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Autor: Lonergan, Bernard J.F.

Buch: Die Einsicht

Titel: Die Einsicht Bd. I und II

Stichwort: Transzendenz, Metaphysik; Vergleiche und Kontrast 3; Positionen (primär, sekundär) - Gegenpositionen; Bewußtsein polymorph: Variablen, Philosophie; veritas est una et error multiplex

Kurzinhalt: In dem Maße, als die primäre und die sekundäre Entwicklung nicht stattgefunden haben oder man sie sich nicht angeeignet hat, ist nicht nur das menschliche Bewußtsein polymorph, sondern auch seine verschiedenen Komponenten nicht analysiert.

Textausschnitt: 763a Siebtens, wenn unsere Darstellung der Notion und Bejahung Gottes auch in die Aristotelische und Thomistische Tradition gestellt werden kann, genügt sie auch der Forderung, die Existenz anderer Sichtweisen zu erklären. Denn obwohl wir (680) über die Metaphysik des proportionierten Seins zur transzendenten Idee und zur transzendenten Realität des Seins hinausgegangen sind, ist unsere Operationsbasis doch dieselbe geblieben. Wir stellten die Frage nach der Notion Gottes, indem wir fragten, was das Sein ist. Wir beantworteten die Frage, ob Gott existiert, indem wir behaupteten, daß das Reale das Sein ist, und daß das Sein das vollständig intelligible Zielobjekt eines unbeschränkten Strebens nach korrektem Verstehen ist. Es war auch an keinem entscheidenden Punkt im Prozeß verborgen, daß wir unsere Antworten dadurch erreichen, daß wir den Positionen treu bleiben und die Gegenpositionen ablehnen. Die Polymorphie des menschlichen Bewußtseins wird aber durch die reine Tatsache nicht ausgeschaltet, daß ein Mensch fragt, was und ob Gott ist. Folglich, wie unsere Notion und Bejahung Gottes aus den Positionen resultieren, so können andere Auffassungen von der Gottheit erreicht werden, indem man verschiedene Stufen in der Entwicklung der Positionen und im Irrgang der Gegenpositionen annimmt. (Fs)

763b Es folgt, daß der Universalgesichtspunkt der proportionierten Metaphysik bewahrt, aber erweitert wurde. Denn ein Gesichtspunkt ist universell in dem Maße, als er
(1) einer und kohärent ist;

(2) Fragen aufwirft, die zu grundsätzlich sind, als daß sie übergangen werden könnten und
(3) seine Analyse des Beweises soweit auf den Grund geht, daß sie die Existenz jeder anderen Ansicht erklären und zugleich die eigene begründen kann. (Fs)

763c Notion und Bejahung Gottes ist aber eine; denn Gott ist einer; sie ist kohärent; denn Kohärenz resultiert aus der Einheit eines einzelnen Verstehensaktes, und Gott ist ein einzelner, unbeschränkter Verstehensakt. Ferner, zu fragen, was das Sein ist, und zu fragen, ob das Reale Sein ist, bedeutet Fragen aufzuwerfen, die zu grundlegend sind, als daß sie übergangen werden könnten. Schließlich, so wie unsere Antwort aus den Positionen in ihrer gegenwärtigen Entwicklungsphase resultiert, so können andere Antworten (zumindest wenn wir einstweilen von der mystischen Behauptung des Unaussprechlichen und der gläubigen Behauptung einer göttlichen Offenbarung absehen) abgeleitet werden, indem den Variablen im polymorphen Bewußtsein des Menschen verschiedene Werte zugewiesen werden. (Fs)

764a Um diese Konklusion kurz zu erläutern, entwickeln sich die Positionen primär, insofern die Sinneswahrnehmung vom Verstehen unterschieden wird und beide, Sinneswahrnehmung und Verstehen, vom Urteil unterschieden werden, und sie entwickeln sich sekundär, insofern die Positionen scharf und wirksam von den Gegenpositionen unterschieden werden. Pythagoras und Parmenides, Plato und Aristoteles, Augustinus und Thomas sind die großen Namen im primären Prozeß, (681) während der Zusammenbruch der mittelalterlichen Scholastik und die methodologischen Bemühungen der modernen Philosophie das Problem der sekundären Entwicklung aufwerfen, und der Fortschritt von Mathematik und empirischer Wissenschaft die präzise Auskunft liefert, die nötig ist, um diese Entwicklung herbeizuführen. (Fs)

764b In dem Maße, als die primäre und die sekundäre Entwicklung nicht stattgefunden haben oder man sie sich nicht angeeignet hat, ist nicht nur das menschliche Bewußtsein polymorph, sondern auch seine verschiedenen Komponenten nicht analysiert. Der Mensch bejaht das Göttliche, und dunkel weiß er, was er meint. So gut er kann, sucht er seinem Sinngehalt Ausdruck zu verleihen, aber die Mittel, um ihn auszudrücken, sind dieser Aufgabe nicht gewachsen. Er kann Gott einen Namen geben; doch gibt es viele Zungen, und so gibt es viele Namen. Er kann durch Analogie die göttlichen Attribute angeben; aber er kann die Analogien, die er verwendet, nicht von ihren Unvollkommenheiten trennen. Gott zu einer Ursache zu machen, bedeutet auch, ihn in die Vergangenheit zu verweisen; ihn zu einem Ziel zu machen, bedeutet, ihn in die Zukunft hinauszuschieben; auf seiner Unmittelbarkeit und Relevanz für die Welt und das menschliche Leben zu bestehen, bedeutet, ihn in Heim und Familie einzubeziehen, in die Verherrlichung der patriarchalen und matriarchalen Einrichtungen, in die Angelegenheit der Jäger und Fischer, der Ackerbauer, Handwerker und Nomaden, in die Interessen von Besitztum und Staat, in die Beschäftigungen von Krieg und Frieden. Die vierfache Befangenheit des dramatischen und praktischen Subjektes des Common Sense taucht wieder auf in der Auffassung des Göttlichen, und sie zielt durch diese Verstärkung und Sanktion zuerst auf eine immer größere Erweiterung hin, aber letztlich auf ihre eigene Umkehrung. So sammelten die Imperien des Mittelmeerraumes die Götter ihrer Völker in Pantheons; die Synkretisten reduzierten deren Anzahl; die Allegoristen gaben ihren Taten neue Sinngehalte; und die Philosophen entdeckten und predigten den Primat des Intelligiblen und des Einen. (Fs)

