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Autor: Hrsg. Michalski, Krzysztof; Robert Spaemann, Bernard Lewis

Buch: Die liberale Gesellschaft

Titel: Die liberale Gesellschaft

Stichwort: Freiheit der Gesellschaft: abhängig von vorgängigen Inhalten; F. als Identität mich sich selbst; K. Popper, offene Gesellschaft; H. Albert: ethische Aussagen als Hypothesen; Spaemann: Hypothetisierung des Daseins beseitigt den Ernstfall; Totalitarismus

Kurzinhalt: Die christliche Tradition, auf die sich Popper als letzte Instanz beruft, ist Albert suspekt, weil sie die Tradition einer nichthypothetischen Überzeugung ist. So steht Albert in Wahrheit näher bei Skinner, der "Freiheit und Menschenwürde" als ...

Textausschnitt: 186a Warum ist das Wohlergehen der Stadt davon abhängig? Warum die Freiheit der Gesellschaft von der Geltung von Inhalten, die der Freiheit der Gesellschaft vorhergehen? Weil Freiheit heißt: mit sich identisch-sein-können. Diese Identität aber ist nicht abstrakte, von allen Inhalten abgelöste Subjektivität. Freiheit ist nur ein Wert um der Inhalte willen, für die sie in Anspruch genommen wird und die ohne Freiheit nicht zu haben sind. Die Vergegenwärtigung und gesellschaftliche Reproduktion solcher sinnstiftender Inhalte ist nicht möglich, wenn die hypothetische Denk- und Lebensform ohne Widerlager bleibt, wenn sie tendenziell zur universellen Lebensform wird. Diese Tendenz findet ihren theoretischen Ausdruck im kritischen Rationalismus, insbesondere in der Form, wie ihn in Deutschland Hans Albert vertritt. Zwar hat schon Popper in aller Breite die These enfaltet, der Anspruch auf nichthypothetisches Wissen sei mit einer freien, einer offenen Gesellschaft unvereinbar. Er führe zur Zementierung von Sozialordnungen, zu revolutionärer Totalplanung und zu einem unkritisierbaren Herrschaftsprivileg der Wissenden. Auf die Frage, warum dies alles nicht wünschenswert, unsere offene Gesellschaft hingegen die beste aller bisherigen Gesellschaftsformen sei, antwortet Popper mit dem Hinweis auf eine eindeutige und selbst nicht hypothetisierte Wertentscheidung. Er beruft sich auf "die Standards und Werte, die bis auf uns gekommen sind durch Vermittlung des Christentums, aus Griechenland und aus dem Heiligen Land, von Sokrates und vom Alten und Neuen Testament".1 Die Unbedingtheit solcher Wertentscheidungen ist für Popper allerdings nur subjektiv, sie hat nichts mit Erkenntnis zu tun, und solche Entscheidungen können daher auch nicht Gegenstand einer rationalen Mitteilung sein. Anders Poppers Apologet in Deutschland, Hans Albert. Er hält ethische Entscheidungen nicht für irrationale Optionen, sondern für mögliche Gegenstände eines rationalen Diskurses. Aber eben deshalb, so glaubt er, müssen sie ihren Charakter als Überzeugungen aufgeben. Albert verlangt, auch ethische Aussagen als Hypothesen, als "prinzipiell kritisierbare Annahmen" zu betrachten und für sie jeweils nach Alternativen Ausschau zu halten. Glaubensüberzeugungen sind ebenso zu liquidierende Widerstände gegen die Hypothetisierung des Daseins wie die immunisierende Berufung auf so etwas wie Gewissen. Die christliche Tradition, auf die sich Popper als letzte Instanz beruft, ist Albert suspekt, weil sie die Tradition einer nichthypothetischen Überzeugung ist. So steht Albert in Wahrheit näher bei Skinner, der "Freiheit und Menschenwürde" als dogmatische Vorurteile ansieht, die demjenigen im Wege stehen, was ihm, ebenso wie Albert, als oberster Maßstab des richtigen Lebens gilt: "rationales Problemlösungsverhalten ". (Fs; tblVrw) (notabene)

187a Was ich behaupte ist, daß die hier vorgeschlagene Verwandlung aller Überzeugungen in Hypothesen zur Selbstaufhebung einer freien Gesellschaft führen würde, und daß eine humane, eine sinnvolle Lebensführung nichthypothetische Zugänge zur Wirklichkeit zur Voraussetzung hat. Die offene Gesellschaft kann nur Bestand haben, wenn ihre Offenheit auf Überzeugungen gründet, die ihrerseits nicht zur Disposition stehen. Der Kampf der freien Staaten gegen den Nationalsozialismus war kein Kampf für Hypothesen - ebensowenig wie der Widerstand der sowjetischen Dissidenten. Für Hypothesen stirbt man nicht. Man hat nur ein Leben. Ohne die feste Überzeugung, daß das, wofür man es riskiert, sinnvoll ist, riskiert man es eben nicht. Die Hypothetisierung des Daseins beseitigt den Ernstfall. Und das heißt in Wirklichkeit nur: Sie überliefert die Welt dem, der Überzeugungen hat. Auch Richard Rortys Ironie als Lebensform ist wesentlich parasitär. (Fs)

