Autor: Dawson, Christopher Buch: Gestaltungskräfte der Weltgeschichte Titel: Gestaltungskräfte der Weltgeschichte Stichwort: Beda; Dante ("Göttliche Komödie", "Convivio", "Monarchia") - Thomas von Aquin; Weltstaat; irdische Stadt: Verwirklichung der natürlichen Möglichkeiten; Augustinus
Kurzinhalt: Hier wird zum erstenmal im christlichen Denken die irdische und zeitliche Stadt als eine autonome Ordnung mit einem eigenen letzten Ziel aufgefaßt, das nicht der Dienst der Kirche ist, sondern die Verwirklichung aller natürlichen Möglichkeiten der ... Textausschnitt: 271a Die Ergebnisse seines Wirkens fanden drei Jahrhunderte später in der angelsächsischen Kirche vollen Ausdruck. Im Gegensatz zum heiligen Augustinus war der heilige Beda ein wirklicher Historiker, aber seine Geschichte ruht auf den Fundamenten, die der heilige Augustinus gelegt hatte. So entsteht die erste Geschichte eines christlichen Volkes im vollen Sinn des Wortes - eine Geschichte, die sich nicht in erster Linie mit der Entstehung und dem Untergang irdischer Reiche befaßt - obwohl auch diese darin nicht fehlen -, sondern mit der Entstehung des Königreiches Christi in England, der "gesta Dei per Anglos". Natürlich kann Bedas großes Werk kaum als typisch für die mittelalterliche Geschichtsschreibung gelten. Es war etwas Außergewöhnliches, fast Einmaliges. Jedenfalls aber ist Bedas Stellungnahme zu der Geschichte typisch und zusammen mit seinen anderen chronologischen Werken bildete es das Schema, das die späteren Historiker des christlichen Mittelalters befolgten. Es besteht zunächst aus einer Weltchronik in der Art des Eusebius, die den chronologischen Hintergrund für die Schilderungen der Historiker bildete. Zweitens enthielt es die Geschichte bestimmter Völker und Kirchen, wofür die Kirchengeschichte des heiligen Beda das klassische Beispiel war und die in späteren Zeiten durch Werke wie Adam von Bremens "Geschichte von Hamburg" oder Ordericus Vitalis' Kirchengeschichte vertreten wird. Schließlich enthält es die Lebensgeschichten von Heiligen, Bischöfen oder Äbten, wie Bedas Leben des heiligen Cuthbert und die Lebensgeschichten der Äbte von Wearmouth. (Fs)
272a So ist die Aufzeichnung zeitgenössischer Ereignisse in der typischen mittelalterlichen Chronik einerseits mit der Tradition der Weltgeschichte verknüpft, andererseits mit der Lebensgeschichte der großen Männer, die die Führer und Heroen der christlichen Gesellschaft waren. Aber der Heilige ist nicht nur eine historische Gestalt, er ist ein Bürger der Ewigen Stadt geworden, ein himmlischer Schutzpatron und Behüter des irdischen Lebens der Menschen. So sehen wir an dem Leben der Heiligen, wie die Geschichte über sich selbst hinauswächst und ein Teil der ewigen Welt des Glaubens wird. (Fs)
272b Daher sind für das mittelalterliche Denken Zeit und Ewigkeit viel enger miteinander verbunden als für die Antike oder für den modernen Geist. Die Welt der Geschichte war nur ein Bruchteil der eigentlichen Welt und ringsum von der Welt der Ewigkeit umgeben wie eine Insel im Ozean. Dieses mittelalterliche Bild eines hierarchischen Weltalls, in dem die Welt des Menschen eine kleine, aber zentrale Stellung einnimmt, findet seinen klassischen Ausdruck in Dantes "Göttlicher Komödie". Sie zeigt besser als jedes rein historische oder theologische Werk, wie die Welt der Geschichte als Übergang zur Ewigkeit und als ewige Früchte tragend aufgefaßt wurde. (Fs)
272c Scheint dies einerseits die Bedeutung der Geschichte und des irdischen Lebens zu verringern, so erhöht es andererseits ihren Wert, indem es ihnen einen ewigen Sinn verleiht. Tatsächlich gibt es nur wenige Dichter, die sich so sehr mit der Geschichte und selbst mit der Politik befaßt haben wie Dante. Was in Florenz und in Italien geschieht ist von tiefer Bedeutung nicht nur für die Seelen im Fegefeuer, sondern sogar für die Verdammten in der Hölle und für die Heiligen des Paradieses, und das göttliche Schauspiel in dem irdischen Paradies, das der Mittelpunkt des gesamten Vorganges ist, ist eine apokalyptische Schau des Gerichtes und der Reform von Kirche und Reich im 14. Jahrhundert. (Fs)
