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Autor: Ratzinger, Josef

Buch: Einführung in das Christentum

Titel: Einführung in das Christentum

Stichwort: Hölle; Karsamstag; Gottes Schweigen; Einsamkeit


Kurzinhalt: ... als der tiefste Kern seiner Passion nicht irgendein physischer Schmerz, sondern die radikale Einsamkeit, die vollständige Verlassenheit. Darin kommt aber schließlich einfach der Abgrund der Einsamkeit des Menschen überhaupt zum Vorschein, ...

Textausschnitt: 3. »Abgestiegen zu der Hölle«

276a Vielleicht kein Glaubensartikel steht unserem heutigen Bewusstsein so fern wie dieser. Neben dem Bekenntnis zur Geburt Jesu aus der Jungfrau Maria und demjenigen zur Himmelfahrt des Herrn reizt er am meisten zur »Entmythologisierung«, die man hier gefahrlos und ohne Ärgernis scheint vollziehen zu können. Die paar Stellen, an denen die Schrift etwas von dieser Sache zu sagen scheint (1 Petr 3,19 f; 4,6; Eph 4,9; Röm 10,7; Mt 12,40; Apg 2,27.31), sind so schwer zu verstehen, dass man sie leicht in vielerlei Richtungen auslegen kann. Wenn man demgemäß die Aussage zuletzt ganz eliminiert, scheint man den Vorteil zu haben, eine seltsame und in unser Denken schwer einzuordnende Sache losgeworden zu sein, ohne sich einer besonderen Untreue schuldig gemacht zu haben. Aber ist damit wirklich etwas gewonnen? Oder ist man vielleicht nur der Schwere und dem Dunkel des Wirklichen aus dem Weg gegangen? Man kann versuchen, mit Problemen fertig zu werden, indem man sie einfach negiert oder indem man sich ihnen stellt. Der eine Weg ist bequemer, aber nur der zweite führt weiter. Müssten wir also, anstatt die Frage beiseite zu schieben, nicht viel eher einsehen lernen, dass dieser Glaubensartikel, dem im Ablauf des Kirchenjahres der Karsamstag liturgisch zugeordnet ist, uns heute ganz besonders nahe steht, in ganz besonderem Maß die Erfahrung unseres Jahrhunderts ist? Am Karfreitag bleibt immerhin der Blick auf den Gekreuzigten, Karsamstag aber ist der Tag des »Todes Gottes«, der Tag, der die unerhörte Erfahrung unserer Zeit ausdrückt und vorwegnimmt, dass Gott einfach abwesend ist, dass das Grab ihn deckt, dass er nicht mehr aufwacht, nicht mehr spricht, sodass man nicht einmal mehr ihn zu bestreiten braucht, sondern ihn einfach übergehen kann. »Gott ist tot, und wir haben ihn getötet«. Dieses Wort Nietzsches gehört sprachlich der Tradition der christlichen Passionsfrömmigkeit zu; es drückt den Gehalt des Karsamstags aus, das »Abgestiegen zu der Hölle«1. (Fs)

277a Mir kommen im Zusammenhang mit diesem Artikel immer wieder zwei biblische Szenen in den Sinn. Zunächst jene grausame Geschichte des Alten Testaments, in der Elias die Baalspriester auffordert, von ihrem Gott Feuer für das Opfer zu erflehen. Sie tun es, und es geschieht natürlich nichts. Er verhöhnt sie, gerade so wie ein Aufklärer den Frommen verhöhnt und ihn der Lächerlichkeit überführt findet, wenn sich nichts zuträgt auf sein Beten hin. Er ruft ihnen zu, sie hätten vielleicht nicht laut genug gebetet: »Schreit doch lauter. Baal ist ja ein Gott. Er ist aber in Gedanken vertieft oder vielleicht ausgetreten; vielleicht schläft er auch und wacht dann auf!« (3 Kg 18,27). Wenn man heute diese Verhöhnung der Frommen Baals liest, kann einem etwas unheimlich zumute werden; man kann das Gefühl haben, wir seien jetzt in jene Situation geraten und jener Spott müsse nun auf uns fallen. Kein Rufen scheint Gott aufwecken zu können. Der Rationalist scheint beruhigt uns sagen zu dürfen: Betet lauter, vielleicht erwacht dann euer Gott. »Abgestiegen zu den Toten«: wie sehr ist das die Wahrheit unserer Stunde, der Abstieg Gottes in das Verstummen, in das dunkle Schweigen des Abwesenden hinein. (Fs)