188a Die Bundesrepublik Deutschland hat, belehrt durch das Schicksal der Weimarer Republik, in ihrer Verfassung gewisse Grundsätze festgeschrieben, die durch Mehrheitsbeschlüsse nicht veränderbar sind. Sie hat darauf verzichtet, die Verfassung so zu gestalten, daß sie für beliebige Änderungen offen ist. Sie hat auf das post-histoire eines nicht mehr revolutionierbaren, weil nur noch hypothetischen Formalismus verzichtet. Wer die Grundrechte beseitigen will, muß tatsächlich Revolution machen. (Fs)

188b Es ist ein Irrtum, der Verzicht auf nichtdisponible Gewißheiten beseitige die Voraussetzung des Totalitarismus. Man kann nämlich den Totalitarismus als Großexperiment betrachten. Daß das langfristige Wohlbefinden der Menschen, daß die Lösungen gewisser Probleme der modernen Massengesellschaft am besten durch streng hierarchisch gegliederte und totalitär durchorganisierte Staatsverfassungen gewährleistet werden, kann man als eine Hypothese betrachten, ebenso wie die gegenteilige Behauptung. Das Experiment, das diese These falsifiziert, hat als sowjetisches System siebzig Jahre lang gewährt. Es gibt Menschen, die dies für einen zu kurzen Zeitraum halten. Vielleicht sind einige hundert Jahre erforderlich. Es mag sein, daß zu diesem Experiment auch gehört, daß die Massen von Gewißheit durchdrungen sind. Diese Menschen werden allerdings nicht als Subjekte, sondern als Objekte dieses Experiments betrachtet. Daß die Massen in ideologischem Dogmatismus gehalten werden, schließt nicht aus, daß die Herrschenden intern kritische Rationalisten sind. Die Überzeugung, die solchen Experimenten prinzipiell entgegensteht, hat nicht den Charakter einer zur Disposition stehenden Gegenhypothese, sondern den einer dogmatischen Überzeugung. Sie ist "fundamentalistisch". (Fs)

188c Überzeugungen dieser Art müssen tradierbar sein. Popper selbst hat in einem Aufsatz die Bedeutung der Tradition für eine liberale Gesellschaft hervorgehoben. Kritik an Tradition ist nämlich selbst eine Tradition. Ohne tradierte Kultur von Kritik und Toleranz kann eine freie Gesellschaft sich nicht behaupten. Aber die Haltung von Kritik und Toleranz läßt sich nicht kontextfrei tradieren. Um zur Kritik und Toleranz geneigt zu sein, bedarf es bereits gewisser konstitutiver Sinnerfahrungen. Es muß einen positiven Grund haben, daß ich den anderen tolerieren soll. Solche Sinnerfahrungen, die in einer Bildungstradition vermittelt werden, sind von der Art, daß mit ihnen erst die Identität von Subjekten sich bildet. Kritik und Toleranz sind voraussetzungsvolle Haltungen. Sie setzen eine Kultur der Selbstbeherrschung voraus, eine Kultur des Nachdenkens, des uneigennützigen Interesses an Wahrheit, eine Kultur der unbedingten Achtung der Würde des Menschen und bestimmte Überzeugungen, durch welche diese Achtung im Konfliktfall gestützt wird. Wo alle Maßstäbe der Kritik unter der Hand selbst immer nur zu Hypothesen gerinnen, kann eine Erziehung zu kritischem Denken gar nicht gelingen. (Fs)

189a Die Tatsache, daß Überzeugungen und Gewißheiten enttäuschbar sind, ändert nichts daran. Gewißheit ist nicht Unfehlbarkeit. John Henry Newman hat in seinem "Grammar of assent" dazu tiefsinnige Ausführungen gemacht. Niemand von uns verbietet sich Gewißheiten, weil Gewißheiten gelegentlich auch enttäuschen. Daraus kann man höchstens lernen vorsichtig zu sein, seine Meinungen nicht vorschnell in Überzeugungen zu verwandeln, seine Gründe zu prüfen, ob sie gute Gründe sind. Es ist dazu aber keineswegs immer so etwas wie eine Letztbegründung notwendig. Irgendwo ist der Punkt erreicht, wo Plausibilität in Gewißheit übergeht. William James unterschied zwischen lebendigen und toten Hypothesen. Tote Hypothesen nannte er solche, von deren kontradiktorischem Gegenteil wir - aus welchem Grunde auch immer - überzeugt sind. Solche Überzeugungen sind nicht eine zu überwindende Voreiligkeit und Schwäche des Menschen. Sie sind ein Lebenselement, ohne welches auch die Wissenschaft keinen Schritt tun könnte. (Fs)

