Autor: Hrsg. Michalski, Krzysztof; Robert Spaemann, Bernard Lewis Buch: Die liberale Gesellschaft Titel: Die liberale Gesellschaft Stichwort: Nicht-hypothetische Voraussetzungen - Statt; Toleranz, Aufhebung; Zusatz: Menschenrechtsparagraphen der Verfassungen;
Kurzinhalt: Der Staat kann solche Überzeugungen nicht verordnen, er kann sie aber begünstigen. Hier beginnen jedoch sofort die Probleme. Diese für den Staat sozusagen "transzendentalen" Überzeugungen von der Würde der Person, den Rechten des Menschen, ... Textausschnitt: 191a Was die nichthypothetischen Überzeugungen betrifft, so gibt es solche, an denen der liberale Staat ein positives Interesse haben muß, und andere, denen er, ohne zu ihnen Stellung zu nehmen, freie Entfaltung ermöglichen muß. Die ersteren sind jene, die die Grundlagen der Freiheit selbst betreffen. Der Staat kann solche Überzeugungen nicht verordnen, er kann sie aber begünstigen. Hier beginnen jedoch sofort die Probleme. Diese für den Staat sozusagen "transzendentalen" Überzeugungen von der Würde der Person, den Rechten des Menschen, der Pflicht zur Toleranz usw. treten ja nicht in philosophischer Reinform auf. Sie sind eingebettet in verschiedenartige philosophische und vor allem religiöse Kontexte. Und es mag sein, daß das, woran der liberale Staat ausschließlich positiv interessiert ist, für die Religion ein Nebenprodukt ist, eine Konsequenz, die sich aus Überzeugungen ergibt, deren Schwerpunkt ganz woanders liegt. Das wäre harmlos, wenn dieses "Nebenprodukt" immer das gleiche wäre. Das ist aber nicht der Fall. Tatsächlich ist der liberale Staat nicht ein übergeordnetes Medium, das die weltanschaulichen Gegensätze wenigstens in praktischer Hinsicht neutralisierte. Die Gegensätze beziehen sich nämlich unter Umständen gerade auf die Grundlagen des freien Staates selbst. Ich nenne nur zwei Beispiele: die Debatte um die Abtreibung und die beginnende Debatte um die Euthanasie. Es klingt schön zu sagen, alle Überzeugungen seien zu achten, sofern sie die Subjektstellung jedes einzelnen Menschen begründen oder respektieren. Tatsächlich aber gilt vielen Liberalen heute die Ansicht, jeder Mensch sei Person und habe daher eine solche Subjektstellung zu beanspruchen, als Sondermeinung einer bestimmten Weltanschauungsgruppe. Und sie wehren sich dagegen, daß diese Weltanschauungsgruppe anderen ihre Auffassung aufnötigt. Sie betrachten die Rechtsgemeinschaft als einen closed shop, dessen Eintritts- und Ausschlußbedingungen durch die Mehrheit der Mitglieder festgesetzt werden. Die Menschenrechtsparagraphen der Verfassungen müßten also jeweils ergänzt werden durch den Zusatz: "wer Mensch im Sinne dieser Verfassung ist, bestimmt ein Gesetz". Nach Auffassung jener "Weltanschauungsgruppe" wäre dies freilich das Ende der Menschenrechte. (Fs) (notabene)
192a Obgleich meine Parteilichkeit in dieser Debatte klar ist, will ich doch hier diese Debatte nicht führen, sondern nur darauf hinweisen, daß es sich hier nicht um Fragen handelt, deren Entscheidung von allen Beteiligten akzeptiert wird, falls nur die Entscheidung in juristisch einwandfreien Verfahren zustande gekommen ist. Es gibt kein Recht noch so großer Mehrheiten, über das Existenzrecht einer Minderheit zu entscheiden. Und wo eine Gruppe der Überzeugung ist, es handle sich hier um eine solche Minderheit, da handelt es sich um eine Situation, die näher beim Bürgerkrieg als bei einem geordneten Verfahren liegt. (Fs)