278a Aber neben der Eliasgeschichte und ihrer neutestamentlichen Analogie in der Erzählung von dem Herrn, der mitten im Seesturm schläft (Mk 4,35-41 par), gehört auch die Emmausgeschichte hierher (Lk 24,13-35). Die verstörten Jünger reden vom Tod ihrer Hoffnung. Für sie ist so etwas wie der Tod Gottes geschehen: Der Punkt, an dem Gott endlich gesprochen zu haben schien, ist erloschen. Der Gesandte Gottes ist tot, und so ist völlige Leere. Nichts antwortet mehr. Aber während sie so vom Tod ihrer Hoffnung sprechen und Gott nicht mehr zu sehen vermögen, merken sie nicht, dass eben diese Hoffnung lebendig in ihrer Mitte steht. Dass »Gott« oder vielmehr jenes Bild, das sie von seiner Verheißung sich gebildet hatten, sterben musste, damit er größer leben konnte. Ihr Bild, das sie von Gott geformt hatten und in das sie ihn einzuzwängen versuchten, musste zerstört werden, damit sie gleichsam über den Trümmern des zerstörten Hauses wieder den Himmel sehen konnten und ihn selber, der der unendlich Größere bleibt. Eichendorff hat es in der gemütvollen, uns fast zu harmlos erscheinenden Weise seines Jahrhunderts so formuliert:

Du bist's, der, was wir bauen,
Mild über uns zerbricht,
Dass wir den Himmel schauen -
Darum so klag ich nicht. (Fs)

278b So aber erinnert uns der Artikel vom Höllenabstieg des Herrn daran, dass zur christlichen Offenbarung nicht nur Gottes Reden, sondern auch Gottes Schweigen gehört. Gott ist nicht nur das verstehbare Wort, das auf uns zugeht, er ist auch der verschwiegene und unzugängliche, unverstandene und unverstehbare Grund, der sich uns entzieht. Gewiss gibt es im Christlichen einen Primat des Logos, des Wortes, vor dem Schweigen: Gott hat gesprochen. Gott ist Wort. Aber darüber dürfen wir die Wahrheit von der bleibenden Verborgenheit Gottes nicht vergessen. Nur wenn wir ihn als Schweigen erfahren haben, dürfen wir hoffen, auch sein Reden zu vernehmen, das im Schweigen ergeht2. Die Christologie reicht über das Kreuz, den Augenblick der Greifbarkeit göttlicher Liebe, hinaus in den Tod, in das Schweigen und die Verdunkelung Gottes hinein. Können wir uns wundern, dass die Kirche, dass das Leben des Einzelnen immer wieder in diese Stunde des Schweigens hineingeführt wird, in den vergessenen und beiseite geschobenen Artikel »Abgestiegen zu der Hölle«?

279a Wenn man dies bedenkt, löst sich die Frage nach dem »Schriftbeweis« von selber; zum wenigsten im Todesruf Jesu »Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?« (Mk 15,34) wird das Geheimnis des Höllenabstiegs Jesu wie in einem grellen Blitz in dunkler Nacht sichtbar. Vergessen wir dabei nicht, dass dieses Wort des Gekreuzigten die Anfangszeile eines Gebetes Israels ist (Ps 22 [21],2), in welchem die Not und die Hoffnung dieses von Gott erwählten und gerade so scheinbar zutiefst von ihm verlassenen Volkes erschütternd sich zusammenfasst. Dieses Gebet aus der tiefsten Not der Gottesfinsternis endet mit einem Lobpreis der Größe Gottes. Auch das ist im Todesruf Jesu mit anwesend, den Ernst Käsemann kürzlich als ein Gebet aus der Hölle herauf bezeichnet hat, als das Aufrichten des ersten Gebotes in der Wüste der scheinbaren Abwesenheit Gottes: »Der Sohn hält dann noch den Glauben, wenn Glaube sinnlos geworden zu sein scheint und die irdische Wirklichkeit den abwesenden Gott kundtut, von dem nicht umsonst der erste Schacher und die höhnende Menge sprechen. Sein Schrei gilt nicht dem Leben und Überleben, nicht sich selbst, sondern dem Vater. Sein Schrei steht gegen die Realität der ganzen Welt«. Brauchen wir da noch zu fragen, was Anbetung in unserer Stunde der Finsternisse heißen muss? Kann sie etwas anderes sein als der Ruf aus der Tiefe zusammen mit dem Herrn, der »abgestiegen ist zur Hölle« und Gottesnähe mitten in der Gottverlassenheit aufgerichtet hat? (Fs)