765a Aber die Entstehung der Philosophie als eines eigenständigen Forschungsgebietes verlegt bloß das Problem. Die vielen Götter weichen den vielen Philosophien. Dem Intellektualismus eines Plato und eines Aristoteles steht der Atomismus eines Leukipp und Demokrit entgegen. Die Zeit trennt die alten, mittleren und neueren Akademien. Das Lykeion verläßt die fünfzig sonderbaren unbewegten Beweger der Aristotelischen Kosmologie, um sich der empirischen Forschung zu widmen. Die Philosophie selbst wird im primär ethischen Interesse der Kyniker und Kyrenaiker, der Epikuräer und Stoiker praktisch; und die geistreiche Spekulation eines Plotin endet in den wirksameren Sonderbarkeiten eines Proclus und Jamblichus. (Fs)

765b Ferner, wenn behauptet werden kann, daß der anhaltende Monotheismus der hebräischen und christlichen Traditionen und einiger ihrer Ableger eine historische Einmaligkeit darstellt, kann doch nicht gesagt werden, sie hätten die Polymorphie (682) des menschlichen Bewußtseins exorziert. Neben den Rechtgläubigen gab es die Häretiker. Die scheinbar monolithische Front der mittelalterlichen Scholastik zerbricht bei näherer Betrachtung in Schulen und innerhalb der Schulen streiten sich die Menschen um ihre besondere Rechtgläubigkeit. Hinter den Gewißheiten eines gemeinsamen Glaubens entstehen Zweifel und Verneinungen hinsichtlich des unabhängigen Bereiches und Wertes der menschlichen Vernunft. Der Cartesischen Wiedergeburt folgte der Gegensatz von Rationalismus und Empirismus. Der Kantische Kompromiß wurde aufgegeben, einerseits zugunsten des Idealismus und andererseits zugunsten des Irrationalismus. Um das zunehmende Vakuum zu füllen, wird die Wissenschaft zum Szientismus und verkündet, die Erde sei nur einer der Planeten, wie der Mensch nur eines unter den Tieren sei, Gott sei nur eine Projektion aus den Tiefen der Psyche, und Religion bloß eine Fassade für wirtschaftliche und soziale Interessen. (Fs) (notabene)

765c Wenn nun die Notion und Bejahung Gottes zu den Positionen gehören, und zwar nicht auf zufällige Weise, sondern als notwendige Antworten auf die unvermeidlichen Fragen nach der Idee des Seins und der Identität von Sein und Wirklichem, dann folgt, daß die Gegenpositionen, die stets durch die Polymorphie des menschlichen Bewußtseins unterstützt werden, vorphilosophische Notionen des Göttlichen ins Mythische verwickeln, gegenphilosophische falsche Auffassungen, Zweifel und Abstreitungen erzeugen und dazu tendieren werden, sogar korrekte Notionen und Behauptungen zu korrumpieren, wenn diese nicht durch eine wirksame Kritik der Einflüsse unterstützt werden, die aus dem Unbewußten in die menschliche Sinnlichkeit und Intersubjektivität aufsteigen und in den Bereich des Wahren eindringen, wenn tribale, nationale, wirtschaftliche und politische Notwendigkeit und Nützlichkeit es fordern. (Fs)

766a Wenn das Verfahren des vorliegenden Kapitels in der Konzeption der Natur und in der Behauptung der Existenz Gottes übermäßig mühsam, verwickelt und schwierig zu sein scheint, wäre es unfair, die Tatsache zu übersehen, daß es unser Anliegen gewesen ist, nicht den leichtesten Zugang zur Notion Gottes zu wählen, nicht den einfachsten Beweis seiner Existenz zu liefern, sondern so vom proportionierten zum transzendenten Sein fortzuschreiten, daß der Universalgesichtspunkt, den wir in den früheren Stadien der Argumentation erreichten, sowohl beibehalten als auch erweitert werden könne. Ein alter Spruch lautet: veritas est una et error multiplex; aber auch die Wahrheit verändert ihr Aussehen, während das menschliche Verstehen sich entwickelt, und es ist kein geringfügiger Vorteil, wenn man von einer einzigen Grundlage her imstande ist, nicht nur das sich verändernde Aussehen der Wahrheit, nicht nur die Vielfalt des Irrtums, sondern auch den schlimmsten aller Feinde zu erklären, nämlich den in des Menschen Haushalt, der (683) so spontan und so natürlich dazu tendiert, die Wahrheit, die man kennt, anzupassen und zu färben je nach den Forderungen des eigenen soziokulturellen Milieus und dem Farbton des eigenen Temperaments. (Fs)


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