b Es ist leicht einzusehen, daß dieser Glaube an den Fortschritt in der Zeit der siegreichen nationalen und kulturellen Expansion, in der Westeuropa eine Art Welthegemonie erlangte, Anerkennung fand. Aber es ist ebenso offensichtlich, daß er keine rein verstandesmäßige Konstruktion war, sondern im Grunde nichts anderes als eine säkularisierte Form der traditionellen christlichen Auffassung. Er übernahm vom Christentum dessen Glauben an die Einheitlichkeit der Geschichte und an einen geistigen oder ethischen Zweck, der dem gesamten Geschichtsprozeß Sinn verleiht. Gleichzeitig aber brachte seine Umdeutung dieser Begriffe in eine rein verstandesmäßige und weltliche Kulturtheorie deren drastische Vereinfachung mit sich. Für den Christen war der Sinn der Geschichte ein Mysterium, das nur im Licht des Glaubens offenbar wurde. Aber die Apostel der Fortschrittslehre leugneten das Bedürfnis nach einer göttlichen Offenbarung und glaubten, der Mensch brauche sich nur vom Licht der Vernunft leiten zu lassen, um den Sinn der Geschichte in dem Gesetz des Fortschritts zu finden, das das Leben der Zivilisation beherrschte. Doch selbst im 18. Jahrhundert war es schwierig, diesen billigen Optimismus mit den geschichtlichen Tatsachen in Einklang zu bringen. Man mußte erklären, daß das Licht der Vernunft bis jetzt durch die in der hierarchischen Religion verkörperten dunklen Mächte des Aberglaubens und der Unwissenheit verhüllt gewesen war. Aber dann war die Aufklärung nichts anderes als eine neue Offenbarung, und um ihr zum Durchbruch zu verhelfen, mußten die neuen Gläubigen sich zu einer neuen Kirche zusammenschließen, sei es nun eine neue philosophische Schule, eine geheime Gesellschaft von Illuminaten oder Freimaurern oder eine neue politische Partei. Das geschah auch, und die neuen Kirchen der Vernunft haben sich als ebenso intolerant und dogmatisch erwiesen wie die alten religiösen Sekten. Auf die Offenbarung Rousseaus folgten eine Reihe weiterer Offenbarungen - idealistische, positivistische und sozialistische - mit ihren Propheten und Kirchen. Von diesen lebt heute nur noch die marxistische, vor allem dank der größeren Tüchtigkeit ihrer kirchlichen Organisation und ihres Aposteltums. Keine dieser weltlichen Religionen hat ihren rein wissenschaftlichen und a-religiösen Charakter stärker betont als der Marxismus. Trotzdem verdankt keine den messianischen Elementen der christlichen und jüdischen Geschichtstradition so viel wie er. Seine Lehre ist in Wirklichkeit vorwiegend apokalyptisch - eine Verurteilung der bestehenden sozialen Ordnung und eine Heilsbotschaft an die Armen und Unterdrückten, die nach der sozialen Revolution in der klassenlosen Gesellschaft, dem marxistischen Gegenstück zu dem Tausendjährigen Reich der Gerechten, endlich ihren Lohn empfangen werden. (Fs)
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