280a Versuchen wir noch eine weitere Überlegung, um in dieses vielschichtige Geheimnis einzudringen, das von einer Seite allein her nicht aufzuhellen ist. Nehmen wir dabei zunächst noch einmal eine exegetische Feststellung zur Kenntnis. Man sagt uns, dass in unserem Glaubensartikel das Wort »Hölle« nur eine falsche Übersetzung für Scheol (griechisch: Hades) sei, womit der Hebräer den Zustand jenseits des Todes bezeichnet, den man sich sehr undeutlich als eine Art von Schattendasein, mehr Nichtsein als Sein, vorstellte. Demnach hätte der Satz ursprünglich nur bedeutet, dass Jesus in die Scheol eingetreten, das heißt, dass er gestorben ist. Nun mag das durchaus richtig sein. Aber es bleibt die Frage, ob die Sache damit einfacher und geheimnisloser geworden ist. Ich denke, dass sich jetzt erst recht das Problem auftut, was das eigentlich ist: der Tod, und was denn geschieht, wenn jemand stirbt, also ins Geschick des Todes eintritt. Wir alle werden vor dieser Frage unsere Verlegenheit bekennen müssen. Niemand weiß es wirklich, weil wir alle diesseits des Todes leben, die Erfahrung des Todes nicht kennen. Aber vielleicht können wir eine Annäherung versuchen, indem wir noch einmal ausgehen von dem Kreuzesruf Jesu, in dem wir den Kern dessen ausgedrückt fanden, was Abstieg Jesu, Teilhabe am Todesgeschick des Menschen meint. In diesem letzten Gebet Jesu erscheint, ähnlich wie in der Ölbergsszene, als der tiefste Kern seiner Passion nicht irgendein physischer Schmerz, sondern die radikale Einsamkeit, die vollständige Verlassenheit. Darin kommt aber schließlich einfach der Abgrund der Einsamkeit des Menschen überhaupt zum Vorschein, des Menschen, der im Innersten allein ist. Diese Einsamkeit, die zwar meist vielfältig überdeckt, aber doch die wahre Situation des Menschen ist, bedeutet zugleich den tiefsten Widerspruch zum Wesen des Menschen, der nicht allein sein kann, sondern das Mitsein braucht. Deshalb ist die Einsamkeit die Region der Angst, die in der Ausgesetztheit des Wesens gründet, das sein muss und doch in das ihm Unmögliche ausgestoßen ist. (Fs)

281a Versuchen wir, uns das mit einem Beispiel noch weiter zu verdeutlichen. Wenn ein Kind einsam in dunkler Nacht durch den Wald gehen muss, fürchtet es sich, auch wenn man ihm noch so überzeugend bewiesen hat, dass überhaupt nichts sei, wovor es sich zu fürchten brauche. Im Augenblick, wo es allein in der Finsternis ist und so Einsamkeit radikal erfährt, steht Furcht auf, die eigentliche Furcht des Menschen, die nicht Furcht vor etwas, sondern Furcht an sich ist. Die Furcht vor etwas Bestimmtem ist im Grunde harmlos, sie kann gebannt werden, indem man den betreffenden Gegenstand wegnimmt. Wenn jemand sich beispielsweise vor einem bissigen Hund fürchtet, kann man die Sache schnell bereinigen, indem man den Hund an die Kette nimmt. Hier stoßen wir auf etwas viel Tieferes: dass der Mensch da, wo er in letzte Einsamkeit gerät, sich fürchtet, nicht vor etwas Bestimmtem, das man wegbeweisen könnte; er erfährt vielmehr die Furcht der Einsamkeit, die Unheimlichkeit und Ausgesetztheit seines eigenen Wesens, die nicht rational überwindbar ist. Nehmen wir noch ein Beispiel hinzu: Wenn jemand nachts allein mit einem Toten in einem Zimmer wachen muss, wird er seine Lage immer irgendwie als unheimlich empfinden, selbst wenn er sich's nicht gestehen will und imstande ist, sich rational das Gegenstandslose seiner Empfindung begreiflich zu machen. Er weiß an sich genau, dass der Tote ihm nichts antun kann und dass seine Lage vielleicht viel gefährlicher wäre, wenn der Betreffende noch leben würde. Was hier aufsteht, ist eine völlig andere Art von Furcht, nicht Furcht vor etwas, sondern im Einsamsein mit dem Tod das Unheimliche der Einsamkeit an sich, die Ausgesetztheit der Existenz. (Fs)

