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Autor: Ratzinger, Josef

Buch: Einführung in das Christentum

Titel: Einführung in das Christentum

Stichwort: Christlicher Kult, Opfer, Stellvertretung; Schmerz - Liebe; Danielou; Kreuz - "aufgespannt"; Platon: Bild vom gekreuzigten Gerechten


Kurzinhalt: Der Schmerz ist im letzten Ergebnis und Ausdruck des Ausgespanntseins Jesu Christi vom Sein in Gott bis in die Hölle des »Mein Gott, warum hast du mich verlassen?«.

Textausschnitt: c) Das Wesen des christlichen Kultes.

270a Das Wesen des christlichen Kultes besteht demnach nicht in der Hingabe von Dingen, auch nicht in irgendeiner Zerstörung, wie man seit dem 16. Jahrhundert immer wieder in den Meßopfertheorien lesen kann - auf diese Weise müsse die Oberherrschaft Gottes über alles anerkannt werden, sagte man dort. Alle diese Denkbemühungen sind durch das Christusgeschehen und seine biblische Auslegung einfach überholt. Der christliche Kult besteht in der Schlechthinnigkeit der Liebe, wie sie nur der eine zu schenken vermochte, in dem Gottes eigene Liebe menschliche Liebe geworden war; und er besteht in der neuen Form von Stellvertretung, die in dieser Liebe eingeschlossen ist: darin, dass er für uns stand und wir uns von ihm nehmen lassen. So bedeutet er, dass wir unsere eigenen Rechtfertigungsversuche beiseite tun, die im Grunde nur Ausreden sind und uns gegeneinander stellen - wie Adams Rechtfertigungsversuch eine Ausrede und ein Abschieben der Schuld auf den anderen, ja, schließlich ein Versuch, Gott selber zu verklagen, war: »Das Weib, das du mir als Gefährtin gegeben, hat mir etwas vom Baume gereicht...« (Gn 3,12). Er verlangt, dass wir statt des zerstörerischen Gegeneinander der Selbstrechtfertigung das Geschenk der für uns einstehenden Liebe Jesu Christi annehmen, uns darin vereinigen lassen und so mit ihm und in ihm Anbetende werden. Von hier aus dürfte es möglich sein, in gedrängter Kürze auf einige Fragen zu antworten, die sich noch stellen. (Fs)

271a
1. Im Blick auf die Liebesbotschaft des Neuen Testaments drängt heute immer mehr eine Tendenz nach vorn, die christlichen Kult vollständig in Bruderliebe, in »Mitmenschlichkeit« auflösen und keine direkte Gottesliebe oder Gottesverehrung mehr zulassen will: Nur noch die Horizontale wird anerkannt, die Vertikale der unmittelbaren Beziehung zu Gott verneint. Vom Gesagten aus ist wohl unschwer einzusehen, warum diese auf den ersten Blick so sympathisch scheinende Konzeption mit der Sache des Christentums auch die der wahren Menschlichkeit verfehlt. Die sich selbst genügen wollende Bruderliebe würde gerade so zum äußersten Egoismus der Selbstbehauptung werden. Sie verweigert ihre letzte Offenheit, Gelassenheit und Selbstlosigkeit, wenn sie nicht auch noch die Erlösungsbedürftigkeit dieser Liebe durch den annimmt, der allein wirklich genügend liebte. Und sie tut bei allem Wohlwollen letztlich dem anderen und sich selber Unrecht, weil der Mensch sich nicht im Zueinander der Mitmenschlichkeit allein vollendet, sondern erst im Miteinander jener zwecklosen Liebe, die Gott selbst verherrlicht. Die Zwecklosigkeit der einfachen Anbetung ist die höchste Möglichkeit des Menschseins und erst seine wahre und endgültige Befreiung. (Fs)

2. Vor allem von den herkömmlichen Passionsandachten her kommt immer wieder die Frage auf, in welcher Weise eigentlich Opfer (also Anbetung) und Schmerz zusammenhängen. Nach dem eben Bedachten ist das christliche Opfer nichts anderes als der Exodus des Für, das sich selbst verlässt, grundlegend vollzogen in dem Menschen, der ganz Exodus, Selbstüberschreitung der Liebe ist. Das konstitutive Prinzip des christlichen Kultes ist folglich diese Bewegung des Exodus mit ihrer zweieinigen Richtung auf Gott und Mitmensch hin. Indem Christus das Menschsein zu Gott hinträgt, trägt er es in sein Heil hinein. Das Kreuzesgeschehen ist deshalb Brot des Lebens »für die Vielen« (Lk 22,19), weil der Gekreuzigte den Leib der Menschheit ins Ja der Anbetung umgeschmolzen hat. Es ist deshalb ganz »anthropozentrisch«, ganz menschbezogen, weil es radikale Theozentrik, Auslieferung des Ich und darin des Wesens Mensch an Gott war. Insofern nun dieser Exodus der Liebe die Ekstase des Menschen aus sich selbst heraus ist, in der er unendlich über sich hinausgespannt, gleichsam auseinander gerissen wird, weit über seine scheinbar möglichen Ausstreckungsmöglichkeiten hinaus, insofern ist Anbetung (Opfer) immer zugleich Kreuz, Schmerz des Zerrissenwerdens, Sterben des Weizenkorns, das nur im Tod zur Frucht kommen kann. Aber damit ist zugleich deutlich, dass dies Element des Schmerzhaften das Sekundäre ist, das sich aus einem vorausgehenden Primaren ergibt und nur von ihm her seinen Sinn hat. Das konstitutive Prinzip des Opfers ist nicht die Zerstörung, sondern die Liebe. Und nur insofern sie aufbricht, öffnet, kreuzigt, zerreißt, gehört auch dieses mit zum Opfer: als die Form der Liebe in einer vom Tod und von der Selbstsucht gezeichneten Welt. (Fs)