273a Dantes große Dichtung scheint die gesamte Leistung des katholischen Mittelalters zusammenzufassen und ein vollendetes literarisches Gegenstück zu der philosophischen Synthese des heiligen Thomas darzustellen. Aber wenn wir uns seinen Prosawerken, dem "Convivio" und der "Monarchia" zuwenden, sehen wir, daß sich seine Anschauungen über die Kultur und daher auch über die Geschichte sehr stark von denen des heiligen Thomas und noch mehr von denen des heiligen Augustinus unterscheiden. Hier wird zum erstenmal im christlichen Denken die irdische und zeitliche Stadt als eine autonome Ordnung mit einem eigenen letzten Ziel aufgefaßt, das nicht der Dienst der Kirche ist, sondern die Verwirklichung aller natürlichen Möglichkeiten der menschlichen Kultur. Das Ziel der Kultur - finis universalis civitas humani generis - kann nur durch eine die ganze Welt umfassende Gesellschaft erreicht werden und das erfordert den politischen Zusammenschluß der Menschheit zu einem einzigen Weltstaat. Es ist klar, daß Dantes Ideal des universalen Staates von der mittelalterlichen Auffassung des Christentums als einer universalen Gesellschaft und von der Tradition des Römischen Reiches in seiner Formulierung durch ghibellinische Rechtsgelehrte und Denker stammt. Gilson schreibt darüber: "Wenn Dantes genus humanum wirklich die erste bekannte Form der modernen Auffassung von Humanitas ist, so kann man behaupten, daß die Humanitas dem europäischen Bewußtsein zuerst als bloße säkularistische Nachahmung des religiösen Begriffes der Kirche erschienen ist1."
273b Aber Dantes Quellen waren nicht ausschließlich christliche. Er war sehr stark von den politischen und ethischen Idealen des griechischen Humanismus beeinflußt, vor allem von der Ethik des Aristoteles und nicht weniger von der romantischen Idealisierung der klassischen Vergangenheit in Gestalt der Bewunderung für das antike Rom. Denn Dantes Bild des Reiches ist dem des heiligen Augustinus diametral entgegengesetzt. Er sieht es nicht als eine heilige Stadt, die Gott eigens als Werkzeug seines göttlichen Planes mit der Menschheit geschaffen und dafür bestimmt hat. Er geht sogar so weit, im "Convivio" zu erklären, daß die Bürger und Staatsmänner Roms heilig waren, denn ohne ein besonderes Einströmen göttlicher Gnade hätten sie ihre Absichten nicht verwirklichen können. (Fs)
274a In all dem ist Dantes Blick mehr nach vorne auf die Renaissance als nach rückwärts auf das Mittelalter gerichtet. Aber er ist so sehr von der christlichen Tradition erfüllt, daß sogar seine Weltlichkeit und sein Humanismus ein ausgesprochen christliches Gepräge tragen, das sie von denen des klassischen Altertums unterscheidet. Das gilt übrigens für die meisten Schriftsteller und Denker des folgenden Jahrhunderts; wie Karl Burdach mit großer Sachkenntnis gezeigt hat, war die ganze kulturelle Atmosphäre des späten Mittelalters und der Frührenaissance von einem christlichen Idealismus durchtränkt, dessen Wurzeln im 13. Jahrhundert und besonders in der franziskanischen Bewegung lagen. So war das 14. Jahrhundert, in das der Beginn der italienischen Renaissance und die Entwicklung des abendländischen Humanismus fiel, auch das große Jahrhundert der abendländischen Mystik. Diese Intensivierung des Innenlebens mit seiner Betonung des spirituellen Erlebnisses war aber nicht ganz ohne verwandtschaftliche Beziehung zu dem zunehmenden Selbstbewußtsein der abendländischen Kultur, das sich in der humanistischen Bewegung äußerte. Selbst im 15. und 16. Jahrhundert war in der humanistischen Kultur noch etwas von dieser mystischen Tradition vorhanden; beide Elemente bestehen nebeneinander in der Philosophie Nikolaus' von Cusa, in der Kultur der Platonischen Akademie in Florenz, in der Kunst Botticellis und schließlich in der Michelangelos. Aber bei dieser spüren wir, daß die Synthese nur mehr durch eine heroische Anspannung der Kräfte aufrechterhalten wurde und weniger große Männer mußten sich mit einer Spaltung des Lebens in zwei geistige Ideale abfinden. (Fs)
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