282a Wie aber, so müssen wir nun fragen, kann solche Furcht überwunden werden, wenn der Beweis der Gegenstandslosigkeit ins Leere zielt? Nun, das Kind wird seine Furcht verlieren in dem Augenblick, in dem eine Hand da ist, die es nimmt und führt, eine Stimme, die mit ihm redet; in dem Augenblick also, in dem es das Mitsein eines liebenden Menschen erfährt. Und auch derjenige, der mit dem Toten einsam ist, wird die Anwandlung der Furcht verschwinden fühlen, wenn ein Mensch mit ihm ist, wenn er die Nähe eines Du erfährt. In dieser Überwindung der Furcht enthüllt sich zugleich noch einmal ihr Wesen: dass sie die Furcht der Einsamkeit ist, die Angst eines Wesens, das nur im Mitsein leben kann. Die eigentliche Furcht des Menschen kann nicht durch den Verstand, sondern nur durch die Gegenwart eines Liebenden überwunden werden. (Fs)

282b Wir müssen unsere Frage noch weiter fortsetzen. Wenn es eine Einsamkeit gäbe, in die kein Wort eines anderen mehr verwandelnd eindringen könnte; wenn eine Verlassenheit aufstünde, die so tief wäre, dass dorthin kein Du mehr reichte, dann wäre die eigentliche, totale Einsamkeit und Furchtbarkeit gegeben, das, was der Theologe »Hölle« nennt. Was dieses Wort bedeutet, können wir von hier aus genau definieren: Es bezeichnet eine Einsamkeit, in die das Wort der Liebe nicht mehr dringt und die damit die eigentliche Ausgesetztheit der Existenz bedeutet. Wem fiele in diesem Zusammenhang nicht ein, dass Dichter und Philosophen unserer Zeit der Meinung sind, im Grunde blieben alle Begegnungen zwischen Menschen an der Oberfläche; kein Mensch habe zur eigentlichen Tiefe des anderen Zutritt? Niemand kann danach wirklich ins Innerste des anderen hineinreichen; jede Begegnung, wie schön sie auch scheint, betäubt im Grunde nur die unheilbare Wunde der Einsamkeit. Im tiefsten Grunde von unser aller Dasein würde so die Hölle, die Verzweiflung wohnen - die Einsamkeit, die ebenso unentrinnbar wie grauenvoll ist. Sartre hat bekanntlich seine Anthropologie von dieser Vorstellung her konstruiert. Aber auch ein so versöhnlicher und so heiter-gelassen erscheinender Dichter wie Hermann Hesse lässt im Grunde die gleichen Gedanken sichtbar werden:

Seltsam, im Nebel zu wandern!
Leben ist Einsamsein.
Kein Mensch kennt den andern,
Jeder ist allein!

283a In der Tat - eines ist gewiss: Es gibt eine Nacht, in deren Verlassenheit keine Stimme hinabreicht; es gibt eine Tür, durch die wir nur einsam schreiten können: das Tor des Todes. Alle Furcht der Welt ist im Letzten die Furcht dieser Einsamkeit. Von da aus ist es zu verstehen, weshalb das Alte Testament nur ein Wort für Hölle und Tod hat, das Wort Scheol: Beides ist ihm letztlich identisch. Der Tod ist die Einsamkeit schlechthin. Jene Einsamkeit aber, in die die Liebe nicht mehr vordringen kann, ist die Hölle. Damit sind wir wieder bei unserem Ausgangspunkt angelangt, beim Glaubensartikel vom Abstieg in die Hölle. Dieser Satz besagt von hier aus, dass Christus das Tor unserer letzten Einsamkeit durchschritten hat, dass er in seiner Passion eingetreten ist in diesen Abgrund unseres Verlassenseins. Wo uns keine Stimme mehr erreichen kann, da ist Er. Damit ist die Hölle überwunden, oder genauer: der Tod, der vordem die Hölle war, ist es nicht mehr. Beides ist nicht mehr das Gleiche, weil mitten im Tod Leben ist, weil die Liebe mitten in ihm wohnt. Nur noch die gewollte Selbstverschließung ist jetzt Hölle oder, wie die Bibel sagt: zweiter Tod (etwa Apk 20,14). Das Sterben aber ist kein Weg in die eisige Einsamkeit mehr, die Pforten der Scheol sind geöffnet. Ich glaube, dass man von hier aus die vordergründig so mythologisch wirkenden Bilder der Väter verstehen kann, die vom Heraufholen der Toten, von der Öffnung der Pforten sprechen; auch der scheinbar so mythische Text des Matthäusevangeliums wird verständlich, der davon spricht, dass beim Tode Jesu die Gräber sich öffneten und die Leiber der Heiligen erstanden (Mt 27,52). Die Todestür steht offen, seit im Tode das Leben: die Liebe, wohnt... (Fs)

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