272a Es gibt zu dieser Sache einen bedeutenden Text von Jean Danielou, der zwar einer anderen Fragestellung zugeordnet ist, aber doch gut geeignet sein dürfte, den Gedanken weiter zu erhellen, um den wir uns mühen: »Zwischen der Heidenwelt und dem Dreifaltigen Gott gibt es nur eine einzige Verbindung, und das ist das Kreuz Christi. Wenn wir uns dennoch in dieses Niemandsland stellen und von neuem die verbindenden Fäden zwischen der Heidenwelt und dem Dreifaltigen Gott hin- und herziehen wollen, wie sollen wir uns da noch wundern, dass wir es nur im Kreuz Christi tun können? Wir müssen uns diesem Kreuz ähnlich machen, es in uns tragen und, wie der heilige Paulus vom Glaubensboten sagt, >allzeit das Todesleiden Christi in unserem Leibe mittragen< (2 Kor 4,10). Diese Zerrissenheit, die uns ein Kreuz ist, dieses Unvermögen unseres Herzens, gleichzeitig die Liebe zur hochheiligen Dreifaltigkeit und die Liebe zu einer der Dreifaltigkeit entfremdeten Welt in sich zu tragen, das ist gerade das Todesleiden des eingeborenen Sohnes, zu dessen Teilnahme er uns beruft. Er, der diese Trennung in sich getragen hat, um sie in sich aufzuheben, der sie aber nur aufgehoben hat, weil er sie vorhin in sich trug: Er reicht von einem Ende bis zum andern. Ohne den Schoß der Dreifaltigkeit zu verlassen, streckt er sich bis zur äußersten Grenze menschlichen Elends aus und erfüllt den ganzen Zwischenraum. Dieses Sichausspannen Christi, das die vier Richtungen des Kreuzes sinnbilden, ist der geheimnisvolle Ausdruck unserer eigenen Zerrissenheit und macht uns ihm gleichförmig«1. Der Schmerz ist im letzten Ergebnis und Ausdruck des Ausgespanntseins Jesu Christi vom Sein in Gott bis in die Hölle des »Mein Gott, warum hast du mich verlassen?«. Wer seine Existenz so ausgestreckt hat, dass er gleichzeitig in Gott eingetaucht ist und eingetaucht in die Tiefe des gottverlassenen Geschöpfes, der muss gleichsam auseinanderreißen - der ist wirklich »gekreuzigt«. Aber dieses Zerrissenwerden ist identisch mit der Liebe: Es ist ihre Verwirklichung bis ins Letzte (Jo 13,1) und der konkrete Ausdruck für die Weite, die sie schafft. (Fs) (notabene)

273a Von hier aus könnte wohl der wahre Grund sinnvoller Passionsfrömmigkeit sichtbar gemacht werden und auch deutlich werden, wie Passionsfrömmigkeit und apostolische Spiritualität ineinander übergehen. Es könnte sichtbar werden, dass das Apostolische, der Dienst an dem Menschen und in der Welt, sich mit dem Innersten christlicher Mystik und christlicher Kreuzesfrömmigkeit durchdringt. Beides hindert einander nicht, sondern in seiner wahren Tiefe lebt je eins vom andern. Damit sollte nun auch deutlich sein, dass es beim Kreuz nicht auf eine Summierung physischer Schmerzen ankommt, als ob in der größtmöglichen Summe von Qualen sein Erlösungswert bestünde. Wie sollte Gott an der Qual seiner Kreatur oder gar seines Sohnes Freude haben oder womöglich gar darin die Valuta sehen können, mit der von ihm Versöhnung erkauft werden müsste? Die Bibel und der rechte christliche Glaube sind weit von solchen Gedanken entfernt. Nicht der Schmerz als solcher zählt, sondern die Weite der Liebe, die die Existenz so ausspannt, dass sie das Ferne und das Nahe vereint, den gottverlassenen Menschen mit Gott in Beziehung bringt. Sie allein gibt dem Schmerz Richtung und Sinn. Wäre es anders, dann wären die Henkersknechte am Kreuz die eigentlichen Priester gewesen; sie, die den Schmerz provoziert haben, hätten ja dann das Opfer dargebracht. Aber weil es nicht darauf ankam, sondern auf jene innere Mitte, die ihn trägt und erfüllt, darum waren nicht sie es, sondern war Jesus der Priester, der die beiden getrennten Enden der Welt in seinem Leibe wieder vereinte (Eph 2,13 f). (Fs)