189b Die Forderung, alle Gewißheit in Hypothesen aufzulösen, hängt zusammen mit der Verwissenschaftlichung des Daseins. Diese Tendenz ist analog zu der Tendenz, die Kriterien der privaten Lebensführung den Maßstäben ökonomischen Verhaltens zu unterwerfen. In der ökonomischen Sphäre ist das Festhalten an einem bestimmten Besitz irrational. Wenn die Veräußerung eines Betriebsgeländes vorteilhaft ist, dann ist die NichtVeräußerung ein Fehler. Entgangener Gewinn ist Verlust. Wer aber nötigt mich, das Haus, in dem vielleicht schon meine Eltern lebten, unter solchen Gesichstpunkten zu betrachten und es in dem Augenblick zu veräußern, wo ich dies mit Vorteil tun kann? Wer nötigt mich, die fiktive Verzinsung des Kapitals, das ich durch den Verkauf erlösen würde, als Unkosten zu verbuchen? Im Gegensatz zur Sphäre der Ökonomie gibt es im privaten Bereich keine Begründungspflicht dafür, etwas so zu lassen, wie es ist. (Fs)

190a Der Gedanke einer totalen Verwissenschaftlichung des Daseins bedenkt nicht, daß das Subjekt der Wissenschaft unendlich, aber fiktiv ist, der einzelne Mensch aber endlich und wirklich. Descartes hat daraus die Folgerung gezogen, der handelnde Mensch könne die Rechtfertigung seines Handelns nicht auf eine hypothetische Wissenschaft gründen, da er zum Handeln jederzeit einer moralischen Gewißheit bedürfe. Die Endlichkeit unseres Lebens erlaubt es nicht, alle möglichen Lebensweisen durchzuprobieren. Was wir tun, muß einen nichthypothetischen Sinn haben, oder wir riskieren, ein absurdes Leben geführt zu haben. Risiken, Experimente können sinnvoll und gerechtfertigt sein. Es kann sogar sinnvoll sein, sein Leben für etwas zu riskieren, von dessen Wert man überzeugt ist. Aber das Leben als ganzes unter eine hypothetische Option stellen, macht das Leben zu einem gleichgültigen Faktum. Rationale Problemlösungen haben Sinn im Kontext bestimmter Ziele und Inhalte des Lebens. Die Wahl solcher Ziele und Inhalte kann selbst nicht als "Problemlösung" betrachtet werden, und in Wahrheit handelt es sich auch gar nicht um eine Wahl. Es gibt Gewißheiten, die wir solange haben, bis sich uns eine größere Gewißheit aufdrängt, die jene erste verdrängt. (Fs) (notabene)

190b Das gilt nun erst recht für die Religion. Der Gläubige ist durch nichts, was der Fall ist, widerlegbar. Der Glaube ist so wenig eine Hypothese, daß er vielmehr über eine perfekte Immunisierungsstrategie verfügt. Aber ist das ein Einwand? Gesetzt den Fall, Gott ist so, wie der Glaube ihn denkt - wie sollte dann nach Ansicht des kritischen Rationalisten die Hypothese aussehen, die diesen Glauben testet? Fortschrittliche Theologen pflegen zwar heute zu sagen, der Test des Glaubens finde im Leben statt. Die Verifizierung des Glaubens bestehe darin, daß es sich mit ihm leben lasse. Aber das ist ein schlechtes Argument. Auch mit falschen Überzeugungen läßt sich leben. Der Test des religiösen Glaubens, wenigstens sofern er die Überzeugung von einem Leben nach dem Tode in sich schließt, kann einleuchtenderweise erst nach dem Tode stattfinden. Und da ist der Ungläubige natürlich, falls er recht hat, in der ärgerlichen Lage, die Verifizierung seiner These nicht erleben zu können. Der Gläubige hingegen kann die Bestätigung seines Glaubens wohl erleben, nicht jedoch die Falsifikation. Das sind keine Argumente für oder gegen die Wahrheit des religiösen Glaubens. Es sind aber Argumente gegen die Forderung, religiöse Gewißheit müsse sich in überprüfbare Hypothesen verwandeln lassen oder aber verschwinden. Sollen wir etwas außer Betracht lassen, weil, wenn es falsch wäre, der Natur der Sache nach die Falschheit nicht zu Tage kommen könnte, während doch die Wahrheit sehr wohl zu Tage kommen kann? In Wirklichkeit führt die Privilegierung hypothetisierbarer Auffassungen nicht zur Beseitigung von Überzeugungen. Sie führt nur zu einer Privilegierung ganz bestimmter Überzeugungen, nämlich materialistischer, und zwar deshalb, weil die Hypothesen unvermeidlich den sozialen und psychologischen Platz jener Überzeugungen einnehmen, die man zuvor unter dem Vorwand eliminiert hat, sie ließen sich nicht in testbare Hypothesen verwandeln. Auch materialistische Überzeugungen sind natürlich nicht testbar. Sie sind nur die Folge eines Entschlusses, die Wirklichkeit auf das zu beschränken, was testbaren Hypothesen zugänglich ist. Dabei könnte es jedoch sein, daß sich, wie Hegel sagt, dasjenige, was sich als Furcht vor dem Irrtum gibt, als Furcht vor der Wahrheit erweist. (Fs)

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