192b Anders liegen die Dinge, wenn es nicht um die sozusagen transzendentalen Voraussetzungen jeder freien Gesellschaft geht, sondern um bestimmte Formen des guten Lebens. Die Auseinandersetzungen hierüber betreffen nicht die Prämissen der Verfassung und können sich deshalb in deren Rahmen und in Unterordnung unter sie abspielen. Der liberale Staat ist hier allerdings oft in der Versuchung, jene Formen des guten Lebens zu benachteiligen, die zu ihrer Realisierung auf Gemeinschaftlichkeit angewiesen sind. Das aber bedeutet tendenziell einen Abbau der Sinnstrukturen, die sich mit überlieferten Lebensformen verbinden. Damit verknüpft sich von selbst eine Privilegierung individualistischer Lebenskonzepte. Ich wähle als Beispiel den Sonntag als öffentlichen Feiertag. In der Verfassung der Bundesrepublik Deutschland steht er ausdrücklich unter dem Schutz der Verfassung. Ich will hier auf die zahlreichen Vorteile eines solchen gemeinsamen Feiertags gegenüber der flexiblen Freizeit nicht eingehen. Die von der Industrie immer wieder gestellte Frage: "Was kostet uns der Sonntag?" enthält eine petitio principii. Sie geht davon aus, daß der Sonntag überhaupt zur Disposition steht und fragt nach dem Gewinn, der durch das Festhalten an ihm entgeht. Entgangener Gewinn wird als Verlust gebucht. Wenn man eine Institution wie den Sonntag in eine solche Rechnung einbezieht, ist sie natürlich verloren. Nutznießer eines solchen gemeinsamen Feiertags ist die große Mehrheit des Volkes, auch wenn nur eine Minderheit es ist, die seine kultische Mitte vergegenwärtigt und verteidigt. In einer Zivilisation, die durch eine bestimmte religiöse Tradition geprägt ist, gibt es keinen vernünftigen Grund, unter Hinweis auf religiöse Minderheiten den Vorrang des Sonntags bzw. des Sabbat in Israel oder des Freitag in islamischen Ländern in Frage zu stellen, vorausgesetzt, den jeweiligen Minderheiten wird für die Ausübung ihrer religiösen Praxis ein entsprechender Toleranzraum eingeräumt. (Fs)
193a Und hier komme ich zu einem letzten Punkt, dem Problem der Toleranz. Die liberale Gesellschaft tendiert dahin, Toleranz gänzlich abzuschaffen. Es gibt nur die Alternative zwischen Verbot und Gleichberechtigung. Toleranzrechte werden sukzessive in Gleichberechtigung verwandelt. So gewährt die Verfassung der Bundesrepublik Deutschland den Kriegsdienstverweigerern durch ihr Grundgesetz prinzipiell Toleranz für ihre Gewissensüberzeugung. Im Lauf der Jahre ist daraus faktisch ein freie Option zwischen zwei gleichberechtigten Möglichkeiten geworden, dem Militärdienst und dem Wehrersatzdienst. Und auch die öffentliche Propagierung der Kriegsdienstverweigerung ist ebenso geschützt wie diese selbst. Als weiteres Beispiel nenne ich die Homosexualität. Es ist eine Errungenschaft der liberalen Staaten, daß sie die praktizierte Homosexualität unter Erwachsenen nicht mehr unter Strafe stellt. Eine mächtige Tendenz geht aber nun dahin, sogar in Gesetzestexten von zwei möglichen "sexuellen Orientierungen" zu sprechen und diejenige Form der Sexualität, die mit der Reproduktion des Menschengeschlechtes verbunden ist, in keiner Weise mehr als "Normalität" auszuzeichnen und eine Institution wie die Ehe nicht mehr unter den besonderen Schutz des Staates zu stellen. So können im Namen von Individualrechten gerade diejenigen Güter systematisch destruiert werden, an denen zwar die meisten Individuen partizipieren, die aber nur deshalb einen Teil dessen ausmachen, was "gutes Leben" zu heißen verdient, weil und insofern sie gemeinsame Güter sind. Institutionalisierte Toleranz und Toleranz als Tugend ist die einzig mögliche Weise, die gemeinsamen Güter einer Gesellschaft mit den unveräußerlichen Rechten jedes Individuums in Einklang zu bringen. (E10; 29.04.2010)
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