274a Damit ist nun im Grunde auch schon die Frage beantwortet, von der wir ausgegangen sind, ob es nicht ein unwürdiger Gottesbegriff sei, sich einen Gott vorzustellen, der die Schlachtung seines Sohnes verlangt, damit sein Zorn besänftigt werde. Auf eine solche Frage kann man nur sagen: In der Tat, so darf Gott nicht gedacht werden. Aber ein solcher Gottesbegriff hat auch nichts mit dem Gottesgedanken des Neuen Testaments zu tun. Denn dieses handelt gerade umgekehrt von dem Gott, der von sich aus in Christus das Omega - der letzte Buchstabe - im Alphabet der Schöpfung werden wollte. Es handelt von dem Gott, der selbst der Akt der Liebe ist, das reine Für, und der darum notwendig in das Inkognito des letzten Wurms eintritt (Ps 22 [21],7). Es handelt von dem Gott, der sich mit seinem Geschöpf identifiziert und in diesem »contineri a minimo«, im Umgriffen- und Übermächtigtwerden vom Geringsten, jenen »Überfluss« setzt, der ihn als Gott ausweist. (Fs)

274b Das Kreuz ist Offenbarung. Es offenbart nicht irgendetwas, sondern Gott und den Menschen. Es enthüllt, wer Gott ist und wie der Mensch ist. In der griechischen Philosophie gibt es eine eigentümliche Vorahnung dieses Zusammenhangs: Platons Bild vom gekreuzigten Gerechten. Der große Philosoph fragt sich in seinem Werk über den Staat, wie es wohl um einen ganz und gar gerechten Menschen in dieser Welt bestellt sein müsste. Er kommt dabei zu dem Ergebnis, dass die Gerechtigkeit eines Menschen erst dann vollkommen und bewährt sei, wenn er den Schein der Ungerechtigkeit auf sich nehme, denn dann erst zeige sich, dass er nicht der Meinung der Menschen folgt, sondern allein zur Gerechtigkeit um ihrer selbst willen steht. So muss also nach Platon der wahrhaft Gerechte in dieser Welt ein Verkannter und Verfolgter sein, ja, Platon scheut sich nicht, zu schreiben: »Sie werden denn sagen, dass der Gerechte unter diesen Umständen gegeißelt, gefoltert, gebunden werden wird, dass ihm die Augen ausgebrannt werden und dass er zuletzt nach allen Misshandlungen gekreuzigt werden wird ... «2. Dieser Text, 400 Jahre vor Christus niedergeschrieben, wird einen Christen immer wieder tief bewegen. Vom Ernst philosophischen Denkens her ist hier erahnt, dass der vollendete Gerechte in der Welt der gekreuzigte Gerechte sein muss; es ist etwas geahnt von jener Offenbarung des Menschen, die sich am Kreuz zuträgt. (Fs) (notabene)

275a Dass der vollendete Gerechte, als er erschien, zum Gekreuzigten, von der Justiz dem Tod Ausgelieferten, wurde, das sagt uns nun schonungslos, wer der Mensch ist: So bist du, Mensch, dass du den Gerechten nicht ertragen kannst - dass der einfach Liebende zum Narren, zum Geschlagenen und zum Verstoßenen wird. So bist du, weil du als Ungerechter selbst immer die Ungerechtigkeit des andern brauchst, um dich entschuldigt zu fühlen, und also den Gerechten, der dir diese Entschuldigung zu nehmen scheint, nicht brauchen kannst. Das bist du. Johannes hat dies alles zusammengefasst in dem »Ecce homo« (»Siehe, das ist der Mensch!«) des Pilatus, das ganz grundsätzlich sagen will: So steht es um den Menschen. Dies ist der Mensch. Die Wahrheit des Menschen ist seine Wahrheitslosigkeit. Das Psalmwort, jeder Mensch sei ein Lügner (Ps 116 [115],11), lebe irgendwo gegen die Wahrheit, enthüllt schon, wie es wirklich um den Menschen steht. Die Wahrheit des Menschen ist, dass er immer wieder gegen die Wahrheit anrennt; der gekreuzigte Gerechte ist so der dem Menschen hingehaltene Spiegel, in dem er unbeschönigt sich selber sieht. Aber das Kreuz offenbart nicht nur den Menschen, es offenbart auch Gott: So ist Gott, dass er bis in diesen Abgrund hinein sich mit dem Menschen identifiziert und dass er richtet, indem er rettet. Im Abgrund des menschlichen Versagens enthüllt sich der noch viel unerschöpflichere Abgrund der göttlichen Liebe. Das Kreuz ist so wahrhaft die Mitte der Offenbarung, einer Offenbarung, die nicht irgendwelche bisher unbekannten Sätze enthüllt, sondern uns selbst, indem sie uns vor Gott und Gott in unserer Mitte offenbart. (Fs)

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